Was bewegt, was fordert uns heraus?

 

 

 

Lieber Besucher

Wir leben bekannterweise nicht als Einzelwesen, sondern gehören als Individuen auch zu einem Kollektiv, zur Gesellschaft. Und in dieser Welt, in der wir leben, gibt es Tag für Tag Ereignisse, die uns alle, als Individuum, aber auch als Gruppe, in der wir uns bewegen, betreffen!  Tagtäglich passieren Sachen, die uns - je danach - herausfordern, uns zur Stellungnahme zwingen, oder über die wir uns ganz einfach ärgern und auch freuen, aber auch erschrecken und belasten.

Aber sind es manchmal nicht auch so kleine Episoden und Skuriles, denen wir begegnen, die uns zum Schmunzeln bewegen und die unser Leben nicht selten  erfreuen? 

Hier auf dieser Seite möchte ich von Zeit zu Zeit  aktuelle Themen aufgreifen, denen ich begegne, die ich mit Ihnen teilen möchte!

2022

 

17. November 2022 

Naht das Ende unserer Zeit, unserer Welt? Droht eine Apokalypse? Die extreme Linke scheint es mit der extremen Rechten diesbezüglich ähnlich zu sehen. Stimmt diese Sicht? Die NZZ geht im heutigen Feuilleton darauf ein. Lesen Sie selber!

NZZ Feuilleton, 17. November 2022

Linke Aktivisten und rechte Agitatoren sind sich näher, als man denken würde: Hüben wie drüben glaubt man, dass das Ende der Zivilisation bevorsteht

Unsere Gesellschaft ist noch immer vom christlichen Denken geprägt. Wie sonst ist zu erklären, dass in der Politik, aber auch im Kulturschaffen ein apokalyptischer Endzeitdiskurs dominiert`?

 
Felix E. Müller17.11.2022, 05.30 Uhr

Auch in Kunst und Kultur dreht sich viel um das Ende der Welt: «Unbearable», Skulputur des dänischen Bildhauers Jens Galschiot.

Gerhard Leber / Imago

Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Klimajugend und Donald Trump? Keine, mit einer einzigen Ausnahme: Beide erwarten von der Zukunft nur das Schlimmste. 

Wenn sich Klimaaktivisten am Asphalt festkleben, tun sie es mit der Rechtfertigung, die Welt stehe am Abgrund. Zeige nicht die Wissenschaft, dass zunehmende Hitze, abschmelzende Gletscher und sich ausbreitende Dürren den Globus bald zu einem unbewohnbaren Ort machen würden? Rasch nähere sich die Erderwärmung dem «tipping point», dem Kipppunkt, der eine nicht mehr zu stoppende ökologische Abwärtsspirale einleite. Die Klimaforschung glaubt sogar, eine Jahreszahl benennen zu können, wann dieser Moment erreicht ist. Er ist nahe! Und danach? Kommt der Weltuntergang und damit das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen.

Doch wer meint, bei der Endzeitstimmung handle es sich um ein Phänomen im links-grünen Lager, der täuscht sich. In seiner Inaugurationsrede zeichnete Donald Trump 2017 ein düsteres Bild von der Zukunft der USA, befinde sich das Land doch im Niedergang, habe seine Seele verloren und sei vom Verlust seiner Stärke und Grösse bedroht. Der Einfluss seines damaligen Beraters Steve Bannon, der ein Verehrer des rechtsextremen französischen Publizisten Renaud Camus ist, war mit Händen zu greifen.

Camus warnte in einem 2010 erschienenen Buch vor dem «grossen Bevölkerungsaustausch» und behauptete, alle Register von Verschwörungstheorien ziehend, eine Elite von Globalisten, Uno-Funktionären, Multikulturalisten, Topmanagern und Juden befördere die Einwanderung aus Entwicklungsländern mit dem Ziel, die Weissen in Europa zu verdrängen und damit die Kultur des Abendlands auszumerzen. Die Rechtspopulisten griffen dieses Untergangsszenario dankbar auf, denn zu ihrem Geschäftsmodell gehört es, die Zukunft in düsteren Farben zu zeichnen und ebenfalls den Untergang der Welt, wie wir sie kennen, zu beschwören.

Die Kultur arbeitet kräftig mit

So stimmen Linksaktivisten und Rechtsagitatoren in diesem einen Punkt überein: Die Welt sieht sich von einer Apokalypse bedroht. Sie dürfen sich in dieser Auffassung durch das gegenwärtige Kulturschaffen bestätigt sehen.

In Büchern, Filmen, TV-Serien oder Videogames wimmelt es von Inhalten jeder Schattierung von Düsternis. TV-Serien wie «Hunger Games» oder «The Handmaid’s Tale» nach dem gleichnamigen Roman von Margaret Atwood, die eine finstere, kaputte, totalitäre Welt zeigen, waren internationale Grosserfolge. In der Literatur hat sich mit der «Cli-Fi» – Climate Fiction – eine spezielle Kategorie von Romanen etabliert, welche die kommende ökologische Katastrophe und den Klima-Weltuntergang in allen möglichen Varianten schildern. Filme wie «Don’t Look Up», in dem sich bornierte Politiker als unfähig erweisen, Massnahmen gegen den drohenden Zusammenprall eines Meteoriten mit der Erde zu treffen, wurden von der Kritik verrissen und fanden dennoch ein Millionenpublikum.

In den USA boomt keine Buchkategorie mehr als die für «young adults», eine Altersgruppe zwischen – sehr ungefähr! – 12 und 18 Jahren. Hier häufen sich dystopische Erzählungen von Seuchen, Dürren, Diktatoren, vom Schrecken technologischer Überwachungsregime, was offensichtlich bei den jungen Leserinnen und Lesern auf grosses Interesse stösst. Und wer meint, dass es sich hier um typisch amerikanische Übertreibung handle, der lese doch die «Weltwoche», diese Zeitschrift für «old adults», in der täglich der Untergang der Schweiz, Europas, Amerikas, der EU, der Ukraine beschworen wird, immer mit dem atemlosen Subtext erzählt, dass überall das Ende nahe sei.

Nur die Umkehr kann helfen

Apokalypse ist natürlich ein religiös konnotierter Begriff. Verbunden wird damit die Erzählung einer Endzeit, eines letzten Gerichts, einer Zeitenwende und der Anbruch einer neuen Welt, des Reichs Gottes, das allen Gerechten Rettung bringt, aber allem Bösen die ewige Verdammnis. Besonders ausgeprägt ist, dank der Offenbarung (Apokalypse) des Johannes im Neuen Testament, dieses Narrativ im Christentum.

Was in Predigten, in erbaulichen Büchern, was in mittelalterlichen Wandgemälden und klösterlichen Andachten in den letzten 2000 Jahren millionenfach wiederholt und beschworen wurde, kann innert zwei Generationen nicht einfach verlorengehen. Unser Zeitalter ist nicht weniger religiös als die vorangehenden, obwohl wir das alle meinen. Das religiöse Bedürfnis sucht sich nur andere Ausdrucksformen als früher. Der Endzeitdiskurs in der heutigen Politik, das apokalyptisch gefärbte heutige Kulturschaffen verraten dies.

So dröhnt es heute von der Kanzel der veröffentlichten Meinung: Wenn die Welt demnächst den Klima-Untergang erleide, so sei dies der Fall, weil wir uns alle verschuldet hätten – zu viel mit dem Flugzeug unterwegs, zu viel konsumiert, zu viele Dieselkilometer gefahren. Nicht visionäre wissenschaftliche Erfindungen könnten die Welt noch retten, nicht etwa die experimentelle Technologie, die es erlaubt, CO2 der Atmosphäre zu entziehen. Nur noch die Umkehr vermag das Schlimmste abzuwenden, was jeder Bussprediger während Jahrhunderten verkündet hat. Wir sind alle Sünder! 

So gesehen handelt es sich auch beim strukturellen Rassismus, den alle Weissen unabhängig von einem individuellen Verschulden in sich tragen sollen, um nichts anderes als die alte Erbsünde im neuen Gewand.

Die Politik als Gerichtshof

Dieser penetrante Endzeitdiskurs führt zu einer religiösen Aufladung der Politik. Diese ist heute nicht mehr dazu da, Sachprobleme sachlich zu lösen. Vielmehr bildet sie einen öffentlichen Gerichtshof zur Verhandlung moralischer Fragen: Wodurch zeichnet sich die richtige Gesinnung aus, und wer gehört zu den Erlösten? Rassismus, Flüchtlingspolitik, Klima: Immer geht es um Gut oder Böse, also letztlich um die Frage, wer zu den Auserwählten gehört und wer in der Verdammnis enden wird.

Wenn unsere Zeit, wenn die gegenwärtige Politik zunehmend als Streit konkurrenzierender Modelle von Weltuntergang geführt wird, beschädigt dies das Gespräch unter Andersdenkenden. Wer von apokalyptischen Ängsten erfüllt ist, der hat keine Zeit mehr für langwierige Debatten. Er klebt sich auf die Autobahnen und fordert: 1,5 Milliarden für Gebäudesanierungen, und zwar sofort! Der wahrhaft Gläubige duldet keine Kompromisse, das war schon im alten christlichen Zeitalter so und ist es im heutigen kryptochristlichen immer noch. In besonders ausgeprägter Weise zeigt sich diese Transformation der Politik in den USA, was mit ein Grund dafür ist, dass die Politik sich zunehmend als unfähig erweist, bestehende Probleme tatsächlich auch zu lösen.

Muss man folglich für die Zukunft düstere Prognosen abgeben, weil die Politik immer schlechter funktioniert? Wer diese Auffassung vertritt, erweist sich zumindest als Kind seiner Zeit – der heutigen. 

Seine Gedanken zum Thema hat Felix E. Müller in einem Buch vertieft: «Abschied von der Zukunft. Die Endzeitstimmung der jungen Generation und was sie bedeutet» ist diese Woche im Verlag NZZ Libro erschienen. Am 28. November findet im Kulturpark Zürich eine Podiumsdiskussion zum Buch statt, neben dem Autor werden die Astrophysikerin Simone Weinmann und der grüne Gemeinderat Dominik Waser teilnehmen.

7. Oktober 2022 

"Inklusion" und die ganze Genderdiskussion verwirren mich! Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Welt "verrückt" spielt und nicht realisiert, dass es viel grössere und viel wichtigere Probleme unserer Zeit gibt, die zu lösen sind. 

Der folgende Artikel über "Inklusion" spricht mir aus dem Herzen!

KOMMENTAR

Inklusion als neues Dogma – Gleichberechtigung heisst noch lange nicht Gleichmacherei

Überall will man heute mitgemeint sein und dazugehören, von der Gendersprache über die Frauenbadi bis zur Zunft: Alle sollen alles dürfen, sonst fühlen sie sich diskriminiert. Doch es gibt auch ein Recht auf Abgrenzung. 

Birgit Schmid196 Kommentare06.10.2022, 05.30 Uhr

Je mehr Unterschiede wir betonen, desto gleicher wollen wir sein. Im Sommer forderte eine Person Einlass in die Zürcher Frauenbadi, sie trug Bart und hatte eine tiefe Stimme, weshalb ihr die Leitung des Bads den Zutritt verwehrte. Diese hielt den Gast für einen Mann. Das f im Pass wies ihn aber als Frau aus. Es war eine Transfrau, die Anspruch auf den Ort erhob, an dem sich Frauen aufhalten. Exklusiv. 

Sollen alle immer alles dürfen? Inklusion behauptet, Differenz zu ignorieren, tatsächlich wird sie dadurch betont.

Warum müssen Frauen mit Bart in die Frauenbadi?

Warum Männer ins Frauen-WC?

Warum müssen die Ampelmännchen durch schwangere Frauen ersetzt werden?

Warum wird der «Fussgängerstreifen» zum «Zebrastreifen»?

Warum wollen Frauen in die Zunft?

Warum muss jeder Zeitungstext für jede Person verständlich sein?

Warum müssen Männer in die Frauenbadi?

Der Rechtsaussenflügel der SVP forderte 2017 in einem Postulat, dass Männer in die Frauenbadi gehen dürfen. Begründet wurde der Vorstoss mit der Gleichstellung. Nicht nur Linke kämpfen also für Inklusion, sondern auch rechte Politiker, wenn sich damit politisch Stimmung machen lässt.

Inklusion ist ein Begriff, der den Weg in eine gerechtere Gesellschaft weist. Wer alle mit einbezieht, schliesst niemanden aus. Wenn alle mitgemeint sind, wird niemand diskriminiert. Und benachteiligt fühlt man sich heute schnell und übersehen. Mehr als alles andere trägt diesem Gefühl die genderinklusive Sprache Rechnung. Die Sprache kommt dem Anliegen der Inklusion sogar mit zwei alle und alles umarmenden Zeichen nach: mit Sternchen und Doppelpunkt.

Der Inklusionsgedanke durchdringt inzwischen jeden Lebensbereich. Dabei kann man eigentlich nichts einwenden gegen das Bemühen, alle immerzu einzubeziehen und für ausnahmslos jeden die Türen zu öffnen. Das Problem ist: Es gibt Unterschiede, die sich nicht ignorieren lassen. 

Das gute Ansinnen der Inklusion führt zu einer Nivellierung und der Missachtung der Bedürfnisse, die mit Differenz verbunden sind. Frauen in der Frauenbadi wollen unter sich bleiben und geniessen die Freiheit von Männerblicken. Die Studenten in der Verbindung sprechen anders, als wenn Frauen dabei wären. Wäre es deshalb gut, Frauen wären dabei, damit die Männer wie die Frauen sprechen?

Warum müssen alle gleich sein und sich einander anpassen? Was soll diese Angst vor Unterschieden? Gibt es nicht sogar ein Recht auf Abgrenzung?

Wie die Verneinung meiner Einzigartigkeit

Gleichberechtigung ist nicht dasselbe wie Gleichheit. Zur Gleichberechtigung gehört, dass alle gleiche Rechte haben und die Freiheit des Einzelnen garantiert ist. Man respektiert die Meinung von anderen und zeigt gegenseitige Toleranz. Eine Demokratie schützt Minderheiten, aber sie macht nicht alle gleich.

Bevor Inklusion zum Modewort wurde, war sie als Begriff geläufig für Menschen mit einer Behinderung, denen damit ein hindernisfreier Zugang zu Bereichen des öffentlichen Lebens garantiert und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird. Menschen im Rollstuhl müssen in Gebäude mit Treppen gelangen können, im Zug werden Plätze für sie geschaffen, sie spielen Handball. Sehbehinderte ertasten den neuen Roman von Thomas Hürlimann, jede «Tagesschau» wird für Gehörlose übersetzt. Das ist richtig so.

Dann machte sich Inklusion einen Namen in der Schule. Lernschwache Schülerinnen und Schüler werden in Regelklassen unterrichtet und behandelt wie alle anderen. Sie sollen sich nicht anders fühlen, sondern «ganz natürlich dazugehören», wie das inklusive Konzept beschrieben wird. Inzwischen wird der heilpädagogische Ansatz aber auch als Gleichmacherei kritisiert, als romantisierend. Besonderheiten lassen sich nicht weginkludieren. Das kann sich für das betroffene Kind sogar kontraproduktiv auswirken. 

Bei der Inklusion geht es um das Versprechen, dass die unterschiedlichsten Menschen eines Tages nichts mehr unterscheidet. In erster Linie rechtlich. Immer öfter wird aber mit dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden argumentiert: Das, wovon man ausgeschlossen bleibt, wird als Verneinung der eigenen Person erlebt, als Ablehnung meiner Einzigartigkeit – als würde mir damit die Existenzberechtigung abgesprochen.

So wird Inklusion zum Dogma, und oft ist nicht ersichtlich, wer vom Einschluss wirklich profitiert. Die Hochschulen gehen voran. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat soeben einen Leitfaden für inklusive Sprache zuhanden ihrer Studentinnen und Studenten herausgegeben, in dem «Herr» und «Frau» aus der Anrede verschwinden sollen und «jedermann» zu «alle» wird.

An der Universität Basel wurden vor kurzem genderneutrale WC eingerichtet, oder, wie sie noch etwas inklusiver heissen: «All-Gender-WC». Die Frage, wer diese WC benutzen kann, beantworten die Leiter des Uni-Projekts Diversity and Inclusion auf ihrer Website philosophisch: «Alle sind willkommen, die Toiletten für alle Geschlechter zu benutzen.»

Die Inklusion ist eine paradoxe Folge der Identitätspolitik. Je stärker die Gesellschaft in klar definierte Identitäten fragmentiert wird, desto mehr pochen die Gruppierungen auf ihre Sichtbarkeit und Anerkennung durch Inklusion. Das Kürzel LGBTQIA+ wird aus gutem Grund um das Plus-Zeichen ergänzt. So geht auch keine sexuelle Orientierung oder Identität vergessen. Das Kürzel führt sich selber ad absurdum.

Gendersprache schliesst Leseschwache aus

Angeblich beweist Offenheit und Toleranz, wer für Inklusion kämpft. Laut Studien fühlen sich immer weniger Jugendliche «exklusiv» vom anderen Geschlecht angezogen und outen sich vielmehr als bisexuell. Noch inklusiver, und damit sozial gerechter, lieben die Pansexuellen – ihnen ist völlig egal, ob der andere ein Mann oder eine Frau ist, ob schwul, hetero, trans, nonbinär, asexuell. Inklusion als Fehlen jeder sexuellen Präferenz.

Inklusiv zu handeln, lässt einen sich selbst gut fühlen. Das gilt nicht nur für die Partnerwahl, sondern für jede andere Vorliebe. «Ich bin der inklusivste Hörer aller Zeiten», sagte der DJ und Musikproduzent Steve Aoki dem «Guardian», der ihn zu seinem Musikgeschmack befragte. Indem er von Abba bis ZZ Top jede Band gleich gerne hört, tut er gewiss niemandem weh, aber es tönt auch unglaublich langweilig.

Genauso leicht macht es sich, wer darauf pocht, nirgendwo ausgeschlossen zu werden. Er sieht sich als Opfer, statt die Differenz auszuhalten und sie als Teil einer komplexen Identität zu begreifen. Weil Opferidentitäten aber so mächtig geworden sind, werden geschlechtergetrennte Zonen im öffentlichen Raum aufgehoben und für alle zugänglich gemacht. Nur zeigt sich dabei auch die Grenze des inklusiven Gedankens: Das Bad Utoquai in Zürich musste seine reinen Frauenabteile wieder öffnen, so heftig war der Protest der Frauen.

Die Grenze ist auch da spürbar, und zwar als Paradox, wo die Inklusion der einen Gruppe die andere ausschliesst. Die einfache oder leichte Sprache setzt sich in amtlichen Schreiben immer mehr durch. Damit sollen auch Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung erreicht werden. In Museen werden Bilder mit einfacher Sprache beschriftet, auf manchen Redaktionen liest eine eigens dafür eingestellte Person mit Leseschwäche die Texte vorab, um sprachliche Hürden auszuräumen.

