Mit freundlichen Grüßen

Individualpsychologe Alfred Adler

Die Individualpsychologie von Alfred Adler

 
  
Alfred Adler  7.2.1870-28.5.1937
 
Ich möchte hier darauf hinweisen, dass Bücherbesprechungen und Biografien von Alfred Adler am Schluss aufgeführt werden!
 

VIRTUAL ICASSI JULY 26 - AUGUST 8, 2021

 

Dear ICASSI Friends,
The ICASSI board is excited to offer avirtual summer school July 26-August 8, 2021! The international summer school consists of plenary lectures, professional workshops and activities for children and youth. Monday through Thursday of each week there is a plenary lecture, which is open and free to everyone. They will be accessed at www.icassi.net.

On the weekend of July 30-August 1 and the weekend of August 6-8 a variety of workshops are offered in Adlerian/Dreikursian theory and practice for psychologists, therapists, counselors, social workers, educators, managers, parents, and persons seeking professional and personal growth. Other activities for children and youth as well as social engagement for all are also available on the weekends.

To see the booklet which gives further details on the workshops go to www.icassi.net and click on the Virtual ICASSI 2021 tab. In the dropdown you will find the booklet. The link to the registration is https://icassi.cventevents.com/ICASSI2021.

Also in the Virtual ICASSI 2021 tab you will also see a one page flyer that you can download and distribute to colleagues and friends to announce ICASSI 2021!

An additional way to keep in touch with Adlerians is to join in the virtual Adler Café which meets twice a month. To learn more about it go to https://www.icassi.net/virtual-adler-cafe/ On April 11 the topic is Adler’s Understanding of Pandemics and it will be led by Marina Bluvshtein.

If you have questions about the Virtual ICASSI 2021, please contact me at info.icassi@gmail.com.

Happy Spring, Becky LaFountain, ICASSI Administrator 

Das Rudolf Dreikurs Sommerinstitut

1962 initiierte Rudolf Dreikurs ein internationales Programm mit dem Namen ICASSI (International Essa für Adlerische Sommerschulen und -institute), das Menschen auf der ganzen Welt in der Individualpsychologie ausbildet – gegründet von Alfred Adler. ICASSI bietet ein anregendes Umfeld, in dem Profis, Einzelpersonen, Paare und Familien in einer vielfältigen internationalen kollegialen Gemeinschaft lernen. Nach Dreikurs' Tod wurde ICASSI eine Non-Profit-Organisation mit der Struktur und dem Zweck seiner Frühsommerprogramme. Es bietet einzigartige Anweisungen und Erfahrungslernen für die berufliche und persönliche Entwicklung, die jedes Jahr von einer internationalen Fakultät in einem anderen Land unterrichtet wird.

 

 
 
Hier möchte ich einen Überblick auf die Tiefenpsychologie von Alfred Adler, einem der grossen Wiener Psychologen, präsentieren. Sie finden hier einerseits eine kurze Zusammenfassung  der Grundzüge der "Individualpsychologie", dann auch ein Abriss über Alfred Adlers Biografie (Auszüge aus meiner Diplomarbeit).
 
Durch meine Ausbildung am Alfred-Adler-Institut bin ich von Adlers Individualpsychologie im guten Sinne beeinflusst. Das von Adler gelehrte Menschenbild und die Art und Weise, wie mit Menschen in psychologischer Not individualpsychologisch vorgegangen werden kann, überzeugt mich bis heute! Diese Grundlagel bildet das Gerüst meiner psychologischen Tätigkeit. Aber: bekanntlich ist ja jedes Individuum ein Unikat und somit versuche ich immer wieder auf diese individuelle Einmaligkeit empathisch einzugehen, und da muss ich dann auch Arbeitsmethoden anderer Schulen anwenden.
 
Generell: Ich bin also  vor allem zutiefst überzeugt, dass das von Adler zu seiner Zeit und seinen Nachfolgern während den vergangenen Jahrzehnten erarbeitete Menschenbild mit allen dazu bietenden Möglichkeiten des Umsetzens in Therapie und Beratung eine hervorragende Basis und Plattform darstellt!
 
Adlers Kompensationsmuster, sein Fokus auf die Wichtigkeit der Ermutigung, seine Vorstellung von Gemeinschaftsgefühl und seine wiederholende Aussage über die Ganzheit und die Gleichwertigkeit aller Menschen usw. sind aus meiner Sicht Grundwerte des humanen menschlichen Zusammenlebens. Diese Ideen bereichern und stimulieren mich persönlich in ihrer Tiefe immer wieder von neuem. Aber vor allem beeinflussen und stimulieren sie mich nicht nur in der beraterischen und therapeutischen Arbeit, sondern nicht weniger in meinem allgemeinen zwischenmenschlichen Handeln, im politischen und - im weitesten Sinne auch - religiösen Empfinden, Denken und Handeln!
 
Die nachfolgenden gerafften Gedanken über die Grundzüge von Alfred  Adlers Individualpsychologie stammen aus meiner Diplomarbeit, die ich nach Abschluss meiner Studien am Alfred Adler Institut in Zürich unter dem Titel "Alfred Adler und Fjodor M. Dostojevskij - Vergleich der Menschenbilder" einreichte.
 