Gerade die Gendersprache ist aber voller solcher Hürden. Schon das Nennen der weiblichen neben der männlichen Form macht einen Text für diese Menschen unlesbar. Der Genderstern ist erst recht ein Stolperstein. Alle mit einzuschliessen, sperrt andere aus.

Wer Nein sagt, anerkennt Unterschiede

Man muss Minderheiten schützen, aber nicht so tun, als wären alle gleich. Das nützt auch den Betroffenen nichts. Das leistungsschwache Kind in der Regelschule merkt, dass es anders ist, und wird darunter erst recht leiden. Firmen schaffen heute Stellen für Menschen mit Handicaps, ohne dass klar definiert ist, was für Aufgaben diese erledigen sollen. Dabei möchte doch auch eine behinderte Person eingestellt werden, weil sie gut ist, und nicht, weil sie behindert ist.

Und manche Frauen ziehen es tatsächlich vor, sich im generischen Maskulin mitgemeint zu fühlen, statt so umständlich und sprachlich unästhetisch angesprochen zu werden.

Der Ökonom und frühere Spitzenschwimmer Alex Miescher schrieb kürzlich in der «NZZ am Sonntag»: Das undifferenzierte Einfordern der Inklusion im Sport kollidiere mit dessen Wesenskern, dem Wettbewerb. Zudem würden Menschen mit Behinderung manchmal im Sport auch unter sich bleiben wollen, und auch er könne weder am Lauberhornrennen teilnehmen noch an den Paralympics: Er sei einfach zu schlecht oder erfülle die Teilnahmebedingungen nicht: «Nein sagen zu dürfen, gehört auch zur Gleichstellung.»

Wer Nein sagt, anerkennt Unterschiede, ohne diese zu bewerten. Individualität wird heute hoch gewichtet, und statt diese als die Berechtigung anzuführen, überall Einlass und Einschluss zu fordern, könnte man sie auch positiv deuten: Ich bin wichtig als die, die ich bin, und gerade deshalb muss ich nicht überall dabei sein. Nicht überall dabei sein zu müssen, gibt einem auch ein Gefühl von Exklusivität.

Die Exklusion kann mir im Guten vor Augen führen, dass ich anders bin. Auch das bedeutet Freiheit. Die Inklusion hingegen verwischt die Differenz, die das Individuum auszeichnet. Aus Angst vor Unterschieden sollen alle gleich sein. Doch Gleichberechtigung heisst noch lange nicht Gleichmacherei.

Lustigerweise hört die "Inklusion" denn auch gerne bei gewissen Gruppen auf, respektive niemand will mit gewissen Gruppen mitgemeint sein,. Als dies nur zum Beispiel wären: Putinversteher, alte weisse Männer, SVPler, Rassisten und Terroristen. Eigentlich müsste es ja auch hier zumindest heissen "Rassisten und Rassistinnen", aber ebenfalls lustigerweise werden bestimmte Wörter gerne im Maskulin belassen, wenn man gegenderte Texte genauer studiert. Als mittelalte Frau, die in ihrer ganzen beruflichen Laufbahn nie aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert worden ist, fühlte ich mich im generischen Maskulinum immer automatisch mit gemeint, in gegenderten Texten muss ich hingegen oft überlegen. Ich empfehle das Buch: Von Menschen und Mensch*innen, 20 gute Gründe, mit dem Gendern aufzuhören. 

K. K.
vor einem Tag

Lasst die Bürger darüber entscheiden, dann ist das Gender-Theater schnell vorbei. Es gibt genügend andere, wichtigere Probleme die zu lösen sind. " Gendersprache ist das Lieblingsbetätigungsfeld unfähiger Parteien und Politiker "

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KOMMENTAR

Wer hat Angst vor 480 verschiedenen Identitäten?

24.07.2020

26. Juli 2022

Wie konnte das geschehen, was wir heute rund um den Krieg in der Ukraine erfahren? Was passierte mit dem russischen Präsidenten Putin, der doch im Jahr 2001 vor dem Deutschen Bundestag eine Rede von friedlicher Einbindung Russlands in ein Gesamteuropa so eindrucksvoll vorbrachte, dass er tosenden Beifall des ganzen Hauses erntete? 

Die NZZ vom 26.7.2022 geht dem Phänomen Putin nach und versucht zu analysieren, wie und wann sich dieser Despot zu dem entwickelte, was er heute ist:

Putins Weg der Radikalisierung
Reuters

Vor 20 Jahren sah es so aus, als ob sich der russische Präsident Putin dem Westen annähern würde. Was geschah dann? Eine Analyse seiner wichtigsten Reden liefert Antworten.

 
Katrin Büchenbacher, Cian Jochem 26.07.2022, 05.30 Uhr 

«Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel», sagt der russische Präsident Wladimir Putin. Es ist der 25. September 2001, wenige Wochen nach den Terroranschlägen des 11. Septembers. Putin spricht vor den über 650 Abgeordneten des Bundestags in Berlin. 

Er fängt auf Russisch an und geht dann in einwandfreies Deutsch über, wickelt sein Politikerpublikum um den Finger, kokettiert, erntet Applaus. Er nennt die Abgeordneten seine «lieben Freunde», spricht davon, die deutsch-russische Partnerschaft zu einem gemeinsamen «europäischen Haus» auszubauen, erklärt: «Der Kalte Krieg ist vorbei.» Seine Rede mündet in minutenlangem Beifall. Der ganze Bundestag hat sich für den knapp 50-jährigen Putin aus den Sesseln gehievt.

Zwei Jahrzehnte später greift Putin die Ukraine an und zerstört die Hoffnungen, die er damals in seiner Rede in Berlin geweckt hatte, endgültig. Statt auf Zusammenarbeit setzt er auf volle Konfrontation mit dem Westen. Wie konnte es so weit kommen?

Putins Reden zur Lage der Nation verraten viel

Hätte man Putin doch bloss über die Jahre besser zugehört, mahnten Russlandkenner nach dem Tag des Angriffs auf die Ukraine. Sie forderten, Diktatoren wie Putin ernster zu nehmen und auch Propagandareden an ein heimisches Publikum genauer zu studieren: Denn sie verraten viel über Haltung, Pläne und Absichten der Machthaber.

Wir haben uns Wladimir Putins wichtigste Reden genauer angeschaut. Einmal jährlich hält der russische Präsident eine umfassende Ansprache zur Lage der Nation vor dem Parlament. In Putins vier Amtszeiten als Präsident von 2000 bis 2008 und von 2012 bis heute hat er insgesamt 17 solcher Reden gehalten. Sie geben die grundsätzliche Richtung der russischen Innen- und Aussenpolitik für die nächsten Jahre und Jahrzehnte vor.

Schon alleine die Häufigkeiten einzelner Begriffe in diesen Reden liefern Hinweise dafür, wie sehr Putin Russland über die Jahre isoliert, sich selbst radikalisiert und das Land unfreier gemacht hat. Die Analyse seiner Reden macht klar, wie rasch und wie stark sich seine politischen Prioritäten verschoben haben. Sie zeigt auf, wie sich Putins Misstrauen gegenüber dem Westen letztlich vollends durchgesetzt hat.

So oft verwendet Putin ein bestimmtes Wort

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter
Die Grafik zeigt die Häufigkeit bestimmter Begriffe in Putins jährlichen Reden zur Lage der Nation als Präsident, mit Unterbrechung von 2008 bis 2012, als Dmitri Medwedew Präsident war. Berechnet haben wir den Wortanteil pro 10 000 Wörter, was einer durchschnittlichen Redelänge entspricht. 

Bis 2004 verwendet Putin das Wort «international» immer häufiger, zeitgleich zu seiner anfänglichen Öffnung. 

2004 ist das Jahr der Nato-Osterweiterung. Im Folgejahr fällt die Frequenz des Begriffs «international» in Putins Reden scharf ab, und sie pendelt sich während seiner dritten und vierten Amtszeit auf vergleichbar tiefem Niveau ein. 

Während Putins erster Amtszeit spricht er von «Terrorismus» häufig im Zusammenhang mit Anschlägen tschetschenischer Separatisten. Nach 2004 wurden die Anschläge seltener. 

Putins Rede zur Lage der Nation im Dezember 2015 steht ganz im Zeichen des «Kampfs gegen den Terrorismus» in Syrien. Je länger die russische Operation in Syrien andauert, desto seltener fällt das Wort «Terrorismus» – diese Legitimationsgrundlage scheint Putin verlorengegangen zu sein. 

In seiner Rede zur Lage der Nation von 2005 betonte Putin die Werte Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Eine Ausnahme. 

Denn danach nahm Putin das Wort «Freiheit» nur noch selten in den Mund. Gleichzeitig nimmt die staatliche Repression in Russland zu. 


Putins versöhnliche Anfänge – alles nur Täuschung?

Putin wird im März 2000 zum Staatspräsidenten gewählt. Drei Monate später hält er seine erste Rede zur Lage der Nation. Darin stellt er seine Vision von einem starken, friedfertigen, integrierten Russland vor: «Stark nicht gegen die internationale Staatengemeinschaft, nicht gegen andere starke Nationen, sondern gemeinsam mit ihnen.»

Bei seiner ersten Kreml-Pressekonferenz als Präsident im Juli 2001 schlägt Putin wie sein Vorgänger Boris Jelzin den Beitritt Russlands zur Nato vor – jener Verteidigungsorganisation, die 1949 gegen die sowjetische Bedrohung gegründet wurde.

Die USA gehen nicht direkt auf Putins Vorschlag ein, doch ein Jahr später wird der Nato-Russland-Rat gegründet. Der damalige amerikanische Präsident George W. Bush hatte Putin im Juni 2001 «in die Augen geblickt» und sagte: «Ich empfand ihn als sehr direkt und vertrauenswürdig. (. . .) Ich konnte ein Gefühl für seine Seele bekommen; ein Mann, der sich seinem Land und den besten Interessen seines Landes zutiefst verpflichtet fühlt.»

Bei Putin klang es damals anders – er sah die warmen Worte Bushs in starkem Kontrast zur Ausdehnung der Nato: «Sie ist eine militärische Organisation. Ja, sie ist militärisch . . . Ja, sie bewegt sich auf unsere Grenze zu. Aber warum?»

Das Bild von Putin als friedfertigem Demokraten, der dem Westen die Hand reicht, war möglicherweise von Anfang an von Wunschdenken geprägt gewesen.


Die nuller Jahre: Putin versinkt in der Furcht vor Einkreisung

Das Bild, dass der Westen Russland umzingeln und destabilisieren wolle, festigt sich im Kreml bereits während Putins erster Amtszeit. Die «Rosenrevolution» in Georgien endet 2003 auch dank dem Beistand Washingtons in einem friedlichen Machtwechsel, doch für Russland stellt die neue, westeuropäisch orientierte Regierung Georgiens einen Affront dar.

Zusammen mit der «orangen Revolution» 2004 in der Ukraine und der «Tulpenrevolution» 2005 in Kirgistan entsteht im Kreml der Eindruck, der Westen säe Unrast in Russlands Umgebung mit dem eigentlichen Ziel, einen Umsturz in Russland herbeizuführen.

2004 treten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei der Nato bei. Fünf Jahre zuvor war bereits der Beitritt Ungarns, Polens und Tschechiens erfolgt. Der Kreml sieht darin einen Versuch, den Einfluss Russlands in seinem Vorhof zu schmälern. Im Kreml ist die Idee eines von Moskau dominierten Machtbereichs noch immer tief verwurzelt. In dieser Weltsicht ist die Auflösung der Sowjetunion eine historische Katastrophe und gehören die Länder des ehemaligen Ostblocks weiterhin zur Einflusssphäre Russlands.

Kurz vor dem Ende von Putins ersten beiden Amtszeiten zeichnet sich ein Wendepunkt ab in Russlands Beziehungen mit dem Westen. Anfang 2007 anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz spricht Putin Klartext – und kritisiert den Westen so offen wie nie zuvor. Die USA strebten die «monopolare Weltherrschaft» an und überstülpten ihre Normen anderen Staaten mit Gewalt, sagt er. Die Nato-Osterweiterung nennt Putin eine Provokation, die das gegenseitige Vertrauen schwäche. Streitkräfte rückten immer näher an die russischen Staatsgrenzen heran, während sich Russland in Zurückhaltung übe, sagt er. Es ist eine Warnung: Bis hierhin und keinen Schritt weiter.

Die Abwendung Russlands vom Westen ist auch in Putins Reden zur Lage der Nation ersichtlich: Das Wort «international» ist bis 2006 verhältnismässig stark präsent, bis zu 24 Mal verwendet er es pro Rede. Nach der Rückkehr Putins in den Kreml im Jahr 2012 schwindet es nach und nach aus seinem Wortschatz.

«International»

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter
 

Putins Veränderung ist auch im Westen spürbar. Seine Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz schockiert. Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer fragt: Wie könne man sich denn sorgen, «wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die Grenzen rücken?»

Das Verhältnis zur Nato wird frostig

Beim Nato-Gipfel im April 2008 drängen die USA dazu, der Ukraine und Georgien den Status von Beitrittskandidaten zu geben. Frankreich und Deutschland sind dagegen. Das Communiqué ist schliesslich ein Kompromiss: Die Ukraine und Georgien würden eines Tages Mitglieder der Nato werden, lautet die vage Formulierung. Aus Moskauer Sicht ist damit aber eine rote Linie überschritten. Die russische Politik setzt sich fortan zum Ziel, einen Beitritt sowohl Georgiens wie auch der Ukraine zur Nato zu verunmöglichen.

Gegenüber Georgien gelingt dies dem Kreml bereits im Sommer 2008. Inzwischen war Dmitri Medwedew Präsident und Putin sein Ministerpräsident. Unter dem Vorwand, in der Region Südossetien sei ein Genozid im Gange und die Bevölkerung Abchasiens sei Gewaltakten ausgesetzt, marschiert die russische Armee in Georgien ein. Zuvor hatte die russische Regierung in den beiden Regionen bereits Pässe verteilt und «Friedenstruppen» stationiert mit der Begründung, russische Bürger schützen zu müssen.

Der Krieg endet nach nur fünf Tagen mit einem Sieg für Russland, das Südossetien und Abchasien zu unabhängigen Staaten erklärt. International gelten sie weiterhin als Teil Georgiens.

Im Dezember 2011, kurz bevor Putin erneut zum Präsidenten gewählt wird, brechen Proteste aus in russischen Städten wegen Wahlbetrugs bei den Parlamentswahlen. Doch die Menschen gehen auch wegen des Zynismus auf die Strasse, mit dem Putin in einem Ämtertausch mit Medwedew seine Rückkehr in den Kreml eingefädelt hat. Medwedew war trotz seinen Schwächen ein Hoffnungsträger für die städtischen Eliten.

Die russische Regierung lässt die Proteste brutal niederschlagen. Dass die Repressalien unter Putin in den kommenden zwei Amtszeiten zunehmen und die Freiheit schwindet, zeigt auch die Analyse seiner Reden. Immer seltener nimmt er die Wörter «frei» oder «Freiheit» in den Mund – in den vergangenen Jahren zwei Jahren gar nicht mehr.

«Frei»/«Freiheit»

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

Der endgültige Wendepunkt: die Krim-Krise 2014

In der Ukraine versucht Moskau zunächst, den Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu kontrollieren und von einer Annäherung an den Westen abzuhalten. Trotzdem will Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen, zieht sich davon aber überraschend zurück, nachdem Putin ihn mit einem Gas-Lieferstopp erpresst hat. Die folgenden Proteste auf dem Maidan enden blutig und mit der Flucht Janukowitschs.

Dass amerikanische Diplomaten sich auf dem Maidan zeigten, wird in Moskau als Verschwörung gegen Russland gedeutet. Der Kreml verbreitet zudem das Gerücht, dass Nato-Schiffe kurz davor stünden, in Sewastopol und anderen Häfen am Schwarzen Meer anzudocken.

Auf der Halbinsel Krim gibt es Kritik an den Maidan-Protesten. Russland nutzt die Anti-Kiew-Stimmung dort aus, dringt mit seinen Soldaten ein und lässt eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit durchführen. Daraufhin bittet die Krim um Anschluss an Russland. In der Folge steigen die Zustimmungsraten für Putin in Russland.

Die Annexion der Krim liess die Zustimmungsraten für Putin steigen

Zustimmungsraten in Prozent
 
Zustimmung
 
Ablehnung
 
Keine Angabe
2000202202040608012
1
Annexion der Krim
2
Russischer Angriff auf die Ukraine

Im Donbass hat Russland die Unzufriedenheit mit Kiew bereits über Jahre genährt, so dass Separatistengruppen entstanden sind. Russland unterstützt sie nach 2014 auch militärisch in der Konfrontation mit Kiew, um die Ukraine permanent zu destabilisieren. Dies dient nicht zuletzt dem Ziel, die Ukraine auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft zu behindern.

Putins Rede zur Lage der Nation im Jahr 2014 macht deutlich, wie tief das Misstrauen und der Groll gegenüber dem Westen mittlerweile sitzen. Das Ziel der USA sei, durch Unterstützung von Separatismus und mit dem «Export von Revolutionen» Russland wie Ex-Jugoslawien «zerfallen und zerstückelt» zu sehen, sagt er.


Putin stärkt Russlands Position gegenüber den USA

Im Jahr 2015 füllt Russland die Lücke, welche die USA im Nahen Osten hinterlassen haben. Putin verlegt Truppen nach Syrien, um das Asad-Regime zu retten. Zu Hause beschreibt er den Einsatz als Kampf gegen den Terrorismus.

Es ist eine Erzählung, die Putin während seiner ersten Amtszeit vor allem in Verbindung mit Anschlägen von tschetschenischen Separatisten verwendet hatte. Nach dem Höhepunkt von 2015 spricht er aber in seinen jährlichen Ansprachen kaum noch vom Kampf gegen den Terrorismus. Diese Legitimationsgrundlage für seinen Militäreinsatz in Syrien ist ihm mit schwindender Bedrohung durch die Terrororganisation Islamischer Staat abhandengekommen.

«Terrorismus»

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

Das wahre politische Ziel der russischen Regierung ist es ohnehin, sich aus der internationalen Isolation nach der Krim-Annexion zu befreien und ihre Handlungsposition zu verbessern – der Militäreinsatz in Syrien soll die eigene Bedeutung gegenüber den USA stärken und deren Rolle in der Region schwächen.

2016 kommt in den USA der Populist Donald Trump an die Macht. Unter ihm leiden die Beziehungen der USA zu ihren traditionellen Verbündeten. Europa steckt in der Flüchtlingskrise. Der Westen befindet sich im Niedergang, so deutet man die Ereignisse im Kreml.


Putins Militär-Rhetorik spitzt sich zu

Die Krisen im Westen förderten Putins Selbstvertrauen. Also demonstriert er Stärke. Seine Rede zur Lage der Nation von 2018 ist so aggressiv und antiwestlich wie keine zuvor.