Was ist Individualpsychologie?
 
Nach einer zehnjährigen engen Zusammenarbeit zwischen Sigmund Freud und Alfred Adler (1902-1911) trennten sich die Wege dieser zwei grossen Männer. Adlers unterschiedliche Sichtweisen von Mensch und Neurosen bewogen ihn, sich im Jahre 1911 von Sigmund Freud und der "Wiener Psychoanalytischen Vereinigung" zu trennen und einen eigenständigen Weg zu gehen.
 
Die Bewegung Adlers nannte sich am Anfang noch "Verein für freie psychoanalytische Forschung". Der "Verein für freie Psychoanalyse" (eine weitere Bezeichnung) wurde im Jahr 1913 in "Verein für vergleichende Individualpsychhologie" umbenannt. Im Jahr 1914 wurde die Bewegung nochmals (und zwar endgültig) mit einem neuen Namen versehen: "Individualpsychologie". Mit dieser Bezeichnung wurden in der Folge dann (vor allem von Gegnerseite) immer wieder falsche Assoziationen verbunden: irrtümlich wurde angenommen, die Individualpsychologie beschränke sich auf die Untersuchung der einzelnen, isoliert fokussierten Individuen. Das ist aber gerade das, was Alfred Adler überhaupt nicht im Visier hatte. Viel stärker als Sigmund Freud hob Adler die Beziehungen des Einzelnen zu seinen wichtigsten Bezugspersonen (und vor allem auch zu der Gemeinschaft) als Beweggrund neurotischen oder aber eines gesunden Verhaltens hervor.
 
Bereits im Jahre 1912 grenzte er sich von den sogenannten "Dispositionspsychologen" ab, die das Verhalten aus inneren Veranlagungen zu erklären versuchten.
 
Die Indidivualpsychologie war für ihn hingegen im wahrsten Sinne eine "Positionspsychologie". Gerade in dieser Bezeichnung zeigt sich die zentrale Bedeutung des sozialen Umfeldes für das einzelne Individuum! Adler verwendete dann später auch noch die Begriffe "Gebrauchs- und Besitzpsychologie", um sich klar gegen die psychoanalytische Richtung Freuds abzugrenzen. Unter Gebrauchspsychologie versteht man den individuellen Gebrauch, wie ein einzelnes Individuum die mitgebrachten organischen Voraussetzungen und die vorgefundenen sozialen Bedingungen im Sinne seiner inneren Zielsetzung benutzt und mit ihnen umgeht. Adler spricht dann in diesem Zusammenhang auch von den Instrumenten, auf denen das Individuum seine ganz eigene, individuelle Lebensmelodie spielt.
 
Ein weiterer wichtiger Punkt wurde von Adler bezüglich der damals vorherrschenden Erbtheorie immer wieder betont, nämlich dass alle seelischen und körperlichen Funktionen notwendigerweise durch Erbmaterial prädisponiert seien. Aber in der Individualpsychologie (IP) ging es (und geht es bis heute) vor allem um den Gebrauch und den Umgang, den das einzelne Individuum damit macht, wie es damit zurecht kommt und darauf reagiert, um ein bestimmtes (fiktives) Ziel zu erreichen!
 
Unter Gebrauchspsychologie versteht man - um den Faden noch weiter zu spinnen - die Eigenständigkeit, die Autonomie und vor allem auch die "Würde" des Menschen, als handelndes, aktives und nicht nur "sich verhaltendes", passives Wesen. Dies bedeutet aus der Optik der Individualpsychologie in der Erziehung, der Psychotherapie und der Beratung ganz klar eine sehr optimistische Grundhaltung. Konkret heisst dies auch, dass dem einzelnen Individuum eine klare Eigenverantwortung zugestanden wird.
 
Sinn und Ziel der (individualpsychologischen) therapeutischen Behandlung und Beratung muss deshalb darin liegen, den unglücklichen "Besitz" als Grund des (psychischen) Leidens wahrzunehmen und zu anerkennen, aber trotzdem in liebevoller geduldiger Beharrlichkeit zum rechten "Gebrauch" und "Umgang" zu ermutigen. Dies setzt auch das Wissen voraus, dass von therapeutischer Seite eine Korrektur von Lebensirrtümern möglich ist, oder sogar erfolgen muss, wenn das entsprechende Individuum unter dem Leidensdruck zu einer Veränderung bereit ist.
 
Die Indidividualpsychologie (von lat. individere = unteilbar) ist vom Ganzeitsgedanken durchzogen und grenzte sich vor allem damals nach der Trennung von Freud klar gegen die rein naturwissenschaftliche, dem kausal-mechanischen Denken verbundene Neigung Freuds ab, die einheitlich handelnde Person in verschiedene Trieb-Repräsentanten und seelische Instanzen zu zerlegen.
 