Es ist nicht die erste Rede, in der militärische Begriffe auffallend oft vorkommen. Die Analyse zeigt, dass bereits im Jahr 2006 besonders häufig Wörter fallen wie «Militär», «Raketen», «bewaffnet», «Waffe», «nuklear» und «Verteidigung». Doch der Kontext dieser Begriffe hat sich radikal verändert. Am Beispiel des Begriffs «nuklear» lässt sich das gut zeigen.

Wörter mit militärischem Zusammenhang häufen sich in den Jahren 2006 und 2018

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

In seiner Ansprache von 2006 verwendet Putin das Wort «nuklear» in drei verschiedenen Kontexten. Putin spricht zunächst von der Kernenergie als vielversprechendem Sektor. Er fordert etwa: «Wir müssen Massnahmen zur Entwicklung von Kernenergie ergreifen.» Dann kommen Atomwaffen im Kontext von Terrorismus und Abrüstung ins Spiel. Zuletzt betont er die Wichtigkeit einer modernen russischen Armee inklusive nuklearer Streitkräfte, deren Entwicklung aber nicht zulasten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gehen dürfe.

In Putins Ansprache von 2018 hingegen entfällt der Kontext der Kernenergie und der Abrüstung komplett. Nun zeichnet Putin von Anfang an ein Feind- und Bedrohungsbild der USA und der Nato, die Russland keine andere Wahl liessen, als aufzurüsten – auch atomar. «Die Vereinigten Staaten bauen ein globales Raketenabwehrsystem auf», sagt er und warnt: «Wenn wir nichts unternehmen, wird das russische Atomwaffenpotenzial letztlich wertlos.»

Danach stellt Putin die neusten Atomwaffen der russischen Armee vor und führt die Technologie seinem Publikum auch gleich im Videoformat vor.

Putin schliesst mit einer Warnung an den Westen: «Jeder Einsatz von Atomwaffen gegen Russland oder seine Verbündeten (. . .) wird als nuklearer Angriff gegen dieses Land betrachtet. Die Vergeltung wird sofort erfolgen, mit allen damit verbundenen Konsequenzen.»


Alles gipfelt im Krieg

Der 2020 gewählte amerikanische Präsident Joe Biden wird im Kreml als alt und schwach wahrgenommen. Biden stellt Putin offen als Mörder hin, fordert, er müsse weg.

Der Sturm auf das Capitol in den USA 2021 und der chaotische Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan bestärken den Eindruck Putins, dass der Einfluss des Westens schrumpfe. Zudem erinnert er sich zweifellos daran, dass es weder bei der russischen Anerkennung der georgischen Gebiete 2008 noch bei der Annexion der Krim 2014 zu drastischen Reaktionen des Westens gekommen war.

Ein rascher militärischer Gewinn in der Ukraine, so wie bei Georgien oder der Krim, dürfte Putin attraktiv erscheinen. Seine Zustimmungswerte sind geringer als früher, zu Beginn der Pandemie fallen sie sogar für kurze Zeit unter 60 Prozent.

Zudem befindet sich Russlands Wirtschaft seit knapp zehn Jahren in einer Phase der Stagnation. Dabei hatte alles so gut angefangen. Nach Putins Wahl zum Präsidenten im Jahr 2000 sorgte er dafür, dass Renten und Löhne pünktlich ausbezahlt werden, reformierte das Steuersystem, die Wirtschaft wuchs konstant um etwa 7 Prozent. Auch im Ausland erntete Russland dafür Anerkennung. Der Staat zahlte seine Schulden zurück und baute die dritthöchsten Währungsreserven der Welt auf.

Die Weltfinanzkrise von 2008 und 2009 aber offenbarte die Schwächen der russischen Wirtschaftspolitik, die einseitig auf Exporte von Öl und Gas und staatliche Lenkung aufgebaut ist. Das Wirtschaftswachstum brach ein. Putin ist es nicht mehr gelungen, das Ruder herumzureissen. Mit der Wirtschaftspolitik kann er also sein Vermächtnis nicht stärken.

Das zeigt sich auch in seinen Reden. Noch 2003 hatte er versprochen, in nicht allzu ferner Zukunft werde Russland seinen anerkannten Platz unter den wirtschaftlich fortgeschrittenen Nationen einnehmen. Doch dann spricht er in seinen jährlichen Reden zur Lage der Nation immer seltener von der Wirtschaft. Die Begriffe «ökonomisch» und «Unternehmen» nehmen einen immer geringeren Anteil ein. Besonders frappant ist der Abfall nach der russischen Wirtschaftskrise von 2015.


Sein Vermächtnis und die Stellung Russlands in der Welt glaubt Putin aber mit einem Eroberungskrieg stärken zu können. Er erhofft sich davon seinen Machterhalt und einen patriotischen Schub, der das Land hinter ihm eint. Das hat er erreicht. Erst seit dem Ukraine-Krieg haben seine Zustimmungsraten wieder Werte von über 80 Prozent erreicht wie zu Beginn seiner Präsidentschaft und nach der Annexion der Krim.

Mehr zur Methodik

So haben wir Putins Reden ausgewertet

Der Kreml stellt Putins Reden zur Lage der Nation in englischer Übersetzung auf seiner Website zur Verfügung. Putin hielt insgesamt 17 solcher Ansprachen in seinen vier Amtszeiten von 2000 bis 2021. Zwei Unterbrüche gibt es, und zwar in den Jahren 2008 bis 2012, als Dmitri Medwedew Präsident war, und im Jahr 2017. Ab dann hielt Putin seine Ansprachen zur Lage der Nation nicht mehr im Dezember, sondern im Frühjahr.

Im Rahmen der vorliegenden Analyse wurde mit einem Computerprogramm ausgezählt, wie oft Putin bestimmte Begriffe pro Rede verwendete. Für den Jahresvergleich haben wir anschliessend die Anzahl Nennungen pro 10 000 Wörter berechnet. Letzteres entspricht einer durchschnittlichen Redelänge. 

 
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Leider ist es eine Tatsache, dass nach dem kriegerischen Einfall Russlands in die Ukraine unter der Ägide Putins es immer noch - nach allem was an Scheusslichkeiten von russischer Seite geschehen ist - Putin-Versteher und -Anhänger gibt. Auch bei uns ind er Schweiz. Offenbar auch in der WELTWOCHE. 

Und Henrik M. Broder zieht nun die Konsequenzen und verabschiedet sich von der WELTWOCHE! Da kann ich nur noch sagen: Endlich, es war wirklich an der Zeit!

Henryk M. Broder will nicht mehr für die «Weltwoche» schreiben. Bei «Putinisten» ist seine Schmerzgrenze erreicht

NZZ vom 1. Juli 2022

Der deutsche Publizist pflegt die Provokation und schätzt einen breiten Meinungskorridor. Aber beim Schweizer Wochenmagazin wird’s auch ihm zu abstrus. In der «Weltwoche» veröffentlicht er sein Kündigungsschreiben und distanziert sich von den Russlandverstehern. 

Andreas Scheiner30.06.2022, 15.57 Uhr

Henryk M. Broder während eines Podiumsgesprächs im Gebäude der NZZ in Zürich im Mai 2021.

Joël Hunn / NZZ

Viele Leute haben für die «Weltwoche» geschrieben, viele Leute wollen es nie mehr tun. Neu im Klub ist Henryk M. Broder. Der deutsche Publizist hat laut der Schweizer Mediendatenbank seit den späten neunziger Jahren gut 700 Artikel für die streitlustige Schweizer Wochenzeitschrift geschrieben. In Zukunft will er es unterlassen.

Das ist auch deshalb eine Nachricht wert, weil es sich der 75-Jährige auf seinem Blog «Die Achse des Guten» zur Aufgabe gemacht hat, gegen den Mainstream anzuschreiben und das Meinungsspektrum in Deutschland zu erweitern. In Artikeln der «Welt» pflegt er ebenso die Kunst der höheren Provokation. Umso bemerkenswerter ist, dass für Broder die Schmerzgrenze bei der «Weltwoche» erreicht ist. Was hat ihn getriggert? So einfach wie verständlich: Roger Köppels Russophilie.

Die «Weltwoche» pflegt gerne das Gegenteil dessen zu schreiben, was in andern Medien gefühlt oder tatsächlich steht. Es ist ein publizistisches Konzept, das mal mehr, mal weniger gut funktioniert. Im Ukraine-Krieg funktioniert es schlecht. Das sagt der gesunde Menschenverstand, und das sagt Broder.

Broder braucht nun allerdings etwas länger, um es zu sagen. Der Hinweis «Lesedauer: 9 Minuten» liest sich fast wie eine Warnung über dem Artikel auf «Welt Online», in dem sich der Autor erklärt. Das Kündigungsschreiben (das zuvor in der «Weltwoche» erstveröffentlicht wurde, so viel Sportgeist hat Köppel) ist aber durchaus erhellend. Wobei es gar nicht in erster Linie die «Weltwoche» ins Visier nimmt. Broder und Köppel kennen sich lange, eine persönliche Abrechnung sollte es offenbar nicht werden. Statt am Schweizer Journalisten und SVP-Nationalrat, der am 24. Februar Wladimir Putins Konterfei auf die Titelseite setzte – Schlagzeile: «Der Missverstandene» –, arbeitet sich Broder an den deutschen Russlandverstehern ab.

Der russische Vater überlebte das KZ

Broder holt aus. Er beginnt ungefähr beim Auszug der Juden aus Ägypten. Über «Vorgeschichten» nämlich will er reden. Oder nicht reden. Denn das Argument der «Putinisten», wonach auch der Krieg in der Ukraine eine «Vorgeschichte» habe . . . Dieser Platte ist Broder überdrüssig. Geschichte sei nun einmal «ein Irrgarten, aber eben auch ein ‹Kontinuum›, und zu allem, was heute passiert, gibt es ein Gestern und ein Vorgestern», schreibt der Mann aus der jüdischen Handwerkerfamilie aus Katowice, Polen. Seiner Mutter gelang die Flucht aus Auschwitz; der aus Russland stammende Vater überlebte das KZ Buchenwald. 

Broder zitiert aus unangenehmen, zum Teil auch antisemitischen Zuschriften, die er von Russlandverstehern bekommt. Er beschreibt es als ein Konvolut des Schreckens. Ein Leser habe ihm geschrieben, ob seine «emotionalen Ausfälle» etwas mit der Idee zu tun hätten, die «Schtedels wieder aufleben zu lassen im demnächst polnisch-dominierten W(R)estukraine-Raum». Ein anderer Leser hat «Fragen an den Juden Herrn Broder». Ob er erst Ruhe geben werde, wenn alle Deutschen ihr Leben lang zu Kreuze kriechen würden.

Köppel muss es zu denken geben

Die Verbrechen der Russen in der Ukraine, schliesst Broder, hätten offenbar «die ‹Erinnerung› an die Untaten der Nazis aktiviert. Haben unsere Jungs auch so etwas gemacht? Der Opa, der Vater, der Onkel, der Stiefbruder, der an die Ostfront abkommandiert wurde?» Die Bilder aus der Ukraine provozierten bei manchen Deutschen ein Déjà-vu-Erlebnis. Denn Erinnerung sei ein Fluch, der vererbt werde: «Menschen ‹erinnern› sich auch an Erlebnisse, die sie nicht gehabt haben.»

Broder vermutet einen Zusammenhang zwischen dem «proaktiven Geständniszwang – man habe mit dem Holocaust nichts zu tun, man wolle nicht das ganze Leben lang zu Kreuze kriechen» und der gegenwärtigen Haltung «Dieser Krieg sei nicht unser Krieg, wir sollten uns raushalten». Ein interessanter Gedanke, Broder sollte ihn weiter ausführen.

In der «Weltwoche» wird man von Broder aber nicht mehr lesen. Hier kämen Putinversteher zu Wort, «die Russlands verlorene Ehre wiederherstellen wollen». Wegen solcher Beiträge beende er nun seine Mitarbeit bei der Zeitschrift, schreibt er. «Schade, aber es geht nicht anders. Klarheit vor Einheit!» Roger Köppel muss es zu denken geben, dass die Meinungsfreiheit auch für einen Henryk M. Broder ins Unerträgliche überstrapaziert wurde.

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6. Mai 2022 

Gibt es so etwas wie eine "Mentalität" in den verschiedenen Armeen? Oder anders gefragt: welche Moral- und Ethikvorstellungen gelten in den verschiedenen Armeen? Wenn man zum Beispiel Schilderungen in der Ukraine hört, die von grässlichen Greueltaten russischer Soldaten an der Zivilbevölkerung berichteten, dann muss man davon ausgehen, dass in der russischen Armee entweder keine oder dann nicht zu überprüfende Verhaltensregeln (entsprechend dem Völkerrecht) bestehen. Die NZZ von heute geht dieser Thematik nach: 

NZZ vom 6. Mai 2022

Die russischen Soldaten plündern in der Ukraine, und die Militärführung schaut tatenlos zu

Marodierende Truppen führen schnell einmal zu einem maroden Heer. Ausserdem untersagt das Kriegsvölkerrecht Plünderungen. Trotzdem werden sie immer wieder toleriert. 

Herfried Münkler06.05.2022, 05.30 Uhr

 

In einem Dorf westlich von Kiew haben sich russische Soldaten in einem Haus breit gemacht und ein V-Zeichen hinterlassen (Aufnahme vom 15. April 2022).

David Guttenfelder / NYT / Redux / laif

 

Die Bilder, die wir vom Kriegsgeschehen in der Ukraine und von einer nicht unmittelbar mit Kampfhandlungen verbundenen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu sehen bekommen, irritieren die am Kriegsvölkerrecht orientierten Europäer. Das gilt vor allem für die in Butscha und andernorts ermordeten Zivilisten, aber auch für das hemmungslose Plündern durch russische Soldaten in den verlassenen Wohnungen geflüchteter Ukrainer. Die Bilder zeigen, wie von russischen Soldaten alles zusammengerafft wird, was von einigem Wert und in den Herkunftsgebieten der russischen Soldaten offenbar Mangelware ist. 

 

Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie grosse Pakete mit geplünderten Gegenständen zum Versand aufgegeben werden, ohne dass die russische Militärpolizei dagegen einschreitet. Das spricht dafür, dass die Plünderungen von oben geduldet werden. Man kann dies als schwere Verstösse gegen die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen thematisieren, vor allem aber handelt es sich um aufschlussreiche Hinweise auf den Zustand des russischen Militärs und von Teilen der russischen Gesellschaft. Für die Ukraine heisst das: Je besser man seinen Gegner kennt, desto eher ist man ihm gewachsen.

 

Zunächst sollte man freilich dafür Sorge tragen, nicht in das nach 1945 vorherrschende Narrativ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu verfallen, laut dem «der Iwan gerne plündert», was unter der Hand die Botschaft lancieren sollte, die deutschen Soldaten hätten dies nicht getan. Tatsächlich haben auch sie geplündert. Dass beim Feldzug im Westen die deutsche Militärjustiz das zu unterbinden versuchte, hatte vermutlich weniger damit zu tun, dass es gegen das Kriegsvölkerrecht verstiess, als vielmehr damit, dass es die Disziplin der Truppe untergrub und die Geschwindigkeit des Vormarschs gefährdete: Marodierende Soldaten sind mit anderem beschäftigt, als die gegnerische Front zu durchbrechen und in die Tiefe des Raumes vorzustossen. Mit marodierendem Militär, mit plündernden und vergewaltigenden Soldaten lassen sich nun einmal keine Kesselschlachten schlagen.

 

Zur Stärkung der Motivation

 

Seit je hat deswegen eher die Sorge um die Effektivität der Soldaten als der Respekt vor dem Kriegsvölkerrecht dafür gesorgt, dass die Militärführung gegen Plünderer und Vergewaltiger vorging. Man wusste nur zu gut, dass aus marodierenden Soldaten sehr schnell ein marodes Militär wurde, eines jedenfalls, das für die Kriegführung nach den Vorgaben der Niederwerfungsstrategie nicht brauchbar war.

 

Etwas anders stellt sich das beim Abnutzungskrieg dar, in dem es darum geht, in einem auf lange Zeitstrecken angelegten Material- und Soldatenverbrauch den Gegner zu erschöpfen. Im Allgemeinen wird hier weniger scharf gegen Plünderungen vorgegangen, weil diese die Einsatzfähigkeit der Soldaten auch weniger infrage stellen. Unter Umständen kann hier die Aussicht auf Beute sogar ein Ansporn zu erhöhter Kampfbereitschaft sein. Dafür gibt es viele Beispiele, vor allem im Belagerungskrieg. Und eine ähnliche Art von Krieg wird ja derzeit in der Ukraine geführt. 

 

Das mag einer der Gründe sein, weshalb die russische Militärführung dem Beutemachen ihrer Soldaten tatenlos zusieht. Ein anderer Grund dafür könnte sein, dass die russische Führung infolge erheblicher logistischer Mängel ihre Soldaten nur schlecht versorgen kann und deswegen die Plünderungen hinnimmt. Und ein dritter Grund schliesslich mag darin bestehen, dass sie mit der Lizenz zum Beutemachen den Kampfeswillen ihrer offensichtlich nicht besonders motivierten Soldaten heben will. Das jedenfalls sind alternative Erklärungen zum Verdikt von der notorischen Unzivilisiertheit des russischen Militärs. Was freilich nicht heisst, dass Zivilitätsdefizite beim russischen Agieren in der Ukraine keine Rolle spielten.

 

Zur Geschichte des Krieges gehört immer auch die Frage nach den Motiven zum Krieg. In der Frühzeit des Krieges ging es vor allem ums Beutemachen, nicht ums Erobern und um die Inbesitznahme, sondern um die Aneignung von Hab und Gut anderer, Frauen und Kinder inbegriffen. In Homers «Ilias» ist das Beutemotiv durch das der Rache für die entführte Helena verdeckt, aber es lugt unter dem Zentralmotiv des Krieges doch immer hervor, etwa wenn Achill in einen Kampfstreik tritt, weil ihm die als Kriegsbeute zugeteilte Frau von Agamemnon, dem Anführer des Kriegszugs, wieder abgenommen worden ist. Offiziell geht es dabei um eine Frage der Ehre, aber Ehre ist hier nur eine sublimierte Form von Beute.

 

Die Nachteile des Plünderns

 

Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Beute, die ein Krieger unmittelbar macht, etwa wenn er den im Kampf erschlagenen Gegner seiner Waffen und seiner Kleidung beraubt und nur seinen nackten Körper zurücklässt. Die Beute wird dabei zur Trophäe. Anders ist das bei einem Beutesystem, in dem alles, was man der Gegenseite abgenommen hat, erst einmal dem Anführer des Kriegszugs gehört, der es dann an seine Krieger verteilt. Hier ist die Beuteverteilung ein Mittel der sozialen Integration, aber auch der Hierarchiebildung im Kriegerverband – eine Funktion, die später von Rangabzeichen und Orden übernommen worden ist. Beute bildet Gefolgschaft, und wo es keine Beute gibt, zerfällt ein Gefolgschaftsverband. In diesem Sinn waren die Kriegerverbände früherer Zeiten vor allem Beutegemeinschaften.