Historisch bemerkenswert ist auch noch die Tatsache, dass sich Alfred Adler in seiner praktischen Arbeit als Arzt (im Unterschied zu S. Freud) vor allem mit Menschen aus Segmenten der unteren Sozialklassen mit allen entsprechenden sozialen Problemen (und Krankheiten) zu beschäftigen hatte. Dass er aus dieser Perspektive heraus ein besonders offenes Ohr für die sozialen Probleme seiner Patienten hatte, versteht sich von selbst. Hier konnte er bei seiner praktischen ärztlichen Arbeit tagtäglich beobachten, dass der Mensch eben als ganzheitliches Wesen mit Körper, Geist und Seele auf alle Lebensprobleme und Konflikte als Einzelindividuum innerhalb der menschlichen Gemeinbschaft reagierte.
 
Zusammenfassend und auf einen einfachen Nenner gebracht, kann man das individualpsychologische Menschenbild als
 
  • final ausgerichtet,
  • in einer teleologischen Bewegung auf ein fiktives Ziel hinstrebend,
  • holistisch, als unteilbares Ganzes empfindend und sich verhaltend, und
  • den Menschen als soziales Wesen, sozial eingebunden in die menschiche Gesellschaft wahrnehmend
 
bezeichnen.
 
Alfred Adler gilt heute unumstritten als wohl einer der ganz grossen Tiefenpsychologen, der die Entwicklung der Psychologie sehr stark geprägt und angeregt hat. Lange Zeit aber waren seine Schriften und Publikationen nicht systematisch geordnet. Erstmals im Jahr 1972 verfassten Heinz L. und Rowena Ansbacher eine systematische und zusammenfassende Darstellung der Lehre mit Auszügen aus Alfred Adlers Schriften ("The Individual Psychology of Alfred Adler, A Systematic Presentation in Selections from his Writing", New York 1972, deutsche Ausgabe: "Alfred Adlers Individualpsychologie", München/Basel 1995). Ein weiteres Standardwerk erschien 1995 in einer zweiten, neu erarbeiteten Auflage als "Wörterbuch der Individualpsychologie", herausgegeben von Reinhard Brunner und Michael Titze ("Wörterbuch der Individualpsychologie", München/Basel (Brunner/Titze 1995).
 
 
Alfred Adlers Biografie
 
(Aus meiner Diplomarbeit)
 
Um die Werke von grossen Menschen verstehen zu können, braucht man auch ihre Biografien, vor allem möglichst viele Details aus ihrer Kindheit, zu kennen. Alfred Adler lehrt, dass in der frühkindlichen Phase (der ersten 5-7 Jahren) der individuelle "Lebensstil" vom einzelnen Menschen in einem schöpferischen Prozess, vor allem durch eine individuelle Reaktion auf die unmittelbare "Umwelt", erschaffen wird. Auch hier wird aus der Sicht des Menschen als eines ganzheitlichen, ziel(aus)gerichteten und sozialen Wesens ausgegangen. Von Adlers Begriff der "Einheit der Persönlichkeit" kann abgeleitet werden, dass jegliche Ausdrucksform im Zusammenhang mit dem gesamten Individuum betrachtet werden muss.
 
Alfred Adler sagte dazu 1912:
 
*Gegen Ende der Säuglingszeit, wo das Kind selbständige, zielsichere Handlungen vollbringt, die nicht bloss auf Triebbefriedigung gerichtet sind, wo es seinen Platz in der Familie einnimmt und sich in seiner Umgebung einrichtet, besitzt es bereits Fertigkeiten, psychische Gesten und Bereitschaften. Zudem ist sein Handeln ein einheitliches geworden, und man sieht es auf dem Wege, sich einen Platz in der Welt zu erobern. Ein derartig einheitliches Handeln kann nur verstanden werden, wenn man annimmt, dass das Kind einen einheitlichen, fixen Punkt ausserhalb seiner selbst gefunden hat, dem es mit seinen Wachstumsenergien nachstrebt. Das Kind muss also eine Leitlinie, ein Leitbild gestaltet haben, offenbar in der Erwartung, sich so in seiner Umgebung am besten zu orientieren und zur Bedürfnisbefriedigung, zur Vermeidung von Unlust, zur Erzielung von Lust zu gelangen..."
 
Alfred Adlers unmittelbare (jüdische) Vorfahren stammten aus dem burgenländischen Ort Kittsee, der damals zur Österreich-Ungarischen Monarchie gehörte. Ich erwähne Alfred Adlers jüdische Vorfahren insofern, als ich glaube, dass dieses jüdische Umfeld (und auch seine jüdische Erziehung während der Schulzeit) in seiner Vorstellungswelt (von Gemeinschaftsgefühl, von Gleichheit, finalem Denken usw.) entsprechende Spuren hinterliess.
 
In seiner Umgebung von Lagerhäusern der Händler (des Schwendermarktes), von Zugtieren und einem Wagenpark, der vielen Grosshändlern und Hoflieferanten gehörte (die sich aus steuertechnischen Gründen ausserhalb der Stadt Wien niederliessen), wurde Alfred Adler am 7. Februar 1870 an der Hauptstrasse 32 (heute: Sechshauerstrasse 68/70) in Rudolfsheim geboren. Acht Tage nach seiner Geburt wurde Alfred der jüdischen Tradition gemäss von Dr. Spitzer, dem Mohel, beschnitten. Sein hebräischer Name lautete Aron.
 