 

Mit der Zeit begriff man indes die Nachteile der Beutefixierung: Der mit dem Plündern der Erschlagenen verbundene Disziplinverlust konnte für den Fortgang des Kampfes verheerende Folgen haben. So manche Schlacht ging für die zunächst Siegreichen doch noch verloren, weil sie sich über die Leiber der Getöteten hermachten und diese ausplünderten, anstatt den Kampf fortzusetzen, oder weil ihnen die Bagage der Gegenseite in die Hände gefallen war und sie mit dem Einsammeln von Beutegut – oder auch nur einer kräftigen Mahlzeit, die ihnen das Nachschublager des Gegners bot – beschäftigt waren. So konnten sich die schon fast Besiegten wieder sammeln, zum Gegenangriff übergehen und doch noch siegen. 

 

Als einer der Gründe für das Steckenbleiben der zunächst erfolgreichen deutschen Frühjahrsoffensive im Jahre 1918 ist genannt worden, dass die ausgehungerten deutschen Soldaten, als sie die prall gefüllten Nachschublager der Entente erreicht hatten, sich erst einmal satt assen und kräftig dem geplünderten Alkohol zusprachen, statt weiter vorzustossen, bevor der Gegner Reserven heranführen konnte. Das Zurücklassen von Beutegut kann insofern auch eine Taktik sein, durch die der Vorstoss der Angreifer entschleunigt werden soll; man nimmt ihm den Angriffsschwung, indem man ihm die Gelegenheit zum Plündern bietet. Es ist nicht auszuschliessen, dass jetzt auch die Ukrainer auf diese Taktik gesetzt haben. Sie ist funktional das Gegenteil einer Strategie der «verbrannten Erde».

 

Wie bei Räuberbanden

 

Wer auf die gegnerische Taktik, aus Soldaten Marodeure zu machen, nicht hereinfallen will, braucht eine überaus disziplinierte Truppe. Die Durchsetzung von Disziplin hat freilich logistische Voraussetzungen. Disziplin lässt sich nur aufrechterhalten, wenn zuverlässig für Besoldung und Ernährung der Soldaten gesorgt ist. Wo das nicht der Fall ist, ist regelmässig ein Rückfall ins Marodeurentum zu beobachten, das dann von den Kommandanten auch durch die Androhung strenger Strafen nicht verhindert werden kann.

 

Bei irregulären Kämpfern, die, um beweglich zu bleiben, zum Aufbau einer zuverlässigen Logistik nicht in der Lage sind, ist Plündern die Regel, weswegen ihre Handlungen häufig von denen grosser Räuberbanden nicht zu unterscheiden sind. Fast alle Theoretiker des Partisanenkrieges, von Mao über Castro zu Che Guevara, haben sich mit diesem Problem herumgeschlagen. Eine wirkliche Lösung haben sie nicht gefunden, denn der Aufbau von Versorgungslagern beeinträchtigt die Beweglichkeit der Kämpfer und verringert ihre Zahl, weil viele gebraucht werden, um Versorgungseinheiten aufzubauen.

 

Dass das russische Militär, um auf den Krieg in der Ukraine zurückzukommen, Probleme mit der Logistik hat, ist nicht neu. Einige westliche Beobachter haben unter anderem deswegen mit einem Angriff Ende Februar nicht gerechnet, weil noch kein breites Versorgungs- und Sanitätssystem im russischen Truppenaufbau an der Grenze zur Ukraine erkennbar war. Insofern könnte das exzessive Plündern russischer Soldaten vor allem eine Reaktion auf ihre miserable Versorgung sein. Ein weiteres Mal gilt der Satz: Die Laien reden über Strategie und Taktik, die Experten dagegen befassen sich mit Logistik.

 

Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik der Humboldt-Universität zu Berlin.

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8. April 2022

Gleiche Rechte - gleiche Pflichten - für Männer und Frauen! In den letzten Jahren hat sich vieles bezüglich der Gleichwertigkeit von Frau und Mann getan. Zu recht! Aber bezüglich der nationalen "Pflichten" ist es - jedenfalls aus meiner Sicht - noch nicht so ganz zu Gleichwertigkeit gekommen. Warum gibt es bei uns in der Schweiz nicht auch eine "Dienstpflicht", auf welche Art auch immer und unter Berücksichtigung von Schwangerschaft, Geburt und Kinderbetreuung? 

Der folgende Artikel der heutigen NZZ geht auf dieses Thema ein und bildet m.E. eine gute Grundlage für weitere Diskussionen

NZZ vom 8. April 2022, Meinung:

KOMMENTAR

Es ist Zeit für eine Dienstpflicht für alle

Die Mitverantwortung ist die Steigerung der Eigenverantwortung. Darauf beruht das Milizprinzip als Kernholz der schweizerischen Widerstandskraft – von Frauen und Männern. Es braucht jetzt den Mut zur vollen Gleichberechtigung bei Armee und Zivilschutz. 

Georg Häsler, Bern45 Kommentare08.04.2022, 05.30 Uhr

Die Schweiz kann sich auf Bürgerinnen und Bürger in Uniform verlassen, egal, ob im Tarnmuster oder uni im Zivilschutz.

Christian Beutler / Keystone

Auf den Krieg in der Ukraine folgt nicht der Frieden. Vielleicht enden die Angriffe der russischen Armee mit einem Waffenstillstand, vielleicht mit einem russischen Pyrrhussieg. Aber die Leichtigkeit des Seins ist auch in Westeuropa vorbei. Die Krise wird nach der Pandemie zum Dauerzustand. Solange der Geheimdienstzirkel um Präsident Wladimir Putin im Kreml an der Macht ist, bleibt die freie Welt, zu der auch die Schweiz gehört, im Konflikt mit Russland.

Dieser uneindeutige Krieg hat schon längst begonnen: Er zielt auf die Spaltung der freiheitlichen offenen Gesellschaften des Westens ab. Ruhen in der Ukraine die Waffen, wird der Kreml seinen Kampf gegen den Westen verstärken. Die ukrainischen Flüchtlinge, die europäische Abhängigkeit von russischem Billiggas und die drohende Rezession wird der Kreml gnadenlos als Waffen gegen den Westen einsetzen.

Die Schweiz ist gezwungen, ihre Aussen- und Sicherheitspolitik neu zu ordnen. Hinter der Frage über den richtigen Schweizer Standpunkt und die Neutralität in einem Europa, wo Krieg wieder als Mittel der Politik genutzt wird, muss ein weiterer Pfeiler des Staatswesens der Realität des 21. Jahrhunderts angepasst werden: das Milizprinzip.

Neue Modelle für die Dienstpflicht des 21. Jahrhunderts

Anfang März, übertönt vom Lärm der russischen Offensive in der Ukraine, hat der Bundesrat einen Bericht des Verteidigungsdepartements (VBS) über neue Modelle der Dienstpflicht publiziert. Im Kern geht es darum, die Alimentierung von Armee und Zivilschutz sicherzustellen. Die personellen Bestände dieser beiden Instrumente des schweizerischen Sicherheitssystems sind akut gefährdet.

Der Bundesrat sieht das Problem, geht es aber zu langsam und zu vorsichtig an. Für eine Dienstpflicht des 21. Jahrhunderts will die Landesregierung zwei Modelle vertieft prüfen:

  • Die Sicherheitsdienstpflicht: Der Zivilschutz und der Zivildienst werden zu einem Katastrophenschutz zusammengelegt. Es bleiben nur die Männer dienstpflichtig. Sie leisten entweder Militär- oder Katastrophendienst.
  • Die bedarfsorientierte Dienstpflicht: Neu werden auch die Frauen dienstpflichtig. Armee und Zivilschutz wählen aus den Stellungspflichtigen aus, bis die geforderten Bestände mit geeigneten Leuten erreicht sind. Der Zivildienst als Alternative bleibt bestehen.

Verworfen wurde unter anderem ein Bürgerinnen- und Bürgerdienst, der vorsieht, dass alle einen Einsatz für die Gesellschaft leisten. Armee und Zivilschutz brauchten gar nicht so viel Personal, lautet der Grund, den der Bundesrat gegen diesen «service citoyen» anführt. Dafür müssten neue Aufgaben erschlossen werden, damit alle beschäftigt wären. Der Fokus der Dienstpflicht soll für die Landesregierung auf der Sicherheit bleiben.

Wehrpflicht nur für Männer ist nicht mehr zeitgemäss

Dieser Ansatz ist richtig, geht aber davon aus, dass die Armee personell nicht wieder ausgebaut werden muss. Dies ist je nach Lageentwicklung durchaus möglich. Die Armee wurde seit 1995 von 800 000 Soldaten auf 140 000 reduziert. Es besteht zwar im Gegensatz zu anderen Ländern Westeuropas noch ein militärisches Gesamtsystem. Dieses ist aber aufs absolute Minimum beschränkt.

Der Bericht des Bundesrates über die Dienstpflichtmodelle stammt, wie so vieles, noch aus der Zeit nach dem Kalten Krieg – oder treffender: den letzten Tagen der Vorkriegszeit. Von den beiden Varianten ist die «bedarfsorientierte Dienstpflicht», also der gleichberechtigte Einbezug der Frauen, der «Sicherheitsdienstpflicht» nur für Männer vorzuziehen.

Dies ist in erster Linie aus politischen Gründen so: Die Schweizer Milizarmee kann seit dem 19. Jahrhundert als die Demokratisierung des Gewaltmonopols verstanden werden. Die mündigen Bürger in Uniform schützen mit der Waffe das freiheitliche Staatswesen. Doch die Bürgerinnen sind noch immer nicht wirklich mitgemeint.

Es hat zu lange gedauert, bis 1971 auch die Frauen Teil des eidgenössischen Souveräns geworden sind. Es ist deshalb an der Zeit, die Gleichberechtigung auch auf die Dienstpflicht auszuweiten. Bürgerinnen in Uniform sollten schon längst eine Selbstverständlichkeit sein. Die Armee braucht die Frauen, um die gesamte Schwarmintelligenz der Schweiz zu nutzen.

Miliz bedeutet auch Professionalität

Denn auch darum geht es beim Milizprinzip: Der Bund mobilisiert nicht nur Personal als Helfer oder potenzielles Kanonenfutter. Die Armee und der Zivilschutz profitieren von der zivilen Bildung und den beruflichen Erfahrungen der Angehörigen von Armee und Zivilschutz. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit zum kritischen Mitdenken dieser Bürgerinnen und Bürger in Uniform.

Miliz ist nicht das Gegenteil von professionell. Das Berufspersonal von Armee und Zivilschutz sorgt für eine hervorragende Ausbildung, die auch auf internationaler Ebene mehr als nur mithalten kann. Die taktischen und technischen Kenntnisse der Milizoffiziere haben ein hohes Niveau. Dies zeigen etwa Kontakte im Rahmen der Nato-Partnerschaft für den Frieden.

Auch die Soldatinnen und Soldaten, die heute mehr oder weniger freiwillig Dienst leisten, erbringen bemerkenswerte Leistungen. Dies hat etwa der Einsatz während der Pandemie gezeigt: Nicht nur die Sanität, sondern auch die Infanterie vermochte die zivilen Leistungsbezüger zu überzeugen.

So gingen der Genfer Gendarmerie entlang der geschlossenen Grenzen einige dicke Fische aus den Strukturen der organisierten Kriminalität der französischen Grossstadt Lyon ins Netz – vor allem dank dem Auftreten der mit Sturmgewehren bewaffneten Infanteristen des Durchdienerbataillons.

Die Schweiz als Durcheinandertal

Die Armee und vor allem die Offiziere sind in der Pflicht, dass der Dienst in jedem Fall und für alle Stufen als sinnvoll und herausfordernd wahrgenommen wird. Da besteht in einer so grossen Organisation immer Luft nach oben. Gerade weil die Wirtschaft den Militärdienst auch finanziell mittragen muss, ist Leerlauf zu vermeiden.

Aber die Dienstpflicht erlaubt es allen, in der Armee auch dafür Verantwortung zu übernehmen. Noch vor der russischen Annexion der Krim scheiterte 2013 eine Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee haushoch, die deren Abschaffung forderte.

Das Milizprinzip ist in der Bevölkerung weiterhin verankert. Es symbolisiert auch, dass die Schweiz ein einziges grosses Durcheinandertal ist. Die informelle Verknüpfung der Beziehungsnetze über Organisationen wie die Armee verleiht dem Land eine Nestwärme, die zur Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts beiträgt. Gleichzeitig bremst ein informeller Kontrollmechanismus den Gipfelsturm allzu ehrgeiziger Seilschaften, ebenso offensichtliche Formen der Korruption.

Doch die Elite hat die informelle Vernetzung bis zur Wende 1989 auf die Spitze getrieben: «Der Regierungspräsident war ebenso störrisch wie der Gemeindepräsident und war nicht nur Vorsteher des kantonalen Justiz- und Polizeiwesens, sondern auch Oberst, wie jeder echte Magistrat», so überzeichnet Friedrich Dürrenmatt die Blüten dieser Kultur in seinem letzten Werk.

Das «Durcheinandertal» ist ein groteskes Sittenbild einer Schweiz, die es so kaum mehr gibt. Den eidgenössischen Räten gehören noch drei Obersten an. Die militärischen Beziehungsnetze sind heute marginalisiert. Wer heute noch weitermacht und als Offizierin oder Offizier Verantwortung übernimmt, tut dies nicht für die zivile Karriere. Im Gegenteil: Gerade internationale Betriebe haben oft wenig Verständnis für militärische Abwesenheiten. Doch dies hat die Motivation der Miliz im Dienst eher noch erhöht.

In der Pandemie offenbarte sich die wahre Stärke dieses Systems, es wurde aber viel zu wenig genutzt. Als die Armee sämtliche Sanitäterinnen und Sanitäter mobilisierte, rückten praktisch alle ein. Die Teilmobilmachung im Taschenformat zeigte die hohe Bereitschaft auch der jungen Bevölkerung, ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten: ein Flashmob zugunsten des Gemeinwohls.

Sicherheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe

Das System Schweiz kann sich auf Bürgerinnen und Bürger in Uniform verlassen, egal, ob im Tarnmuster oder uni im Zivilschutz. Doch die angestossene Reform sollte rascher umgesetzt werden. Denn in beiden Fällen ist wohl eine Verfassungsänderung nötig. Der Bundesrat und das Parlament müssen die Entscheidfindung beschleunigen – und die Idee einer bedarfsorientierten Dienstpflicht schärfen.

Denn auch bei diesem gleichberechtigten Dienstpflichtmodell sollte der Zivildienst mit dem Zivilschutz zu einem Katastrophenschutz zusammengelegt werden. Es ist schwer verständlich, weshalb es nicht mit dem Gewissen vereinbar sein soll, bei einer Pandemie oder einer Naturkatastrophe infolge des Klimawandels anzupacken und zu helfen.

Die Ressource Miliz muss zudem konsequenter fürs Krisenmanagement genutzt werden. Auch nach absolvierter Dienstpflicht stehen Angehörige der Armee und des Zivilschutzes zur Verfügung, die in regionalen Krisenorganisationen oder auch auf Stufe Bund die Durchhaltefähigkeit sicherstellen – und das Silodenken der Verwaltung aufbrechen könnten.

Die Mitverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für die Sicherheit ist die Steigerung des freiheitlichen Prinzips der Eigenverantwortung. Dies könnte gerade mit Blick auf den drohenden hybriden Krieg des Westens mit Russland von besonderer Bedeutung sein: Die Möglichkeit der eigenen Beteiligung an den sicherheitspolitischen Instrumenten des Staates schützt die Gesellschaft vor Spaltungsversuchen.

Umso wichtiger wäre es, dass die Reform der Dienstpflichtmodelle möglichst alle abholte: Frauen und Männer, egal, welcher politischen Orientierung oder Herkunft der Familie. Der gemeinsame Dienst ist das Kernholz der vielsprachigen Schweiz und von deren Widerstandskraft. Denn Sicherheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

8. April 2022

Der Krieg in der Ukraine zeigt uns wieder einmal mehr, wie brutal jeder Krieg ist, aber auch wie durchschnittliche Menschen im Kampfgeschehen ein zügelloses und unmenschliches Verhalten entwickeln. Der folgende Bericht der NZZ von heute schildert diese unheilvolle Dynamik:  

NZZ vom 8. April 2022:

Im Ukraine-Krieg nimmt die Verrohung der Soldaten mit hohem Tempo zu

In den letzten Tagen häufen sich die Berichte von Massakern und Plünderungen durch russische Soldaten. Doch auch ukrainischen Verbänden werden mutmassliche Kriegsverbrechen vorgeworfen. Besonders unter russischen Soldaten nimmt die Disziplin ab. 

Rewert Hoffer08.04.2022, 05.30 Uhr

Dem Tod entkommen: ein Mann vor seinem Haus in der ukrainischen Kleinstadt Butscha.

Alkis Konstantinidis / Reuters

Das Massaker an Zivilisten in der ukrainischen Ortschaft Butscha hat die Welt schockiert. Russische Truppen haben dort nach bisherigen Zählungen etwa 300 Zivilisten getötet. Nun zeigt sich immer klarer: Butscha ist kein Einzelfall. Auch in der ostukrainischen Stadt Trostjanez und in Borodjanka nordwestlich von Kiew sollen russische Soldaten geplündert und gefoltert haben. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierte auch Fälle von Vergewaltigungen und Exekutionen. 

Am Donnerstag zitierte das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» aus mitgeschnittenen Funksprüchen russischer Soldaten in Butscha, die dem deutschen Geheimdienst BND vorlagen. Die Soldaten sollen sich in den Funksprüchen freimütig über die Ermordung von Zivilisten geäussert haben, wie das Magazin schreibt. Es gebe auch Aufnahmen, die auf ähnliche Geschehnisse wie in Butscha in anderen Teilen des Landes hinwiesen. Trotz den sich immer weiter verdichtenden Belegen für Kriegsverbrechen beharrt die russische Regierung weiterhin darauf, dass die Greueltaten in Butscha «inszeniert» seien.

Auch auf ukrainischer Seite gibt es Anzeichen für Kriegsverbrechen

Gleichzeitig sieht sich auch die Ukraine mit Vorwürfen konfrontiert, dass ihre Soldaten Kriegsverbrechen verübt haben sollen. Zunächst erschien vergangene Woche ein Video, das zeigt, wie ukrainische Soldaten russischen Gefangenen in die Beine schiessen. Am Mittwoch konnte die «New York Times» ein weiteres Video verifizieren, auf dem ukrainische Verbände zu sehen sind, wie sie verwundete russische Soldaten töten.

Es zeigt sich: Der Krieg lässt die Soldaten auf beiden Seiten verrohen. Bereits nach wenigen Wochen brechen die Kämpfenden in der Ukraine wiederholt das humanitäre Völkerrecht, die Disziplin nimmt ab.

Mangelnde Disziplin in der russischen Armee

Journalisten vor Ort berichten davon, dass Offiziere nicht eingeschritten seien, als russische Truppen in Trostjanez Zivilisten getötet und Leichen geschändet hätten. Laut dem «Spiegel»-Reporter Christoph Reuter herrschten Chaos und Willkür, während sich die Kleinstadt unter russischer Kontrolle befand. Die Schrecken in Butscha und anderen Städten deuten darauf hin, dass dies keine isolierten Ereignisse sind.

Recherchen von Amnesty International bestätigen diesen Eindruck. Am Donnerstag veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Interviews mit zwanzig Personen aus Dörfern und Städten im Umkreis von Kiew. Die von Amnesty befragten Augenzeugen berichten, wie ihre Familienangehörigen getötet wurden und russische Soldaten ohne Vorwarnung auf Zivilisten schossen. Eine Frau gab an, dass russische Soldaten am 9. März in ihr Haus östlich von Kiew eingedrungen seien, ihren Ehemann getötet und sie mit vorgehaltener Waffe mehrfach vergewaltigt hätten.

Die russische Armee war ausserdem wiederholt an Plünderungen beteiligt. Weissrussische Bewohner aus Grenzregionen berichteten davon, dass russische Soldaten ihnen Treibstoff und geplünderte Güter aus der Ukraine verkaufen wollten. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen, wie russische Soldaten Lebensmittel aus ukrainischen Geschäften stahlen.

Die britische Zeitung «The Times» berichtete über die Plünderungen. Sie beruft sich auf Videoaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie russische Soldaten ihre über 2000 Kilogramm schwere Beute aus der Ukraine in Weissrussland in die Heimat verschicken. Unter den gestohlenen Gütern befanden sich unter anderem Fernseher, Kleidung und Klimaanlagen.

Eine Frau steht neben provisorisch ausgehobenen Gräbern im ukrainischen Butscha.

Roman Pilipey / EPA

Paramilitärs und Legionäre gehören zu den Tätern

Viele russische Soldaten sprechen freimütig über die Tötungen und Plünderungen, wie in dem vom BND abgehörten Funkverkehr deutlich wird. Das deutet darauf hin, dass die Armeeführung solche Exzesse toleriert. Ein Grund für die sich häufenden Grausamkeiten könnte sein, dass auf beiden Seiten vermehrt Paramilitärs und Legionäre eingesetzt werden.

In Butscha sollen laut Augenzeugenberichten und abgehörten Funksprüchen neben regulären Einheiten der Armee auch tschetschenische Soldaten und Kämpfer der privaten Gruppe Wagner an den Tötungen beteiligt gewesen sein. Es ist fraglich, inwieweit die russische Führung diese Truppen kontrollieren kann und will.

Ähnlich ist es auf ukrainischer Seite gelagert. Die ukrainische Nachrichtenagentur Unian gab an, dass die paramilitärische Georgische Legion den Einsatz durchgeführt habe, bei welchem die verwundeten russischen Kriegsgefangenen getötet wurden. Die Legion wurde 2014 als ein Verband mehrheitlich georgischer Freiwilliger gegründet. Seit 2016 befindet sie sich offiziell unter Kontrolle der ukrainischen Armee und wird von dieser befehligt.

Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak kommentierte die neuen Vorwürfe mit den Worten, die Ukraine halte sich an die Genfer Konvention über die humane Behandlung von Kriegsgefangenen. Wo es zu Verstössen komme, werde dies juristische Verfahren nach sich ziehen. Zu berücksichtigen sei allerdings auch, dass Russland mit seinem Bruch sämtlicher Regeln des Kriegsvölkerrechts eine emotionale Reaktion in der ukrainischen Gesellschaft auslöse, die sich auch auf das Verhalten der eigenen Soldaten auswirke.  

2. April 2022

Was ist Krieg, was ist Frieden? 

Diese Begriffe waren für mich bis am 24. Februar 2022, beim Ausbruch des russischen Krieges in der Ukraine sehr theoretische Themen! Seither muss ich mich - wie wohl viele andere - damit intensiv beschäftigen! 

Der folgende Feuilleton-Artikel der NZZ beschäftigt sich damit

NZZ Feuilleton vom 2. April 2022

Krieg in der Ukraine: Der Traum vom ewigen Frieden ist geplatzt. Aber das zeigt vielleicht nur, dass wir nicht verstanden haben, was Friede ist

Krieg entsteht aus dem Frieden. Und vielleicht entsteht er, weil wir falsche Vorstellungen davon haben, was Friede bedeutet. Immanuel Kant hat sich darüber Gedanken gemacht. Auf eine Weise, die noch heute Orientierung bietet. 

Otfried Höffe02.04.2022, 05.30 Uhr

Vielleicht ist ewiger Friede nicht möglich, aber jeder Krieg verstösst gegen das Höchste, was den Menschen auszeichnet – die Verpflichtung auf die universal verbindlichen Gebote und Verbote.

Stephanie Lecocq / EPA

Ob Immanuel Kant ein Rassist war, wurde in den vergangenen Jahren heftig erörtert. Keiner Debatte wert erscheint dagegen die Frage, ob der wirkungsmächtigste Denker der Aufklärung ein naiver Friedensutopist war – obwohl sie angesichts des Kriegs in der Ukraine brennend aktuell ist. Rassistisch gefärbte Passagen muss man in Kants Œuvre lange suchen. Über Krieg und Frieden hat der Philosoph aus Königsberg eine eigene, in rechts- und staatsphilosophischer Hinsicht bis heute unübertroffene Abhandlung geschrieben: «Zum ewigen Frieden». 

Aber was soll das sein, «ewiger Friede»? Und was versteht Kant unter Frieden? In der 1795 erstmals erschienenen Schrift behandelt Kant die entscheidenden Fragen: Warum soll unter den Menschen kein Krieg, sondern Friede herrschen? Worin besteht wahrer Friede? Als notwendige Vorfrage: Was ist ein Staat? Darf ein Staat in die Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen? In welcher Gestalt lässt sich der wahre Friede verwirklichen? Und wie lässt er sich garantieren?

Was gegen den Krieg spricht

Kants erste Aktualität: Obwohl sich die Menschen in allen Zeiten und allen Kulturen einen vorbehaltlosen, «ewigen» Frieden wünschen, hat der Friede mit seinem Gegensatz zum Krieg nie den Rang eines philosophischen Grundbegriffs erreicht. Kant hebt diese thematische Vernachlässigung auf, indem er das philosophisch entscheidende Argument entwickelt.

Selbstverständlich spricht auch nach Meinung des Philosophen gegen den Krieg das, was wir seit Wochen in den Medien sehen, hören und lesen: das namenlose Leid von Hunderttausenden Menschen, nicht nur von Soldaten, sondern auch von Zivilisten, die Zerstörung von Wohnungen, Kliniken, der Infrastruktur und von Kunstschätzen sowie die immensen finanziellen Kosten.

Diese pragmatischen Folgen, nämlich Konsequenzen für das persönliche und das kollektive Wohl, darf man nicht und will auch niemand kleinreden. Trotzdem treffen sie nicht das Hauptargument gegen den Krieg, das auf den ersten Blick überraschen, vielleicht sogar zynisch klingen mag.

Die Grenzen, die das Recht setzt

Man stelle sich vor, es gäbe Kriege ohne unermessliches Leid. Könnte dann ein Krieg rechtens sein? Kant antwortet mit einem klaren Nein. Denn bei Kriegen gibt allein der Sieg den Ausschlag und nicht das Recht. Da wird der Philosoph, der sonst eine sehr nüchterne Sprache pflegt, ausnahmsweise pathetisch. «Die Vernunft», heisst es in seiner Friedensschrift, verdammt «vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang» und macht «den Friedenszustand zur unmittelbaren Pflicht».

Im Krieg wird also weit mehr verletzt als das menschliche Wohl. Man verstösst gegen das Höchste, was den Menschen auszeichnet, gegen die Verpflichtung auf die universal verbindlichen Gebote und Verbote. Man verstösst gegen den Teil der Moral, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, gegen die Rechtsmoral, auch Gerechtigkeit genannt.

Kants zweite Aktualität: Er verlangt kein Zusammenleben in eitler Liebe und Freundschaft. Er vertritt keine Utopie im buchstäblichen Sinn des Wortes, kein Nirgendland im Nirgendwo, in dem die Menschen, frei von Streit, Eifersucht und Ehrgeiz, in purer Harmonie leben. Im Gegenteil heisst er Konkurrenz willkommen, allerdings in den Grenzen des Rechts und in dessen Minimalbedingung, dem «Ende aller Hostilitäten», dem nicht bloss vorübergehenden, sondern dauerhaften Frieden.

Der Staat ist keine Habe

Denn wenn der Wettstreit in den Grenzen von Frieden und Recht stattfindet, befördert er für Kant das persönliche und gesellschaftliche, nicht zuletzt das globale Wohlergehen. Dabei darf man dieses Wohl nicht auf materielle Gesichtspunkte verkürzen. Jeder Krieg verunmöglicht die Blüte von Wissenschaft, Medizin und Technik, von Kunst und Kultur und des Sports. Ebenso erschwert er die persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen.

Im 17. und 18. Jahrhundert herrschten zwischen den Fürsten Kriege vor, in denen Gebiete hin- und hergeschoben wurden. Kant lehnt dies mit dem Argument ab, dass ein Staat im Unterschied zum Territorium, «dem Boden, auf dem er seinen Sitz hat», kein Eigentum, keine «Habe» ist. Es handelt sich vielmehr um eine Institution, die sich durch Souveränität auszeichnet.

Der Staat ist für Kant «eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und disponieren hat». Deshalb darf ein russischer Staatspräsident den Präsidenten der Ukraine nicht zur Übergabe des Landes oder eines Teils davon auffordern. Und der ukrainische Präsident darf einer solchen Aufforderung nicht nachkommen. Sie müsste aus dem eigenen Staat kommen und von dessen Volk oder Volksvertretern, dem Parlament, entschieden werden. «Kein Staat», hält Kant fest, «soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.»

Europas Ungerechtigkeit

Wenn Putin behauptet, in der Ukraine herrsche ein verbrecherischer Nationalismus, der die Rechte einzelner Bevölkerungsteile verletze, dann wäre gegen solche Rechtsverletzungen, wenn es sie denn überhaupt gäbe, die ukrainische Justiz zuständig. Erst falls sie versagt, wäre eine überstaatliche Gerichtsinstanz anzurufen, in Europa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Und selbstverständlich gilt hier Wechselseitigkeit: Putin müsste die repressiven Massnahme gegen die Meinungs- und Pressefreiheit in seinem Land aufheben.

Zusätzlich zum Verbot, einen «für sich bestehenden Staat von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung» zu erwerben, verlangt Kant, stehende Heere auf Dauer abzuschaffen. Und er führt zusätzlich zum Staatsrecht und zum Völkerrecht ein Weltbürgerrecht ein. Dieses betrifft einzelne Menschen und ihre wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, religiösen und kulturellen Vereinigungen, aber auch Staaten, sofern sie aufeinandertreffen und friedlich miteinander stehen sollen.

Kant schränkt dieses Recht auf «Bedingungen der allgemeinen Hospitalität» ein. Danach darf jeder Mensch überall anklopfen und sich etwa zum Güter- und Kulturaustausch anbieten. Die Gegenseite hat aber keine Pflicht, sich darauf einzulassen. Ein Gastrecht lehnt Kant ausdrücklich ab. Mit diesem Argument klagt er die «handeltreibenden Staaten» Europas einer «bis zum Erschrecken weit» reichenden «Ungerechtigkeit» an. Sie hätten China und Japan gezwungen, ihre Häfen für den Handel zu öffnen. Dem Imperialismus und Kolonialismus wirft Kant vor, die Rechte der Menschen in den betreffenden Ländern zu missachten: «Die Einwohner rechneten für nichts.»

Vor dem Untergang bewahren

Direkt wirksam ist das Weltbürgerrecht für Kant in seiner Zeit auch im Fall von gestrandeten Schiffsbesatzungen. Diese dürfen seiner Ansicht nach weder ausgeraubt noch versklavt oder getötet werden. Man darf sie aber, sobald das Schiff repariert ist, zum Verlassen auffordern, wenn es «ohne seinen Untergang geschehen kann».

Offensichtlich darf man nach diesem Kriterium Flüchtlinge, ob aus der Ukraine oder anderswoher, so lange nicht zurückschicken, wie in ihrem Land die Waffen sprechen. In den wohlhabenden Staaten des Westens tun Einzelpersonen, Organisationen und staatliche Organe weit mehr, als die Flüchtlinge vor dem Untergang zu bewahren. Faktisch geht das in Kants Weltbürgerrecht geforderte Minimum hier in eine relativ grosszügige Gastfreundschaft über.

Entsprechend seiner These, den Staat brauche selbst ein «Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)», gründet Kant seine Friedenstheorie vor allem auf das aufgeklärte Eigeninteresse, den «wechselseitigen Eigennutz»: «Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt.»

Der Geist des Handels

Diesen Handelsgeist versteht man am besten nicht nur ökonomisch, auch wenn Kant recht haben dürfte, dass unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten «die Geldmacht die zuverlässigste sein möchte». Schon weil die Gesundheit den Menschen so wichtig ist, weil sie ihre Arbeit erleichtern wollen und ungern auf vieles ihnen vertraut Gewordene verzichten, spielen Medizin und Technik, Wissenschaft, Kultur und Sport im Austausch zwischen Staaten eine wichtige Rolle.

Auch dies freilich wäre für Kant klar: Damit sich diese Interessen durchsetzen, müssen autoritäre Staaten wie Russland ihrer Bevölkerung das erlauben, was wir Demokratie nennen – eine auf der Anerkennung von Grundrechten basierende Mitsprache, verbunden mit einer Teilung der öffentlichen Gewalten, die frei von Einschüchterung und Korruption agieren.

Otfried Höffe leitet an der Universität Tübingen das Forschungszentrum für politische Philosophie.

24. März 2022

Der Krieg Russlands in der Ukraine hat wohl die meisten westlichen Politiker überrascht. Niemand hätte so etwas dem (bisher geglaubten) smarten Putin so etwas zugetraut. Aber warum eigentlich? Seine blutigen und radikalen Kriege in Tschetschenien, Georgien, die Annektierung der Krim 2014 usw. hätten eigentlich mehr als genug Zeichen geben müssen, was für Ziele dieser Mann schon länger ins Auge gefasst hat! 

Erst jetzt stellt man langsam mehr und mehr Analysen über diesen blutigen Diktator an. Der NZZ Kommentar von heute

NZZ  - GASTKOMMENTAR vom 24.3.2022

Putins paranoider Krieg gegen die Realität der Geschichte – der Kremlherr verfolgt seine grossrussische Mission ohne Rücksicht auf Verluste

Wladimir Putin scheint den Krieg gegen die Ukraine lange Jahre vorbereitet zu haben. Die Krim und der Donbass waren nur das Vorspiel. Die Ukraine ist das Kronjuwel in seinem Plan, alle «Russen» im Imperium wiederzuvereinen. Sein Scheitern ist absehbar. 

Lucian Kim63 Kommentare24.03.2022, 05.30 Uhr

In Ermangelung einer verbindenden nationalen Idee wählte Putin den «grossen Sieg» der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, um die Russen hinter sich zu scharen. – Militärparade vom 9. Mai 2021 auf dem Roten Platz.

Evgenia Novozhenina / Reuters

Wladimir Putin hat ein gefährliches Hobby. Seine Besessenheit von der Vergangenheit und vom historischen Erbe kostet Tausende von Menschenleben, richtet in der Ukraine Zerstörung an und bedroht Russlands eigene Zukunft. 

In der Ukraine kämpft Putin darum, seine Version von historischer Gerechtigkeit wiederherzustellen und das Jahr 2022 zu einem neuen Meilenstein der Weltgeschichte zu machen – auf einer Stufe mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 oder dem Fall der Berliner Mauer 1989. Da sein Geschichtsverständnis jedoch höchst selektiv und politisch verzerrt ist, ist Putins Versuch, die Welt neu zu ordnen, zum Scheitern verurteilt. Sein einziges sicheres Vermächtnis ist ein Platz in der Schurkengalerie der Geschichte.

Ominöser Aufsatz

Im Vorfeld seines erneuten Angriffs auf die Ukraine begründete Putin in einer weitschweifigen einstündigen Fernsehansprache, die wie eine Geschichtsstunde begann, den totalen Krieg. «Die Ukraine ist für uns nicht nur ein Nachbarland. Sie ist ein unveräusserlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums», sagte er.

Laut Putin war die moderne Ukraine eine Schöpfung Lenins, die «historisch russisches Land» umfasste. Putin wiederholte eine 5000 Wörter umfassende Abhandlung, die er im Sommer unter dem ominösen Titel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» veröffentlicht hatte. Darin behauptete er, dass Russen und Ukrainer «ein Volk» seien und dass der Westen danach trachte, die Ukraine in ein «Antirussland» zu verwandeln.

Ironischerweise hat Putin mehr als jeder andere Kremlherrscher der letzten Zeit dazu beigetragen, die Ukraine in Richtung Westen zu treiben und die Feindseligkeit unter den Ukrainern zu schüren. Vor Putins erster unprovozierter Invasion im Jahr 2014 standen die meisten Ukrainer Russland positiv gegenüber und waren einer Nato-Mitgliedschaft gegenüber weitgehend ambivalent eingestellt. Doch nachdem Putin die Krim besetzt und einen blutigen «Volksaufstand» in der Ostukraine angezettelt hatte, begannen die Ukrainer natürlich, Russland als Feind zu betrachten und die Nato-Mitgliedschaft als sinnvolles Ziel anzusehen. 

Kiew, nicht Moskau, ist die Wiege der ostslawischen Zivilisation, welche die heutigen Ukrainer und Russen teilen. Putin hat sich Teile dieser gemeinsamen Geschichte zu eigen gemacht, um seine Annexion der Krim zu rechtfertigen, wo ein mittelalterlicher Kiewer Herrscher namens Wladimir I. – auf Ukrainisch Wolodimir I. – im 10. Jahrhundert zum Christentum konvertierte. In Kiew ist die auf einem Hügel stehende Statue des Fürsten Wolodimir seit mehr als 150 Jahren eines der beliebtesten Symbole der Stadt. Im Jahr 2016 errichtete Putin seine eigene riesige Statue von Fürst Wladimir direkt vor den Kremlmauern.

Die Fernsehsender des Kremls verbreiten die Botschaft, dass alles, was Russen und Ukrainer gemeinsam hätten, beweise, dass sie ein Volk seien, während alle Versuche der Ukrainer, ihre Identität zu behaupten, einen Beweis für westliche Einmischung oder unverhohlenen Faschismus darstellten. Die Ukraine sei ein scheiternder Staat, so die Kreml-Propaganda, und die USA und ihre Verbündeten seien lediglich daran interessiert, das Land als Aufmarschgebiet zu nutzen, um ihr eigentliches Ziel, Russland, anzugreifen.