Alfred Adler hatte noch einen zwei Jahre älteren Bruder (Sigmund). Eine Schwester (Hermine) folgte ihm im Jahr 1871, ein Bruder (Rudolf) wurde 1876 geboren (er verstarb kurz nach der Geburt), eine weitere Schwester (Irma, ihr Geburtsdatum ist unbekannt), ein Bruder (Max) 1877, und ein weiterer Bruder (Richard) 1884 geboren, folgten.
 
Alfred Adler war also der Zweitgeborene und wuchs, wie er selber später erzählte, als ein vom Vater "verzärteltes" Kind auf.
 
Adler zählt die Beachtung der Stellung in der Geschwisterreihe als eine der wichtigsten Hilfen für das Verständnis des individuellen Lebensstils. Es leuchtet ein, dass zum Beispiel Einzelkinder (oder auch Erstgeborene) über eine lange Zeit die besondere Beachtung, Zuwendung und Unterstützung ihrer Eltern geniessen. Logischerweise befindet sich das zweite Kind in einer ganz anderen Lage. Vor ihm befindet sich ein älteres Geschwister, das ihm auch noch öfters "feindlich" gesinnt ist, da es ja praktisch entthront wurde. Ein Grundmotiv (der Zweitgeborenen) kann öfters sein, dass sich aus dem Gefühl des Zurückgesetztseins ein starkes (manchmal auch ruheloses ) Streben nach Überwindung dieses Zustandes entwickelt.
 
Was sagt Adler selber zum Zweitgeborenen:
 
"Das zweite Kind ist in einer ganz anderen Lage (als das Erstgeborene). Von Geburt an muss es seine Beachtung mit einem anderen Kind teilen, und darum ist es mehr zur Kooperation geneigt, als das ältere Kind. Wenn das älteste ihm nicht den Kampf ansagt und es beiseite drückt, ist es in einer günstigen Situation. Seine ganze Kindheit hindurch hat es einen Schrittmacher, immer ist ein Kind ihm voraus, und somit wird es angeregt, sich anzustrengen und aufzuschliessen. Ein typisches zweites Kind ist sehr leicht zu erkennen. Es benimmt sich, als ob es an einem Wettlauf teilnähme, steht immer unter Dampf und übt sich beständig, das ältere Geschwister zu übertreffen. [.]  Das zweite Kind ist oft auch talentierter und erfolgreicher als das erste. Wenn es schneller vorwärts schreitet, liegt das daran, dass es sich besser trainiert hat. Selbst wenn es erwachsen ist und ausserhalb der Familie lebt, macht es häufig Gebrauch von einem Schrittmacher, indem es sich mit jemandem vergleicht, von dem es annimmt, dass er vorteilhafter platziert ist, und es versucht, ihn zu übertreffen." (aus A. Adlers: "Wozu leben wir?, zitiert von H.L. u. R. Ansbacher S.305-306)
 
Wir werden später in Adlers Biografie sehen, wie diese Aussagen auf ihn übertragbar sind.
 
Alfred war während seiner Kindheit öfters kränklich. Wir hören auch, dass Alfred Adlers Beziehung zu seiner Mutter als eher problematisch zu betrachten ist. Alfred erhielt als "verzärteltes Kind" bei Eintritt ins Schulalter einen Privatlehrer. Wollte man damit seine "Zerbrechlichkeit" noch betonen und ihm damit nicht die Mühsal eines strengen Volksschullehrers zumuten? Als Neunjähriger trat er dann in das Leopoldstädter Realgymnasium ein, das als vornehm und exklusiv galt. Schon der Besuch eines Gymnasiumns galt damals als elitär. Alfred erzählt selber, dass er mit Schulproblemen zu kämpfen hatte. Wir hören von ernsthaften Problemen im Fach Mathematik, die er aber dann durch besonderen Einsatz überwinden konnte und in der Folge zu einem guten Schüler gerade auf diesem Gebiet avancierte. Ich gehe davon aus, dass dieses  Erlebnis für Alfred Adler ganz besonders wichtig und auch prägend wurde, und er dann in der Folge seine Vorstellungen vom überwundenen Minderwertigkeitsgefühl auf dieses erste selbst prägende Schlüsselereignis zurückführt. Ich gehe auch davon aus, dass hier in dieser Situation Alfreds Ehrgeiz - resultierend aus der Geschwisterreihe, als Zweitgeborener! - eine wichtige Rolle spielte.
 
Alfred entschied sich schon sehr früh, Arzt zu werden. Diese kindliche Berufsvorstellung geht, so wissen wir, auf ein Erlebnis mit einer Lungenerkrankung (die vom Arzt als aussichtslos diagnostiziert wurde) zurück. Wir wissen auch vom nächtlichen Tode  eines kleinen Bruders (im gemeinsamen Bett!), der vermutlich in diesem Zusammenhang auch eine Rolle spielte. Adler litt als kleines Kind auch an einer Rachitis und einem Stimmritzenkrampf, der sich bei ihm vor allem beim Weinen zeigte. Hier, bei diesen existentiellen Erfahrungen, die er am eigenen Leibe erfuhr, scheint er ein sehr starkes Gefühl der Minderwertigkeit (der Todesangst, der Aussichtslosigkeit) selber erlebt zu haben, dem er mit diesem frühen Berufswunsch dann kompensatorisch begegnen wollte.
 
Alfred scheint andererseits ein frisches, fröhliches und freiheitsliebendes Kind gewesen zu sein, das gerne im Freien mit anderen Kindern spielte. Auch hier sehe ich einen Zusammenhang zu seiner Zweitgeborenenrolle: s. o. "Von Geburt an muss er (der Zweitgeborene) seine Beachtung mit einem anderen Kind teilen, und darum ist er mehr zur Kooperation geneigt als das ältere Kind". Gerade diesen Kontakt mit anderen Kindern war ihm offensichtlich sehr wichtig. Es scheint, dass er hier praktisch erleben konnte, was es heisst, "dazu zu gehören", ein Teil einer Gruppe, eines Kollektivs, zu sein. Und er wollte offenbar auch immer dazu gehören. Auch hier scheinen seine Urgedanken des später dann entwickelten "Gemeinschaftsgefühls" verwurzelt und entstanden zu sein.
 
Alfred scheint, trotz seiner jüdischen Herkunft, und trotz eines nicht unerheblichen antisemitischen Wiener Umfeldes, weiter keine diesbezüglichen Probleme gehabt zu haben (das behauptet er jedenfalls immer wieder selber!). Er galt als "Gassenbub" und machte überall mit seinen Kameraden mit. Er besuchte den jüdischen Religionsunterricht, der in seinen Zeugnissen als "lobenswert" abgegolten wurde. Ich stelle mir allerdings die Frage, ob nicht doch seine spätere (christliche) Taufe, d.h. sein endgültiger Bruch mit dem Glauben und der Gemeinschaft seiner Vorväter, im weitesten Sinne doch etwas mit seinem (Minderwertigkeits-) Gefühl, der jüdischen (gewissermassen auch verachteten) Minderheit anzugehören, zu tun hatte. Er schloss sich bekanntlich dann später der lutherischen Kirche an, die auch eine Minorität im mehrheitlich römisch-katholischen Wien darstellte. Später (im Jahr 1927) trat er dann wieder aus der Kirche aus (Schiferer "Alfred Adler, eine Bildbiographie", München/Basel 1995, Seite 76). Im Frühling 1888 bestand Alfred die Maturitätsprüfungen.
 
Adlers Kindheit und Adoleszenz ist meines Erachtens gekennzeichnet durch ein klares Streben, immer dabei zu sein, dazu zu gehören, nicht abseits zu stehen,Schwächen und aufkommende Probleme, wo immer sie auftraten und er sie wahrnahm, zu überwinden.
 
Als Gassenbub wollte er immer in der Gruppe mitspielen und setzte offenbar alles daran, akzeptiert zu sein. Den klassischen Ehrgeiz eines Zweitgeborenen sehe ich auch während seiner Schulzeit durchschimmern. Schulschwierigkeiten (in Mathematik) nahm er nicht einfach so hin, sondern er reagierte darauf, lernte besonders tüchtig und überwand durch einen gesteigerten Einsatz diese Schulschwäche und wurde dann in der Folge ein ganz besonders guter Mathematik-Schüler. Auch später bewegte sich Alfred Adler immer ambitiös auf dem beruflichen Parkett. Offenbar wollte er nicht im "Schatten" eines Älteren stehen! Wenn ich an seine Trennung von Sigmund Freud denke (der übrigens den gleichen Vornamen trägt wie sein älterer Bruder!), so sehe ich hier ebenfalls wieder dieses typische Streben des Zweitgeborenen, sich aus dem "Schatten" des Erstgeborenenn zu bewegen und einen eigenen Weg zu finden! Diese - und noch weitere Elemente - scheinen mir von Alfred Adler dann zu Bausteinen seiner Lehre (auch seiner Menschenbilder) gemacht worden zu sein!
 
Im Schnellzugstempo möchte ich nun den weiteren Lebensweg von Alfred Adler zusammenfassen:
 
Interessant scheint mir einmal Adlers politische Prägung zu sein. Als Jude wurde er natürlich von den damaligen deutschnationalen, den betont antisemitischen und den christlichen Studenten-Verbindungen nicht aufgenommen. Ich denke, dass dieser Ausschluss für ihn eine recht tragische Rolle spielen musste, und ihn möglicherweise auch zum Entschluss der (christlichen) Taufe bewegte, wie es viele seiner Glaubensgenossen damals vor allem aus Opportunismus, und nicht aus echter religiöser Überzeugung, taten. Ich attestiere auch Adler diesen Opportunismus zu, da er nach all meinen Informationen nachweislich nie eine echte (kirchliche) Religiosität zeigte. Auch sein nachträglicher Kirchenaustritt 1927 (der in Adler-Kreisen meistens unterschlagen wird!) scheint dies zu bestätigen. Ein Interview mit seinem Sohn Kurt in New York zeigt eigentlich klar, dass Alfred Adler keinesfalls als gläubiger Christ, sondern als Atheist zu bezeichnen ist("Alfred Adler aus der Sicht seines Sohnes Kurt", Broschüre zum 125. Geburtstag von Alfred Adler, sgipa, 1995, s. 7-8).
 