Kein Preis zu hoch

Putins Überzeugung, dass der Westen der Ukraine militärisch nicht beistehen werde, hat ihm den Freipass gegeben, mit tödlicher stumpfer Gewalt gegen seinen Nachbarn vorzugehen. Putin setzt den Kampf um die Ukraine mit dem Überleben seines Regimes gleich, und er zeigt, dass ihm kein Preis zu hoch ist.

Putin scheint die Worte des ehemaligen amerikanischen Beraters für nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski verinnerlicht zu haben, der einmal schrieb, dass «Russland ohne die Ukraine aufhört, ein eurasisches Imperium zu sein». Mit ihren reichen landwirtschaftlichen Flächen und ihrer Schwerindustrie war die Ukraine das Juwel in der Krone des russischen Reiches und später der Sowjetunion. Strategisch gesehen, ermöglichte die Kontrolle über die Ukraine Russland, seine Macht über das Schwarze Meer und tief nach Europa hinein auszudehnen.

Im Jahr 2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als die «grösste geopolitische Katastrophe» des 20. Jahrhunderts. Seine Wortwahl ist aufschlussreich. Trotz dem unsäglichen Leid, das Nazi-Deutschland den Völkern der Sowjetunion zugefügt hatte, endete der Zweite Weltkrieg mit einem geopolitischen Sieg Stalins, dessen neues Reich sich von Prag bis nach Pjongjang erstreckte, dem absoluten Zenit der russischen Macht. Für Putin bedeutete der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur den Verlust von halb Europa, sondern auch von Gebieten, die viele Russen nach jahrhundertelanger Herrschaft als Teil des Kernlandes ihres Reiches betrachtet hatten.

In Ermangelung einer verbindenden nationalen Idee wählte Putin den «grossen Sieg» der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, um die Russen hinter sich zu scharen, und veranstaltete zu diesem Anlass am 9. Mai immer grössere Militärparaden auf dem Roten Platz. Er verwandelte die schmerzhaften Erinnerungen der Russen an den Zweiten Weltkrieg in einen Kriegskult, der nun zum Kampf gegen «Nazis» in der Ukraine mobilisiert wird.

Putins Verherrlichung der Roten Armee hat es Russland unmöglich gemacht, sich mit seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn zu versöhnen, die nach dem Weltkrieg zu Untertanennationen wurden. Der Kreml hat jede Kritik an der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs als «Geschichtsfälschung» angeprangert und damit eine ehrliche Auseinandersetzung mit Stalins Kollaboration mit Hitler vor der Nazi-Invasion in das eigene Gebiet verhindert. Im Dezember verboten die russischen Behörden die Menschenrechtsgruppe Memorial, die sich für die Aufdeckung der Verbrechen des Sowjetstaates und die Bewahrung des Gedenkens an die Opfer einsetzt.

Wenn es den Russen nicht erlaubt ist, die in ihrem Namen begangenen Verbrechen zu verurteilen, werden sie niemals in der Lage sein, sich von der Sowjetmentalität zu befreien. Und solange sie sich nicht von der sowjetischen Vergangenheit befreien können, werden die Russen nicht in der Lage sein, das Paradoxon zu akzeptieren, dass die Sowjetunion gleichzeitig Befreier und Besatzer von halb Europa sein konnte – und dass sie selber Gefangene in ihrem eigenen Land waren.

Verspätete Konterrevolution

In einer Ansprache an die Nation am ersten Tag des russischen Angriffs bezeichnete Putin Stalins Nichtangriffspakt mit Hitler als Fehler, und zwar nicht, weil er einen grossen Teil Osteuropas zwischen den beiden Diktatoren aufteilte, sondern weil das Abkommen letztlich die Nazi-Invasion nicht abwenden konnte. Diesmal, so Putin, werde Russland denselben Fehler nicht wiederholen. Er habe keine andere Wahl, als einen Präventivschlag zur «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» der Ukraine zu führen.

Putin mag denken, dass er den Zweiten Weltkrieg wiederaufleben lässt, aber sein Krieg gegen die Ukraine ist in Tat und Wahrheit eine verspätete blutige Konterrevolution gegen die Welle prodemokratischer Proteste, wie er sie als KGB-Offizier in Ostdeutschland vor drei Jahrzehnten miterlebte. Die samtenen Revolutionen in Prag und Ostberlin läuteten das Ende des Sowjetimperiums ein.

Im Jahr 2004 erlebte die Ukraine mit der Orangen Revolution ihre eigene Volksrevolte, und 2011 begannen in Moskau Massenproteste, die zur grössten Herausforderung für Putins Herrschaft werden sollten. Nachdem die Ukrainer 2013 und 2014 erneut auf die Strasse gegangen waren, um gegen ihren vom Kreml gestützten Präsidenten Janukowitsch zu protestieren, beschlagnahmte Putin zunächst die Krim, um die Abdrift der Ukraine nach Westen ein für alle Mal zu stoppen.

Für Putin war die gesamte Zeit nach dem Kalten Krieg eine Zeit der Demütigung Russlands durch einen angeblich feindseligen und höhnischen Westen. Mit seinem Krieg gegen die Ukraine will er die Ukrainer dafür bestrafen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Doch es geht auch um Rache für Demütigungen durch die westlichen Rivalen. Putin spiegelt das Vokabular von Konflikten, in welche die USA involviert waren, und rechtfertigt sein Vorgehen in der Ukraine mit unbegründeten Anschuldigungen des «Völkermords» an ethnischen Russen oder der Entwicklung von «Massenvernichtungswaffen» durch die Ukraine. Putin begleicht die Rechnung für die Zeit, da Russland hilflos zusehen musste, wie die USA trotz den Einwänden des Kremls im Nahen Osten in den Krieg zogen.

Die gesamte ukrainische Nation ist zum Kollateralschaden von Putins letztem Versuch geworden, Russlands Grösse wiederherzustellen. Putin setzt allein auf harte Macht. Selbst die Sowjetunion besass eine Ideologie mit globaler Anziehungskraft, aber Putins Russland hat anderen Ländern nichts zu bieten – in der gegenwärtigen Wirtschaftslage nicht einmal Petrodollars.

Weniger als einen Monat vor dem Angriff auf die Ukraine legte Putin einen Kranz an einem Denkmal nieder, das den Hunderttausenden von Opfern der grausamen Belagerung Leningrads durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist. 

Jetzt ist es Putin, der die Städte in der Ukraine belagert.

Die Ähnlichkeiten mit dem Zweiten Weltkrieg sind offensichtlich – allerdings nicht in der Weise, wie Putin sie sich vorstellt.

Lucian Kim hat seit 1996 für führende amerikanische Nachrichtenorganisationen aus Moskau und Berlin berichtet. Im August verliess er Moskau nach fünf Jahren als Russland-Korrespondent von National Public Radio (NPR). Das abgedruckte Stück ist am 21. März auf der Website des Woodrow-Wilson-Center in Washington (DC) erschienen. – Aus dem Englischen von ABn.

Was jetzt gerade in der Ukraine passiert, ist auf allen Ebenen reinstes Kriegsverbrechen. Wie kann dies konkret geahndet werden? Der NZZ Kommentar geht diesem Thema nach:

NZZ KOMMENTAR vom 24.3.2022

Keine Chance für russische Kriegsverbrecher – die Bundesanwaltschaft muss im Völkerstrafrecht mehr tun

Der neue Bundesanwalt Stefan Blättler hat eine Task-Force eingesetzt, um russische Kriegsverbrechen zu verfolgen. Das ist eine wichtige Kurskorrektur, denn zu lange hat die Bundesanwaltschaft das Völkerstrafrecht vernachlässigt. 

Daniel Gerny28 Kommentare23.03.2022, 16.50 Uhr

Dieser grauenvolle Krieg ist nicht allein Putins Krieg. Schuldig machen sich alle, die sich an Kriegsverbrechen in Mariupol und anderswo beteiligen.

Azov Handout / Reuters

Die Bilder aus der zerstörten Stadt Mariupol sind zum Symbol für die russische Kriegsführung in der Ukraine geworden: Kein Tag vergeht, ohne dass neue Nachrichten, Bilder und Videos von Angriffen auf Wohnsiedlungen, Spitäler oder flüchtende Kriegsopfer eintreffen. Gezielt führt Russland in ukrainischen Städten eine humanitäre Katastrophe herbei, um die Moral der Bevölkerung zu brechen und sie zu vertreiben.

Auf die Regeln des Völkerrechtes scheint der russische Präsident keinerlei Rücksicht zu nehmen. Doch dieser grauenvolle Krieg ist nicht allein Putins Krieg. Schuldig machen sich alle, die sich an Kriegsverbrechen in Mariupol und anderswo beteiligen.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag, dem auch die Schweiz angehört, hat deshalb schon wenige Tage nach dem Beginn des Angriffs Ermittlungen in der Ukraine aufgenommen. Viele Länder haben zusätzlich ihre eigenen Strafverfolgungsbehörden in Gang gesetzt, um mutmassliche Kriegsverbrechen von Anfang an möglichst lückenlos zu dokumentieren.

Keinen Unterschlupf für Kriegsverbrecher

Solche Strukturermittlungsverfahren werden eingeleitet, bevor überhaupt einzelne Personen ins Visier geraten. Sie dienen dazu, frühzeitig ein präzises Bild von den Vorgängen im Konfliktgebiet zu erhalten, um spätere Strafverfahren zu erleichtern. Vor allem aber senden sie ein starkes Signal aus: Wer sich an Kriegsverbrechen beteiligt, soll im Ausland keinen Unterschlupf finden.

Kurskorrektur eingeleitet: Bundesanwalt Stefan Blättler.

Christian Beutler / Keystone

Die Schweizer Justiz hatte zunächst nur zögerlich reagiert. Gegenüber der NZZ hat die Bundesanwaltschaft noch vor kurzem erklärt, vorerst wolle man die Lage analysieren. Inzwischen zeichnet sich eine Kurskorrektur ab: Der neue Bundesanwalt Stefan Blättler hat die Schraube angezogen und eine Task-Force eingesetzt, um Abklärungen und Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen aufzunehmen. Die Bundesanwaltschaft bestätigte einen entsprechenden Bericht des «Tages-Anzeigers».

So sollen Flüchtlinge befragt werden, um Zeugenaussagen über mutmassliche Kriegsverbrechen zu erhalten. Ob solche Bemühungen am Ende tatsächlich zu einem Strafverfahren in der Schweiz führen, ist völlig offen. Dies hängt vor allem davon ab, ob sich hierzulande mutmassliche Kriegsverbrecher aufhalten werden. Im Vordergrund steht deshalb der Austausch von Beweismaterial mit dem ICC und mit Strafverfolgungsbehörden anderer Länder.

Die Schweiz macht mit diesem Schritt gleichzeitig deutlich, dass ihre Justizbehörden nicht abseitsstehen. Das ist dringend nötig, denn in den letzten Jahren hat sie im Kampf gegen Kriegsverbrechen zu zurückhaltend und unentschlossen agiert. Bereits seit 2011 fallen Straftaten gegen die Interessen der Völkergemeinschaft in die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft, doch lange blieb dies praktisch toter Buchstabe.

Bundesanwaltschaft agierte lange unentschlossen

Die erste Leiterin des 2012 gegründeten Kompetenzzentrums Völkerstrafrecht verliess ihren Posten aus Frust über ungenügende Mittel und Hürden schon nach kurzer Zeit. Anpassungen wurden kaum vorgenommen. So vergingen Jahre, bis die Bundesanwaltschaft 2019 erstmals Anklage gegen einen liberianischen Rebellenführer erhob. Im letzten Jahr wurde er wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Nicht zu Unrecht klagen NGO und Fachleute, dass die Bundesanwaltschaft das Völkerstrafrecht während der Ära Lauber links liegengelassen habe.

Mit dem Krieg gegen die Ukraine geraten Kriegsverbrechen plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In dieser Lage ist es umso dringender, die Strukturen der Strafverfolgungsbehörden anzupassen: Denn um Kriegsverbrechen nachweisen zu können, ist nicht nur viel Know-how, sondern genügend Personal notwendig.

Gut, dass Bundesanwalt Blättler das Defizit erkannt und sich selbst an die Spitze der Task-Force gesetzt hat. Dieser Schritt muss der Auftakt dazu sein, dem Völkerstrafrecht in der Bundesanwaltschaft jenen Stellenwert zuzugestehen, der ihm in einer kriegerischer werdenden Welt zukommt.

13. März 2022 

Das westliche Europa wurde durch den brutalen russischen Krieg in der Ukraine total überrascht, das steht ausser Frage! Das Gespenst eines Dritten Weltkrieges zeigt sich am Horizont, sofern Russlands Putin auf die Nato-Unterstützung an die Ukraine entsprechend reagieren würde. Dieser Krieg zeigt auch ein Energieproblem grössten Ausmasses auf. Bisher waren die Reaktionen der westeuropäischen Länder und der USA auf Boykotte Russlands auf mehreren Ebenen fokussiert. Es ist aber eine Tatsache, dass wenn  Gas- und Oellieferungen aus Russland total unterbunden würden, letzten Endes auch das ganze westeuropäische System durcheinander gewirbelt würde. Es scheint eine Tatsache zu sein, dass seit Jahren viel zu viele Abhängigkeiten von Russland  entstanden sind.  Alternativmöglichkeiten wurden wohl massiv vernachlässigt. Wie kann mit dieser sehr heiklen Situation nun umgegangen werden?

BLUE NEWS weist nun in einem heutigen Artikel auf eine Energiemöglichkeit hin, an die wohl bis jetzt nur wenige gedacht haben. Würde diese Möglichkeit das Energieproblem lösen? 

Start-up will unbegrenzte Energie aus der Erdkruste ziehen

Unter der Erde schlummert fast unbegrenzt Energie.
Getty Images

Ein amerikanisches Start-up will so tief wie nie zuvor in die Erde bohren. Die dort gespeicherte geothermische Energie soll quasi unbegrenzt sauberen Strom liefern.

Von Dirk Jacquemien BLUE NEWS 13.3.2022 

Die Notwendigkeit stärkerer Verwendungen erneuerbarer Energie wird dieser Tage wieder mal deutlich. Wollen sich Staaten nicht den Launen von Diktatoren mit Minderwertigkeitskomplexen aussetzen, brauchen sie eigene Energiequellen.

Obwohl in der Erde fast unbegrenzt Hitzenergie gespeichert ist, spielt die Geothermie bisher eine eher untergeordnete Rolle. In der Schweiz werden immerhin rund 15 Prozent aller Gebäude auf diese Art und Weise erhitzt, aber zur Stromerzeugung wird Geothermie hierzulande gar nicht genutzt. Weltweit beträgt der Anteil am Strommix weniger als 1 Prozent.

Denn bisher ist die Stromerzeugung durch Geothermie aufwendig und teuer und häufig nur in Gegenden wirtschaftlich, in denen sich die Hitze selbstständig ihren Weg nahe der Oberfläche bahnt, etwa durch vulkanische Aktivität. Mit ganz neuer Technik soll geothermische Energie aber überall gewonnen werden können.

Erneuerbare Energie - Kommen die Bitcoins bald aus dem Vulkan?

Lauschig-warm bei 500 Grad

Das Start-up Quaise Energy, eine Ausgründung des Massachusetts Institute of Technology (MIT), will dazu bis zu 20 Kilometer tief bohren. Hier herrschen Temperaturen von rund 500 Grad Celsius. Quaise würde damit deutlich tiefer vordringen als der bisherige Tiefenrekordhalter, die Kola-Bohrung auf der gleichnamigen nordrussischen Halbinsel, die 12,2 Kilometer erreichte.

Die extremen Temperaturen ganz tief unter der Erde sind aber ein Problem für die Bohrinstrumente. Quaise will daher elektromagnetische Hochfrequenzwellen einsetzen, um das Gestein zu spalten und sich den Weg in die Tiefe zu bahnen.

Kohlekraftwerke sollen umgerüstet werden

Bei den dortigen Temperaturen erreicht Wasser einen überkritischen Zustand, ist zugleich flüssig und gasförmig. In diesem Zustand kann das Wasser mit einem hohen Wirkungsgrad zur Stromerzeugung genutzt werden, ein vergleichbarer Prozess wird derzeit auch in Kohlekraftwerken verwendet.

Quaise schlägt daher auch vor, Standorte von alten Kohlekraftwerken umzurüsten, die statt durch die Verbrennung von Kohle dann mit der Hitze aus der Erde Strom erzeugen würden. Die Bohrung könnte fast überall auf der Welt stattfinden.

62 Millionen Dollar an Risikokapital hat das Start-up bisher eingesammelt, wie «Axios» meldet. 2024 sollen die ersten Testbohrungen mit einer Tiefe von bis zu einem Kilometer stattfinden. Bereits 2028 will Quasie dann in einem umgerüsteten Kohlekraftwerk sauberen Strom erzeugen.

11. März 2022

Wer ist Putin, was weiss man über ihn? Wladimir Putin, ist der despotische Herrscher im Kreml und der Kriegsherr und Verantwortliche für den grauenhaften Krieg in der Ukraine. Ist dieser Mann wirklich verrückt, wie einige behaupten? Ulrich M. Schmid ist der Meinung, dass er das nicht ist, sondern sich auf einer fanatischen russisch-faschistischen Ebene bewegt und jederzeit klare Vorstellungen hatte, wohin er das Staatsschiff lenken will! Nach seiner Vorstellung kann Russland entweder gross oder gar nicht sein: Putins Handeln basiert auch auf sinistren Ideologien.

Die folgenden drei Artikel der NZZ vom 10. März 2022 bilden aus meiner Sicht eine hervorragende Plattform zum Verstehen der gegenwärtigen Situation rund um den Ukraine-Krieg. Die drei Autoren präsentieren auch ein sehr gutes Bild von Wladimir Putin, der wohl als der Hauptverantwortliche für die Kriegssituation  ist. 

NZZ vom 10. März 2022

Putins Einflüsterer

Russland ist entweder gross oder gar nicht: Putins Handeln basiert auch auf sinistren Ideologien

Der russische Präsident ist nicht wählerisch in seinen Mitteln für die Durchsetzung der Machtpolitik. Noch weniger ist er es, wenn es um die Stichwortgeber seiner Grossmachtphantasien geht. 

Ulrich M. Schmid

Wladimir Putin ist ein Machtmensch, dessen Weltbild sich aus vielen obskuren Quellen speist.

Alexei Druzhinin / AP

Ist Putin verrückt? Die Antwort lautet: nein. Zwar scheint sein eigenmächtiges und verblendetes Vorgehen allen Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes zu widersprechen, gleichzeitig handelt er aber innerhalb seiner grossrussischen Ideologie kohärent und folgerichtig. Putin bewegt sich in einer Denktradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht und in verschiedenen historischen Kontexten einen undemokratischen und wertkonservativen Staat gefeiert hat. Ideengeschichtlich gesehen ist Putin ein Eklektiker. Er nimmt Theorieangebote auf, wo er sie findet, und integriert sie in seine wahnhafte Vision eines grossrussischen Imperiums, das über eine tausendjährige Staatlichkeit verfügt.  