Christoph Kolbe geht in seinem Buch "Heilung oder Hindernis, Religion bei Freud, Adler, Fromm, Jung und Frankl" (dieses Buch stelle ich unter dem Kapitel "Buchbesprechungen" noch detaillierte vor!) u .a.auch auf Adlers Religionsvorstellung ein. Zusammenfassend würde ich Kolbes Gedanken dahingehend interpretieren, als Adler Gott im weitesten Sinne als die Konkretisierung der Vollkommenheitsidee verstand, die Religion als persönliches Mittel der Lebensbewältigung und auch als wichtige Möglichkeit innerhalb der menschlichen Beziehungen empfunden und gelehrt sah ("Heilung oder Hindernis", Religion bei Freud, Adler, Fromm, Jung und Frankl, Stuttgart, Kreuz-Verlag 1986). Ich persönlich glaube, dass die Frage nach Adlers Religions- und Gottesvorstellung insofern von grösster Wichtigkeit ist, als seine Vorstellung und seine Lehre "des Strebens nach Vollkommenheit" (oder: nach Gottähnlichkeit) einen hohen Stellenwert hat.
 
Alfred Adler heiratet am 23. Dezembger 1897 unter der Chupa (dem jüdischen Traubaldachin) in Russland Raissa Timofevna Epstein, die als russische Intellektuelle an westeuropäischen Universitäten studierte.
 
Dem Ehepaar Adler wurden vier Kinder geschenkt: 1898 Valentine Dina (sie wurde um 1940 in der Sowjetunion vermutlich von den Stalinisten umgebracht), 1901 Alexandrea,1905 Sohn Kurt und 1909 Cornelia.
 
Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die berufliche und wissenschaftliche Karriere Alfred Adlers:
 
Der junge Adler entwickelte sich nach Abschluss seines Medizinstudiums zum Sozialmediziner: Bereits im Jahre 1898 erschien von ihm eine erste Veröffentlichung über "Das Schneidergewerbe"; die wohl als eine klinisch-wissenschaftliche Untersuchung der sozialen Situation der Schneider zu betrachten ist. Hier zeigt sich schon Adlers bewusstes und akzentuiertes soziales Engagement für die Schwachen und Ausgebeuteten. Er kann wohl schon damals als Wortführer einer Gruppe sozial engagierter junger Mediziner verstanden werden, die dann später auch innerhalb der berühmnten "Mittwochgesellschaft" Sigmund Freuds wirkten.
 
Alfred Adler widmete sich in seiner ersten Praxis (1898) mit finanzieller Unterstützung aus der Verwandtschaft minderbemittelten Patienten. Adler war vorerst als Ophtalmologe, dann als Internist tätig. Langsam verschaffte er sich immer mehr Einfluss in vielen wichtigen Kreisen Wiens durch sein politisches und soziales Engagement. Sigmund Freuds "Die Traumdeutung" scheint den jungen Adler sehr beeindruckt zu haben. Der Kontakt war bald zwischen den beiden Ärzten hergestellt, und Alfred Adler wurde in die Gruppe der Psychoanalyse aufgenommen, die sich an den bekannten "Mittwochsgesellschaften" im Hause Freuds an der Berggasse 19 trafen. (Adler hatte schon vor 1900 einmal mit Freud Kontakt, als er wegen Problemen mit einer Patientin an ihn gelangte!). Adler war der Jüngste in der Mitwoch-Runde.
 
Alfred Adler stellte am Anfang seiner Tätigkeit vor allem physiologische und psychologische Probleme bei der Erziehung von Kleinkindern in den Vordergrund. Es scheint, dass Adler über längere Zeit die von Freud geführte Theorie mitzutragen versuchte. Es kam aber dann zum Bruch. Sicher erarbeitete Adler  - vor allem an seinem Wirkungskreis mit sozial eher benachteiligten Patienten - andere Schwerpunkte als Freud (der vor allem PatientInnen der oberen Schichten bediente) dies tat.
 
Mir scheint gerade das Beispiel seiner Beziehung, resp. seines Beziehungs-Abbruches zu Freud und der Mittwochsgesellschaft typisch zu sein. Freud, der Ältere, Erfolgreiche, musste eine Persönlichkeit wie Adler (der Zweitgeborene, der sich offenbar immer am Stärkeren messen wollte) herausfordern: Sicher gibt es viele und massgebliche fachliche Gründe, die zu einer Loslösung und Trennung führen mussten, denn Adler strebte ein anderes Ziel als Freud an: Ich denke aber, dass dieses ganz persönliche Element des sich Durchsetzens, Behauptens und Recht-haben-Wollens hier sicherlich auch eine wichtige Rolle spielte. Bernhard Handlbauer beleuchtet in seinem Buch "Die Freud-Adler-Kontroverse" für mich sehr überzeugend, wie sich auf allen Ebenen der Bruch zwischen Freud und Adler vollzog: vom Beginn der Zusammenarbeit in der Mittwochgesellschaft bis zur Trennung, verursacht auch durch die unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen, die unterschiedliche soziale Herkunft der Patienten, und auch eine Beleuchtung der unterschiedlichen Wahrnehmungen des Konfliktes bei Adler und Freud usw. : ("Die Freud-Adler-Kontroverse"; Bernhard Handlbauer, Psychosozialer Verlag, Giesse 2001). 
 
Adler galt zeitlebens als begabter Redner (und eher problematisch im schriftlichen Ausdruck!). Muss dies (die Redegewandtheit) auch als eine gewisse Entwicklung seines Durchsetzungsvermögens anzusehen sein? Ehemalige Patienten und Mitarbeiter von Adler schwärmten noch nach seinem Tode von seiner Rhetorik, seinem verbalen Charme, seinem Witz und Humor, seinem Charisma, seiner Menschlichkeit, seiner Herzenswärme, seiner Begeisterungsfähigkeit, seiner Überzeugungskraft und seinem umwerfenden Zynismus, mit dem er seine Vorträge und Ansprachen pfefferte. Sein soziales Engagement (es gipfelt wohl in seiner Vorstellung des "Gemeinschaftsgefühls"), sein starker Wille, überall dabei sein zu wollen, aber auch den Anderen als gleichwertig wahrzunehmen , zieht sich wie ein Roter Faden durch seine Arbeit und sein Leben.
 
Für Alfred Adler war es immer eminent wichtig, als gleichwertiger Mensch wahrgenommen zu werden. Er hatte sich ja Zeit seines Lebens so stark bemüht, überall als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft aufgenommen zu werden und dabei - so denke ich - auch familiäre Bindungen fallen gelassen! Sein Judentum opferte er der Taufe, um auch hier "dabei" (in der christlichen Mehrheitsgesellschaft) zu sein. Auf Reisen und Vorträgen missionierte er weiter für seine Idee einer menschlichen Psychologie, der (von ihm entwickelten) Individualpsychologie.
 
Und noch auf der letzten Vortragstournee im Mai 1937 wollte er in Schottland, an der Universität von Aberdeen, in Vorträgen, Vorlesungen und Kursen für ein neues, menschliches, zielgerichtetes und finales Menschenbild arbeiten. Während eines Spazierganges in der Union Street in Aberdeen bracht er zusammen und verstarb auf dem Transport zum Spital .
 
Phyllis Bottome beschreibt in ihrer in englisch erschienen Biografie (1939) detailliert die letzten Stunden von Adlers Ableben, seine Kremation und die Abdankungsfeierlichkeiten in der Kings's College Chapel. Adler, der Atheist (wie ihn noch sein Sohn Kurt in den 90er Jahren definierte) wurde feierlich, fast pompös, in einer christlichen Kapelle beigesetzt, weil es sich offenbar "so gehörte", weil er eben "dabei sein wollte, dazu gehören wollte".
 
(Auszug aus meiner Diplomarbeit am Alfred Adler Institut in Zürich)
 
 
Bücherbesprechungen über Individualpsychologie, Biografien von Alfred Adler und weiteren Psychologen
 

15. Januar 2020

Eine neue Biografie  Alfred Adlers (von Alexander Kluy) ist 2019erschienen. In der NZZ vom 15.1.2020 erschien von Wolfgang Taub eine Rezension, die ich hier wiedergeben möchte:

Von diesem Psychologen wäre heute viel zu lernen.

Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, steht zu Unrecht im Schatten von Freud und Jung. Er hat den Einzelnen als Teil der Gesellschaft untersucht und das Verhältnis zwischen Arzt und Patient überdacht.

Wolfgang Taus 15.01.2020, 05.30 Uhr NZZ

Neben Sigmund Freud und C. G. Jung gehörte auch der in Wien geborene Alfred Adler (1870–1937) zu den zentralen Säulen der modernen Psychologie. Gegen Ende seines Lebens, Mitte der 1930er Jahre, war seine Berühmtheit so gross, dass er in einem Atemzug mit Albert Einstein genannt wurde. Während Einstein das Universum vermessen habe, sei dem Genie Adler etwas noch Wichtigeres gelungen: die «Kartierung der menschlichen Seele», schreibt der Literaturwissenschafter Alexander Kluy in seiner tiefgreifenden Biografie über den Begründer der Individualpsychologie.

Alfred Adler entstammte einer jüdischen Familie und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, absolvierte aber dennoch ein Medizinstudium. Die Briefe Freuds an Adler zeigen, dass sich die beiden mindestens seit Anfang 1899 kannten. In der Folge wurde der vierzehn Jahre jüngere Adler zum Mitstreiter Freuds in Wien und eines der ersten Mitglieder der 1902 ins Leben gerufenen «Mittwoch-Gesellschaft». Er avancierte zu einem tragenden Mitglied dieser interdisziplinären Disputationsgesellschaft und versäumte während neun Jahren kaum eines ihrer Treffen an der Wiener Burggasse.