Geschichte gehört in Putins Russland nicht zur Vergangenheit, sondern ist Teil der Gegenwart. 2016 wurde in Orjol ein Denkmal für Iwan den Schrecklichen errichtet. Bei der Einweihung bezeichnete der Rektor der Moskauer Staatsuniversität den blutigen Tyrannen als «Symbol der russischen Staatlichkeit», seine Herrschaftszeit werde «mit goldenen Buchstaben in die Geschichte unseres Vaterlandes» eingeschrieben. Die seltsame Wahl für das Denkmal geht auf die Herrschaftsideologie des grausamen Zaren zurück, die auch für das System Putin relevant

Iwan stützte seine Macht auf das Denken des Abtes Joseph Sanin von Wolokolamsk. Joseph anerkannte zwar die Menschennatur des Zaren, die Macht des Monarchen erschien aber aus seiner Sicht göttlich und deshalb unbegrenzt. Sogar Intrigen und Täuschungen waren explizit erlaubt. Putin bewundert Iwan den Schrecklichen für seine Verteidigung des orthodoxen Glaubens gegen die römisch-katholische Kirche und hält Iwans angeblichen Sohnesmord für eine Legende des rachsüchtigen päpstlichen Nuntius.

Die eiserne Hand des Zaren

Der Absolutismus hielt sich in Russland bis zur Abdankung des letzten Zaren Nikolai II. im März 1917. Die Herrscher standen nicht nur über dem Gesetz, sie waren das Gesetz. Die Monarchen waren aufgrund ihres Gottesgnadentums überzeugt, dass sie über dasselbe staatsrechtliche Gewicht wie das ganze Volk verfügten. Als der britische Botschafter Nikolai II. während des Ersten Weltkriegs auf dessen wachsende Unpopularität ansprach, antwortete der Zar vielsagend: «Meinen Sie nun, dass ich das Vertrauen meines Volks zurückgewinnen muss, oder meinen Sie nicht vielmehr, dass mein Volk mein Vertrauen zurückgewinnen muss?»

Allerdings verachtet Putin Nikolai II. als schwachen Herrscher, der für den Zerfall seines Reichs verantwortlich ist. Umso heller strahlt in Putins Augen Nikolais Vater, Alexander III., der Russland mit eiserner Hand regierte. Putin verwendet gerne ein Zitat von Alexander III., um seinen Isolationismus historisch zu begründen: Russland verfüge nur über zwei Verbündete: die Armee und die Flotte.

Auch die von Putin oft behauptete Einzigartigkeit der russischen Zivilisation geht auf einen Denker aus dem 19. Jahrhundert zurück. Nikolai Danilewski identifizierte in seiner Untersuchung «Russland und Europa» zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur «germanisch-romanischen Kultur» der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor, und zwar mit gutem Grund: Es stellt nämlich den Höhepunkt dar, der alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte abschliessen wird.

Zar Alexander III. mit seiner Familie. Der spätere Zar Nikolai II. steht hinter seinem Vater.

Imago

Mit den Sowjetführern teilt Putin die Illusion der Attraktivität des eigenen Herrschaftssystems. Lenin und Stalin waren überzeugt, dass nach dem Oktober 1917 weitere sozialistische Revolutionen in Europa ausbrechen würden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtete man in Moskau die Bruderländer des «Ostblocks» nicht als Besatzungszonen, sondern glaubte an ihre Einsicht in den sozialistischen Fortschritt. Der Kommunismus nahm die Züge einer Erlösungsreligion an. Putin verglich noch im Jahr 2016 die ideologische Programmschrift «Der Kodex des Erbauers des Kommunismus» mit der Bibel und nannte als wichtigste sowjetische Werte die Gleichheit, die Bruderschaft und das allgemeine Glück.

Schädliche Demokratie

Putin macht nicht nur Anleihen bei der Sowjetideologie, sondern auch bei antirevolutionären Denkern aus der russischen Emigration. Eine wichtige Inspirationsquelle ist für ihn der monarchistische Philosoph Iwan Iljin, der nach der Oktoberrevolution zunächst nach Berlin und später nach Zollikon übersiedelte. Iljin entwarf im Jahr 1938 eine Verfassung für ein postsowjetisches Russland. Darin nahm er Putins autoritäre Staatsvorstellungen vorweg.

Eine Demokratie sei schädlich. Russland brauche einen straff gelenkten Staat, dessen Legitimation sich aus der Religion und der Geschichte speise. Ganz dem Zeitgeist entsprechend forderte Iljin, dass «der Staat alle seine Bürger durch eine einheitliche patriotische Solidarität» zusammenbinden solle. Der zukünftige russische Staat müsse durch einen Monarchen zusammengehalten werden. Nicht die Konkurrenz der Parteien, sondern das allgemeine Vertrauen in die Macht sei die Basis der politischen Entscheidungsfindung. Putin zitiert Iljin gelegentlich in seinen Reden. Er sorgte dafür, dass Iljins Gebeine 2005 nach Moskau übergeführt wurden, und war persönlich bei der Beisetzung zugegen.

Der Philosoph Nikolai Berdjajew wurde gemeinsam mit Iwan Iljin 1922 auf einem der sogenannten «Philosophendampfer» aus Sowjetrussland ausgewiesen. Anders als Iljin war Berdjajew in seiner Jugend ein überzeugter Marxist gewesen, der sich später zu einem konservativen Denker wandelte. Auf die Oktoberrevolution reagierte Berdjajew mit einer «Philosophie der Ungleichheit». Seine politischen Vorlieben lagen fortan bei Mussolini und schliesslich sogar Stalin, den er als Verteidiger des russischen Vaterlands verehrte. Putin lobt Berdjajew als Vertreter eines «gesunden Konservatismus», der nicht zukünftige Entwicklungen, sondern den Rückschritt ins Chaos verhindere.

Der dritte Exildenker, auf den sich Putin bezieht, ist Alexander Solschenizyn, der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1970, der das sowjetische Strafsystem in mutigen literarischen Texten angeprangert hatte. Nach seiner Ausweisung wurde er in Europa und den USA zunächst als Dissident gefeiert. Allerdings las Solschenizyn auch bald dem westlichen Publikum die Leviten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte er nach Russland zurück. Er empfahl die Vereinigung von Russland, Weissrussland und der Ukraine in einen Staat, der nicht demokratisch, sondern von Philosophenkönigen regiert werden müsse. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte Putin Solschenizyn besucht, er zeichnete ihn im Jahr 2007 sogar mit einem Staatspreis aus. Putin nahm persönlich an Solschenizyns Begräbnis teil und weihte im Jahr 2018 ein Solschenizyn-Denkmal in Moskau ein.

Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn in einer Aufnahme von 1974.

Hulton Archive / Getty

Im postsowjetischen Russland gibt es eine prominente nationalistische Denktradition, deren berüchtigtster Vertreter Alexander Dugin ist. Der Vordenker der eurasischen Bewegung ist überzeugt, dass Russland «entweder gross oder gar nicht» sein werde. Russland müsse sich vom Westen abwenden und zu seiner eurasischen Bestimmung zurückkehren. Das «Russentum» wird bei Dugin zum Mass aller Dinge, dem sich sogar die Ethik unterordnen muss. In einem Aufsatz über Dostojewski behauptet Dugin, dass sogar die russischen Verbrechen unvergleichlich höher stünden als fremde Tugenden. Putin hält sorgfältige Distanz zu Dugin – möglicherweise um sich selbst als gemässigten Vertreter des Eurasismus zu präsentieren.

Insel oder Festung

Der Historiker Wadim Zymburski legte 1993 einen einflussreichen Aufsatz über die «Insel Russland» vor. Er ging davon aus, dass sowohl das Zarenreich als auch das Sowjetimperium Russland von der eigenen geopolitischen Identität entfremdet hätten. Deshalb sei der Zerfall der Sowjetunion eine Chance für Russland, das sich auf seine Grenzen zurückziehen und sich wie eine Insel abschotten müsse. Russland sei von einem Gürtel geopolitisch undefinierter Staaten umgeben.

Alle diese Staaten müssten sich entscheiden, entweder zu Russland oder zum Westen zu gehören. Manche Staaten – wie namentlich die Ukraine – würden bei dieser Wahl aber auseinanderbrechen. Zymburski ging davon aus, dass sich die Krim, das sogenannte «Neurussland» und alle Gebiete östlich des Dnjepr in einem Akt zivilisatorischer Selbstdefinition Russland anschliessen würden. Mit dieser Vision wird Zymburski zu einem Stichwortgeber von Putins aggressiver Ukraine-Politik.

2005 legten die beiden nationalistischen Publizisten Michail Leontjew und Michail Jurjew ihre Konzeption der «Festung Russland» vor. Die grösste Gefahr bestand aus ihrer Sicht darin, dass Russland sich als Staat mit einer eigenen Zivilisation in einer globalisierten Wirtschaftsordnung auflösen könnte. Deshalb forderten sie, dass Russland sich selbst vom Welthandel abschneiden und ein alternatives politisches System zum westlichen Liberalismus entwerfen solle. Die Garanten dieses Szenarios wären laut den Autoren der starke Präsident, die Atomwaffen und die natürlichen Ressourcen des Landes. Putin kann sich bei seiner Vorliebe für eine russische Selbstisolation auf solche ideologischen Entwürfe stützen.

Die Politikwissenschaft muss über die Bücher gehen. Viele der klassischen politikwissenschaftlichen Theorien können Putins aggressives Vorgehen nicht erklären. Seit dem 24. Februar ist klar: Der russische Präsident ist kein kalkulierender Machtmensch, der Risiken und Chancen abwägt. Er ist auch nicht in Institutionen eingebunden, die ihre Interessen formulieren können. Sein Handeln beruht auf ideologischen Überzeugungen. Für das Erreichen seiner Ziele ist ihm kein Preis zu hoch.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands sowie Prorektor Aussenbeziehungen an der Universität St. Gallen.

NZZ GASTKOMMENTAR vom 10. März 2022

Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat – Wladimir Putin ist ein gelehriger Schüler Benito Mussolinis

Von seinen Gegnern wird Wladimir Putin gern als «Putler» bezeichnet. Die historische Analogie indes stimmt nicht, Putin ist kein Nazi. Dafür erfüllt er mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht. Das Gebot der Stunde ist daher, Russland zu entfaschisieren. 

Wladislaw Inosemzew10.03.2022, 05.30 Uhr

Russische Il-76 Militärtransportmaschinen überfliegen Moskau anlässlich der Feiern zum Sieg über Nazideutschland, 4. Mai 2020.

Maxim Shemetov / Reuters

Als Präsident Putin am 24. Februar grünes Licht für den Überfall auf die Ukraine gab, bestand er darauf, dass die russischen Streitkräfte im Nachbarland nur eine «Spezialoperation» durchführen würden, um es zu «entnazifizieren». Es beliebte ihm, das Vorgehen der Ukraine gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass als «Völkermord» zu bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine einzige grosse Lüge. Denn nicht die Ukraine, welche einen jüdischen Präsidenten hat und in welcher der Gebrauch der russischen Sprache weit verbreitet ist, ist unter die Kontrolle von «Nazis» geraten, sondern Russland selbst hat sich unter Putin zu einem klassischen faschistischen Staat entwickelt.

Die ukrainischen Kämpfer bezeichnen die russischen Invasoren nicht zufällig ständig als Faschisten und nennen den russischen Präsidenten «Putler», um die Parallelen zu Hitler zu unterstreichen. Spätestens nach dem Ausbruch des Krieges erscheint eine solche Formulierung naheliegend, aber die Debatte über die Ähnlichkeiten begann kurz nach der russischen Annexion der Krim, als Mikhail Iampolski (New York University) oder Alexander Motyl (Rutgers University) versuchten, Putins Staat als faschistisch darzustellen – ohne sichtbar Unterstützung aus der Zunft der Politikwissenschafter zu bekommen.

Ein Nazi ist Putin nicht

Ich habe damals in der russischen freien Presse positiv auf diesen Versuch reagiert und wurde später dafür verurteilt, unter anderem von Marlène Laruelle (George Washington University), die einen Sonderband zur Verteidigung von Putins Russland verfasst hat.

Ich möchte hier versuchen, mich dem Thema aus einer theoretischen Perspektive zu nähern und auf politische Etiketten zu verzichten. Dabei gehe ich von Robert Paxtons Definition des Faschismus aus. Danach ist Faschismus «eine Form politischen Verhaltens, die durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang der eigenen Gemeinschaft, ihrer Demütigung oder Opferrolle sowie durch kompensatorische Kulte von Einheit, Stärke und Reinheit gekennzeichnet ist, in denen eine Partei nationalistischer Kämpfer, die in loser, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten arbeitet, demokratische Freiheiten aufgibt und mit messianischer Gewalt und ohne ethische oder rechtliche Beschränkungen Ziele der internen Säuberung und externen Expansion verfolgt».

Fast jeder dieser Punkte widerspiegelt, was sich seit Jahren in Putins Russland abspielt. Man könnte auch Merkmale hinzufügen, die Umberto Eco zum Verständnis des Faschismus beigesteuert hat, wie den «Kult der Tradition» (oder des «Konservatismus»), den Umstand, dass «Uneinigkeit Verrat ist» (was sich in der Suche nach «ausländischen Agenten» niederschlägt), die «Angst vor dem Unterschied» (präsent als fixe Idee von «Stabilität»), das Vertrauen auf «Antiintellektualismus und Irrationalismus» (was in Russland zur religiösen «Erweckung» geführt hat), die «Besessenheit von einer Verschwörung» (sprich: die Einflussnahme des «untergehenden Westens»), sodann «selektiver Populismus», «Neusprech» und Lüge. 

Es sei hier an einen Satz erinnert, den der Wirtschaftswissenschafter Peter Drucker vor mehr als achtzig Jahren formulierte: «Der Faschismus ist das Stadium, das erreicht wird, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat.»

In Bezug auf Putins Faschismus sei hier festgehalten, dass das Regime, das er in Russland seit den nuller Jahren aufgebaut hat, sehr wenig mit dem Nationalsozialismus gemein hat, wie er von Historikern seinerseits mit dem Faschismus in der Sowjetunion in Verbindung gebracht wurde. Putin ist kein Nazi. Selbst er fand heraus, dass die russische Nation nicht durch «Rasse», sondern durch einen «gemeinsamen kulturellen Code» zusammengehalten wird, der umso «wertvoller» ist, als er aus einer «jahrhunderte-», ja sogar «jahrtausendealten» Vermischung der Kulturen hervorgegangen ist. Aus diesem Gedanken, der von der russisch-orthodoxen Kirche gestützt wird, speist sich die Doktrin der «russischen Welt». Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini entwickelt hat – versetzt mit sozialdemokratischen Elementen, einem starken Gefühl der Grösse des verlorenen Reiches, einer korporativen Organisation der nationalen Wirtschaft und einer eher massvollen Unterdrückung des politischen Gegners.

Vier Säulen

Die erste Säule des russischen Faschismus ist das Lob des Irredentismus (des Ziels also, möglichst alle Angehörigen eines «Volkes» in einem Staat zu einigen) und der Militarisierung. Beides hat Putin zu einem Kernstück seiner Ideologie gemacht. Die jüngeren Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über die Nazidiktatur übertrafen alles, was in der Sowjetunion stattfand – einige übereifrige Politiker schlugen sogar vor, den noch lebenden Angehörigen der Kriegsopfer ein Wahlrecht bei den nationalen Wahlen zu gewähren.

Der Kult um die gloriose Vergangenheit lieferte den allerbesten Vorwand für die militärische Aufrüstung. Daneben pflegte Putin einen Hass auf den Westen, von dem her er das Ende des Kalten Krieges als Ergebnis einer Verschwörung und eines Verrats interpretierte, die zur Niederlage und zum Untergang der Sowjetunion geführt hatten. Zuletzt behaupteten Putin und seine Getreuen gar, der Westen wolle die Russische Föderation selber demontieren und zerstören. Ebendiese Gefahr wurde als Hauptgrund für einen «präventiven» Angriff auf eine Ukraine angeführt, deren Präsident Selenski nichts weiter sei als eine russophobe Marionette Washingtons.

Die zweite Säule war die fortschreitende Etatisierung der russischen Wirtschaft. Vor einem Jahrhundert hatte Mussolini verkündet: «Der faschistische Staat beansprucht die Herrschaft auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht weniger als auf anderen Gebieten; er entfaltet seine Wirkung in der ganzen Ausdehnung des Landes mithilfe seiner korporativen Institutionen, wobei alle wirtschaftlichen Kräfte der Nation, die in ihren jeweiligen Verbänden organisiert sind, innerhalb des Staates zirkulieren.»

Nach Emilio Gentile ist eines der wichtigsten Merkmale des Faschismus die «korporative Organisation der Wirtschaft, welche die Gewerkschaftsfreiheit unterdrückt, die Sphäre der staatlichen Intervention ausweitet und versucht, durch Technokratie und Solidarität die Zusammenarbeit der ‹produktiven Sektoren› unter der Kontrolle des Regimes zu erwirken – dies, um die gesteckten Machtziele zu erreichen, aber gleichzeitig das Privateigentum und die Klassenunterschiede zu erhalten». Auch die russische Wirtschaft ist unter Putin von Bürokraten beherrscht. Zugleich wird das Wort «Technokrat» verwendet, um die besten Köpfe der Kreml-Administration zu bezeichnen.

Drittens ist Russland unter Putin zum Land der «Vollstreckungsbehörden» geworden. In den letzten Jahren erfolgte eine zunehmende Umstrukturierung der Administration zu dem Zwecke, dem neuen Duce einen absoluten Durchgriff von Macht und Gewalt zu ermöglichen. Zu den Streitkräften, zum Innenministerium und zum Föderalen Sicherheitsdienst kam 2002 der Föderale Wachdienst hinzu. 2007 erweiterte sich der Machtapparat um das Untersuchungskomitee und 2016 um die Nationalgarde. Alle diese Entitäten werden von Putins treuesten Weggefährten geleitet und finden nicht einmal in der aktualisierten Fassung der russischen Verfassung eine Erwähnung. Im Weiteren entstanden in ganz Russland paramilitärische Einheiten – von «Privatarmeen» staatlicher Unternehmen bis hin zu «ethnischen Garden» wie jenen in Kadyrows Tschetschenien (die jetzt in den Aussenbezirken Kiews gegen die ukrainische Armee kämpfen).

Viertens dürfen hier Symbolik und Propaganda nicht unerwähnt bleiben, beides sind für faschistische Regime wesentliche Faktoren. Im heutigen Russland lassen sich sowohl eine «rechtmässige» Kodifizierung der Geschichte als auch der Versuch beobachten, alternative historische Lesarten zu verfolgen. Es gibt eine willkürliche Definition von «Extremismus» und eine willkürliche Einschränkung politischer Aktivitäten. Die wichtigsten Massenmedien unterstehen staatlicher Kontrolle. Deren populistische Rhetorik über eine «nationale Renaissance», über die «Stärke des Landes» und das «Kräftemessen mit dem Feind» hat sich von Jahr zu Jahr verstärkt.