Adler beschäftigte sich intensiv mit der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse, stellte sich aber immer stärker in Opposition zu seinem Lehrer, der damals von vielen «Jüngern» als neuer «Messias» betrachtet wurde. Adler sah den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil der Gesellschaft an, weshalb das menschliche Verhalten ganz wesentlich von der Gesellschaft geprägt sei.

Anders als Freud glaubte Alfred Adler auch nicht, dass Störungen der kindlichen Sexualität die Ursache seelischer Probleme im Erwachsenenalter darstellten. Vielmehr vermutete er dahinter Minderwertigkeitskomplexe bzw. einen übersteigerten Geltungstrieb infolge missglückter Anpassung an die Gemeinschaft. Laut Adler sind Frauen und Männer von Natur aus gleichwertig; Freuds eher patriarchalisches Menschenbild kritisierte er deshalb scharf. 1911 kam es denn auch zum schmerzlichen inhaltlichen Bruch zwischen Adler und Freud.

Mechanismen der Abwertung

Adlers Sichtweise wirkt bis heute fort. 2006 meinte etwa der österreichisch-amerikanische Neurologe Eric Kandel im Sinne Adlers, dass biologische Evolution im Grunde eine kulturelle Evolution sei. Die Aktivierung der genetischen Substanz durch soziale Faktoren mache sämtliche Körperfunktionen für soziale Einflüsse empfänglich. Und Adlers Theorien der Psyche seien bedeutsam für zersplitternde Gesellschaften, in denen sich Auflösungsprozesse vollziehen und sich Neopuritanismus, Neorassismus und alter Hass hochschaukeln, hält der Autor fest.

Adler hat als einer der Ersten verstanden und benannt, dass der Mensch infolge faktischer oder empfundener Unzulänglichkeit und eines Mangels an Selbstachtung die Tendenz entwickelt, sich durch Abwertung anderer selbst aufzuwerten. Bei einer Gruppe, die über längere Zeit hinweg als nicht gleichwertig oder explizit als minderwertig behandelt worden ist, würden sich diese Gefühle intensivieren und zu Kompensation führen, in Ausweichmanöver münden, um Selbstzweifel und Infragestellungen zu neutralisieren.

Diese Einsichten führten zu einem Paradigmenwechsel: zur «psychosomatischen Medizin». Krankheitssymptome wurden nunmehr als Rebellion des Organismus gewertet, Neurosen etwa erschienen als Macht- und als Geltungsproblem. Adlers Fokus lag auf der «Demokratisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses» und der Aufwertung der Mitverantwortung des Patienten für seine Genesung. «Die Couch ist gewissermassen abgeschafft», schreibt Kluy. Patienten und Behandler sitzen sich gegenüber, Auge in Auge.

«Die Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und sie dort abzuholen, wo sie stehen» – so fasst der Autor Adlers Mantra zusammen. Nur auf diese Weise konnte in seinen Augen eine «lebensnahe Psychoanalyse» erreicht werden, die es ermöglicht, den Einzelnen aus seiner individuellen Lebenswelt heraus zu verstehen. Begriffe wie «Gemeinschaftsgefühle» oder «Persönlichkeitsideal», die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind, stammen von Adler.

Verzerrte Überlieferung

Trotzdem ist von Adlers Werk nicht viel Originalmaterial erhalten geblieben. Adler pflegte Korrespondenzen nach deren Beantwortung wegzuwerfen. Da er aber unablässig neue Kontakte knüpfte und Freundschaften schloss, entstand eine Fülle von Anekdoten über ihn. Einiges wurde dabei auch falsch wiedergegeben oder durch den Blick seiner Kontrahenten verzerrt: Anders als oft behauptet, hat weder Sigmund Freud noch C. G. Jung den Begriff «Minderwertigkeitskomplex» erfunden. Es war vielmehr Adler, der dieses Wort schuf.

Alexander Kluy beleuchtet anhand von erstmals veröffentlichten Archivfunden eingehend das schillernde Leben jenes grossen Psychologen, der zu Unrecht im Schatten der beiden anderen Grössen steht. Alfred Adler hielt auch zahlreiche Vorträge an Volkshochschulen und richtete die ersten Erziehungsberatungsstellen ein.

Vor dem Hintergrund des Aufstiegs von Hitler in Deutschland und des Machtzuwachses faschistischer Strömungen in Europa übersiedelte Adler 1934 in die USA, wo er schon seit 1926 eine Gastprofessur an der Columbia University innehatte und seit 1932 am Long Island College unterrichtete. Trotzdem unternahm er weiterhin Vortragsreisen nach Europa. Auf einer solchen Reise starb Adler 1937 in Schottland im Alter von 67 Jahren an Herzversagen.

Alexander Kluy: Alfred Adler. Die Vermessung der menschlichen Psyche. Biografie. Deutsche Verlags-Anstalt, 2019. 432 S., Fr. 39.90.

---> siehe auch Seite "Füchter/Filme"