Kurioserweise zeigt das vor Jahren neu entworfene Wappen einer russischen Strafverfolgungsbehörde nichts anderes als ein Bündel jener «fasci», die auf dem Emblem der italienischen faschistischen Partei prangten, nur dass sie jetzt stolz in den Fängen eines doppelköpfigen Adlers liegen. Putins Propaganda ist mit allen Wassern gewaschen und derart wirksam, dass die Russen kein Problem damit haben, wenn der Kreml-Herrscher Charkiw als «russische Stadt» bezeichnet und gleichzeitig die Bombardierungen als «Kampf gegen die Nazis» proklamiert. Im Jahr 2022 sind die durchschnittlichen Russen genauso indoktriniert und unbeleckt von Moral wie die Italiener und Deutschen in den späten dreissiger Jahren.

Der Westen muss sich engagieren

Putins Faschismus wurde Anfang der 2000er Jahre geboren, als er den Untergang des sowjetischen Imperiums zur grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts erklärte und die Überführung der sterblichen Überreste des berühmtesten russischen faschistischen Philosophen, Iwan Iljin, vom schweizerischen Zollikon nach Moskau als Staatsakt inszenierte. Er verstärkte sich in den folgenden Jahren durch die Aggression gegen Georgien und die Annexion der Krim.

In all diesen Jahren gab es naive westliche Gelehrte, die Russland als «normales Land» beschrieben und versuchten, dessen «souveräne Demokratie» tiefer und besser zu verstehen. Mittlerweile ist das Thema des russischen Faschismus nicht mehr nur von theoretischem Interesse. Die russischen Faschisten haben sich mittlerweile daran gemacht, die ukrainische Zivilbevölkerung zu kujonieren und wenn nötig zu töten, während der Herr im Kreml vorgibt, dass die ukrainische Armee diese als lebenden Schutzschild benutze, so wie es während des Zweiten Weltkriegs die Faschisten taten.

Der Krieg in der Ukraine ist mehr als nur ein Konflikt zwischen den Teilen des ehemaligen Imperiums. Er ähnelt dem Vormarsch der faschistischen Brüder im Vorkriegseuropa, wie man ihn von der italienischen und der deutschen Hilfestellung im Spanischen Bürgerkrieg kennt. Um einen neuen Weltkrieg zu verhindern, sollte sich die freiheitliche westliche Welt entschlossen hinter die tapfer kämpfenden Ukrainer stellen. Sie sollte die Schraube der wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Russland, aber auch gegen Weissrussland dermassen stark anziehen, bis beide Regime ins Wanken geraten. Was auf dem Spiel steht, ist nicht mehr und nicht weniger als eine vollständige und tiefgreifende Entfaschisierung Russlands. 

Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.

NZZ KOMMENTAR vom 10. März 2022

Putins Krieg in der Ukraine ist für die Schweiz ein Weckruf

Die geschlossene Reaktion des Westens hat für die Schweizer Aussenpolitik Folgen. Der Spielraum für einen eigenen, opportunistischen Kurs wird enger. 

Tobias Gafafer10.03.2022, 05.30 Uhr 
Peter Gut

Die USA warnten bereits im Januar vor einem drohenden russischen Einmarsch in die Ukraine. Der Bund aber beschäftigte sich mit dem Abbau von Handelshürden für Emmentaler, Gruyère und Appenzeller. «Schweiz und Russland wollen Austausch im Agrarbereich intensivieren», teilte Guy Parmelins Wirtschaftsdepartement Mitte Januar mit. Mit Ausfuhren von jährlich rund 250 Millionen Franken handle es sich um den sechstgrössten Exportmarkt für Agrarprodukte.

Namentlich die Käseexporte nach Russland haben sich von 2014 bis 2020 versiebenfacht. Die Branche profitierte vom Schweizer Sonderkurs nach Moskaus Annexion der Krim. Der Bundesrat verzichtete damals darauf, die Sanktionen der EU zu übernehmen. Stattdessen erliess er Massnahmen, damit Russen die Schweiz nicht für Umgehungsgeschäfte nutzen. Die Regierung begründete dies mit den Schweizer Vermittlungsbemühungen. Bern hatte 2014 den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne.

Die Schweiz schaffte mit dem Mittelweg den Spagat, weder ihre westlichen Partner noch Wladimir Putin zu stark zu verärgern. Sie stellte öffentlichkeitswirksam ihre Guten Dienste zur Verfügung – und machte nebenbei auch gute Geschäfte. Russland verschonte die Schweiz von Retorsionsmassnahmen, die es für Käse und andere Agrargüter aus westlichen Ländern erliess. 2014 nahmen zudem die russischen Geldflüsse in die Schweiz stark zu.

Putins brutaler Einfall in der Ukraine hat den Schweizer Mittelweg zu Recht schlagartig unmöglich gemacht. Die russische Armee richtet Zerstörungen an, wie es sie in Europa in diesem Ausmass seit 1945 nicht mehr gab. Der Bundesrat wollte unter der Federführung von Guy Parmelin und Ignazio Cassis zwar zunächst am bisherigen Kurs mit Massnahmen gegen Umgehungsgeschäfte festhalten. Doch damit hätte sich Bern im Westen rasch isoliert.

Moskau zu verurteilen, ohne die EU-Sanktionen voll mitzutragen: Diese Haltung liess sich in der gegenwärtigen Krise weder erklären noch rechtfertigen. Trotz ihrem Selbstverständnis als neutraler Kleinstaat ist die Schweiz wirtschaftlich eine Mittelmacht. Hätte sie Schlupflöcher offen gelassen, hätten dies westliche Partner als Parteinahme für den russischen Aggressor interpretiert.

Unter Druck machte der Bundesrat eine Kehrtwende und übernahm die Sanktionen der EU gegen Russland vollständig. Der Schritt war nicht nur im Schweizer Interesse, sondern auch angebracht. Um einen Paradigmawechsel handelte es sich nicht. Bern schliesst sich immer wieder Brüsseler Sanktionen an. Dennoch ist der Entscheid von grundsätzlicher Tragweite: Die Schweiz beteiligt sich an Strafmassnahmen gegen eine Grossmacht, die in diesem Umfang und in dieser Art beispiellos sind.

Kaum jemand hat mit der weitgehend geschlossenen Reaktion des Westens gerechnet, der als notorisch unschlüssig gilt. Für Putin ist es eine bittere Ironie: Die russische Intervention eint bis anhin die westlichen Partner. Die EU, Grossbritannien und die USA rücken näher zusammen. Die Nato steht vor einer Renaissance.

Die EU beweist im Gegensatz zur Uno, dass sie handlungsfähig ist. Sie ergriff rasch Sanktionen, wenngleich sie bis anhin mit einem Importstopp für russisches Erdöl und Erdgas zögert. In der Flüchtlingskrise sind EU und ihre Mitgliedstaaten mit der Ukraine solidarisch. Wegen Moskaus Invasion werden bisherige Positionen über Nacht hinterfragt. So hat Dänemark ein Referendum angekündigt, um sich an der EU-Militärzusammenarbeit zu beteiligen.

Verlässliche Partnerin der EU

Diese Entwicklungen haben auch für die Schweiz Folgen. Noch vor kurzem konstatierten Botschafter aus Nachbarstaaten, die Eidgenossenschaft habe sich von Europa entfernt. Inzwischen dürften sie feststellen, dass die Schweiz wohl noch nie so nahe an der EU war. Diese beweist, dass sie eine verlässliche Partnerin ist, die sich zögerlich, aber noch rechtzeitig, den Sanktionen angeschlossen hat.

In der Flüchtlingskrise stimmt sich Bern ebenfalls eng mit der EU ab. Justizministerin Karin Keller-Sutter drückte in Brüssel geschickt die Solidarität der Schweiz aus. Sie sicherte Unterstützung zu, sollte es innerhalb der EU zu einer Verteilung der Kriegsflüchtlinge kommen. Zudem bot die FDP-Bundesrätin an, für den Schutz der Schengen-Aussengrenzen weitere Experten aufzubieten, um die europäische Grenzwache Frontex zu unterstützen.

Das Zusammenrücken eröffnet neue Chancen und zeigt, dass die Schweiz mit der EU weit mehr verbindet als trennt. Die russische Invasion relativiert vorderhand Differenzen um den Lohnschutz und die Unionsbürgerrichtlinie. Für die Schweiz wird es noch vordringlicher, ihr Verhältnis zur EU, ihrer wichtigsten Partnerin, zu klären – nicht nur wegen des Energiebereichs. Der Bundesrat hat einen ersten Schritt gemacht und sich auf eine Stossrichtung geeinigt. Brüssel sollte sich die Vorschläge unvoreingenommen ansehen. Wer in den alten Streitfragen auf Milde hofft, dürfte allerdings enttäuscht werden.

Die Europapolitik darf sich jedoch nicht allein auf die partielle Teilnahme am Binnenmarkt fokussieren. Gerade der Konflikt in der Ukraine verdeutlicht, dass die Schweiz Teil der europäischen Sicherheitsordnung ist. Sie beteiligt sich am Schengener Abkommen und damit auch am Schutz der EU-Aussengrenzen. Das Referendum gegen den Schweizer Beitrag an den Ausbau des EU-Grenzschutzes Frontex, das Migrationsaktivisten und die linken Parteien ergriffen haben, war stets falsch. In der gegenwärtigen Krise steht es völlig quer in der Landschaft. Eine Annahme am 15. Mai würde die Teilnahme an Schengen aufs Spiel setzen und die Beziehungen zur EU massiv belasten.

Einen Beitrag zur europäischen Sicherheit leistet die Schweiz auch, indem sie ihren Luftraum schützt. Die Beschaffung von 36 Kampfjets des Typs F-35 und eines neuen Luftabwehrsystems ist dringlicher denn je, wenn die Schweiz nicht als reine Trittbrettfahrerin der Nato wahrgenommen werden will. Sie muss im Verbund mit Partnerländern in der Lage sein, zum Schutz des Luftraums in der Alpenregion beizutragen. In diesem gibt es bereits eine offene Flanke: Österreich verfügt lediglich über 15 Abfangjäger des Typs Eurofighter, von denen zeitweise ein grosser Teil nicht einsatzbereit war.

Gefährliche Polarisierung

Doch es geht um weit mehr als Kampfjets und Grenzwächter. Der Krieg in der Ukraine ist für die gesamte Schweizer Aussenpolitik ein Weckruf. Er stellt alte Gewissheiten und Strategien infrage. Bern mass guten und eigenständigen Beziehungen zu allen Grossmächten bis anhin viel Gewicht zu. Dieser Tanz auf zahlreichen Hochzeiten wird schwieriger, wenn sich der Konflikt zwischen demokratischen, westlichen Staaten und autoritären Regimen verschärft. Der Spielraum für einen eigenen, opportunistischen Kurs wird enger.

Namentlich im Falle eines Konflikts zwischen den USA und China könnte die Schweiz in die ungemütliche Lage geraten, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Im Vergleich zu Russland, das wirtschaftlich in absoluten Zahlen vernachlässigbar ist, werden andere Kräfte wirken. China ist der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz. Der Nachrichtendienst des Bundes warnte in einer Lageanalyse schon 2020, dass mit der zunehmenden Polarisierung zwei Normenräume entstehen, technologisch und politisch.

Natürlich verfolgt China bis anhin eine nuanciertere Machtpolitik als Putins Russland, das fast nur die Sprache der rohen Gewalt kennt. Das Reich der Mitte ist wesentlich stärker in die Weltwirtschaft integriert. Dies macht eine Abkoppelung und eine geschlossene Reaktion des Westens schwierig.

Gleichzeitig hält Peking trotz dem brutalen russischen Krieg an seiner Partnerschaft mit Moskau fest. China versuchte zudem, die Herkunft des Coronavirus zu verschleiern, und ist immer autoritärer geworden. Es setzt auf eine totalitäre Massenüberwachung und ging in Hongkong rigoros gegen die Opposition vor. Die Schweiz ist gut beraten, die Warnzeichen nicht so lange zu übersehen, wie sie es im Falle Russlands getan hat.

Auch sonst muss Bern schwierige Fragen klären. Was bedeutet die Krise für die Guten Dienste und die Neutralität? Kritiker sehen das eine wie das andere gefährdet. Die SVP warnt einmal mehr vor dem Schweizer Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Doch man sollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Ob Bern im blockierten Sicherheitsrat viel bewirken kann, ist zwar fraglich.

Dennoch ist es richtig, dass die Schweiz als Uno-Mitglied Verantwortung übernimmt. Das Argument, die Kandidatur stelle die Guten Dienste und die Neutralität infrage, zeugt von einem kurzen Gedächtnis. Auf dem Höhepunkt der Krim-Krise 2014 hatte die Schweiz ein ungleich bedeutenderes Amt in einer multilateralen Organisation inne. Als Vorsitzende der OSZE brachte sie Moskau zusammen mit Berlin dazu, einer Beobachtermission in der Ukraine zuzustimmen.

Der Schweiz und ihren Guten Diensten hat es nicht geschadet. Wichtig ist, dass die Berner Diplomatie diskret, effizient und glaubwürdig agiert. Zudem muss das Aussendepartement realistisch einschätzen, wo es aktiv werden könnte und wo nicht. In der gegenwärtigen Phase des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine gibt es keinen Spielraum, zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln.

Gut, dass dies der Bundesrat eingesehen hat – und sich mit der Übernahme der Sanktionen im westlichen Lager eingereiht hat. Die Gewissheiten der Welt von gestern werden nicht mehr taugen, um die Herausforderungen von morgen anzugehen.

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9. März 2022

Im Moment liegt der aktuelle Fokus der Medien eindeutig auf dem Ukraine-Krieg. Es scheint so zu sein, dass die Welt heute nicht mehr die gleiche ist, wie vor diesem furchtbaren Krieg. Die grosse Friedenszeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dem nachfolgenden Kalten Krieg danach und der praktisch friedlichen Zeitspanne nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches ist vorbei. Pazifistische Bewegungen, wie die sogenannte GSoA in der Schweiz, die eine generelle Entwaffnung forderten, haben nach den brutalen kriegerischen Handlungen von 2014 (Krim-Krise) und dem Krieg im Osten der Ukraine im Donbas und nun dem Angriffskrieg der Russen auf den Staat Ukraine heute eigentlich nichts mehr zu sagen! Aggressive Grossmächte wie Russland, aber auch gefährliche Mächte wie China, lassen die bis jetzt friedlich schlummernden Demokratien v.a. in Westeuropa nicht mehr ruhig schlafen. Es wird wieder aufgerüstet. 

Die Boykotte von Gaz- und Öllieferungen Russlands haben aber auch hier eine ganz neue Situation geschaffen: die bis anhin extreme Abhängigkeit des Westens vom totalitären Russland bewirken ein Umdenken. Der folgende NZZ-Artikel geht auf diese Thematik ein: 

NZZ KOMMENTAR

Der Konflikt mit Russland läutet endgültig das Ende des Erdölzeitalters ein – und auch das Ende einer naiven Energiewende

Washington diskutiert über ein Importverbot für russisches Erdöl. Die Energiepreise haben daraufhin stark angezogen. Die westlichen Staaten sind in einem Dilemma.

 
Gerald Hosp

Die Kunden machen einen grossen Bogen um russisches Erdöl.

Sergei Karpuchin / Reuters

Die Erdölpreise sind am Montag ausser Rand und Band geraten. Der Grund: Der amerikanische Aussenminister Antony Blinken hatte zuvor gesagt, mit Verbündeten über ein Importembargo für russisches Erdöl zu sprechen. Im Zweifelsfall könnte Washington auch einen Alleingang unternehmen. Der Preis für die Erdölsorte Brent sprang auf einen Wert, der zum letzten Mal im Jahr 2008 erreicht worden war. Der europäische Grosshandelspreis für Erdgas trat einen unglaublichen Höhenflug an. Berlin sprach sich aber gegen weitere Sanktionen aus, was diese

Tragik angekündigter Sanktionen

Die tragische Ironie bei dieser Entwicklung ist: Solange nur darüber diskutiert wird, nehmen die Einnahmen für Moskau sogar tendenziell zu, weil die Preise steigen. Besser wäre es, eine Entscheidung zu fällen: Ein Embargo würde einerseits Moskau teilweise von den Erdöleinnahmen abschneiden. In welchem Ausmass, dürfte dann vor allem von der Reaktion aus Peking abhängen. Oder die westlichen Staaten verhängen andererseits keine neuen Sanktionen. Dann dürfte der Erdölpreis wieder sinken – und damit auch die russischen Erdöleinnahmen im Vergleich mit der Situation jetzt.

Am Markt geht man auch hier voran: Ohne formelles Embargo ist es in den vergangenen Tagen bereits zu «Eigensanktionen» in der Erdölwirtschaft gekommen. Russland wird sein Erdöl nicht los. Dies zeigt sich in einem grossen Preisunterschied zwischen dem Referenzwert Brent und der russischen Erdölsorte.

Die Bedeutung Russlands

Das Dilemma des Westens ist offenkundig: Um den Kreml tatsächlich dort zu treffen, wo es richtig weh tut, wären Einschränkungen oder Stopps der Rohstofflieferungen vonnöten. Dies kommt mit einem hohen Preis: In die Höhe schiessende Energiepreise verstärken den Inflationsdruck und könnten zu einer Abschwächung der weltweiten Wirtschaftsentwicklung führen.

Es wäre relativ einfacher, ein Erdölembargo statt einen Erdgaslieferstopp zu verhängen, weil es mehr Öllieferanten gibt und Erdöl leichter zu transportieren ist. Zudem gibt es für Erdöl einen Weltmarktpreis, während die Notierungen für Erdgas stärker regional bestimmt sind. Das heisst, dass auch China oder Indien unmittelbar von hohen Preisen betroffen sind. Dies könnte diese Länder dazu animieren, Druck auf Russland auszuüben.

Warum es zu den Preisturbulenzen kommt, zeigen einige Zahlen: Laut der Internationalen Energieagentur exportiert Russland, der weltweit drittgrösste Ölproduzent, täglich gut 5 Millionen Fass Rohöl und rund 2,85 Millionen Fass Erdölprodukte. Rund 60 Prozent der Exporte gehen nach Europa, 20 Prozent nach China. Derzeit ist das Angebot am Erdölmarkt knapp, zumal auch Iran und Venezuela unter Sanktionen stehen. Saudiarabien und die Opec haben noch nicht versucht, auf den Markt Einfluss zu nehmen. Kurzfristig müsste die Nachfrage zurückgehen.

NZZ KOMMENTAR vom 8.3.2022

Putin zerstört die Zukunft einer ganzen Region

In Russland offenbart sich die volle Wucht des Ressourcenfluchs. Ein Überfluss an Erdöl, Erdgas oder Nickel begünstigt Autokratien und hemmt den Aufbau einer effizienten Wirtschaft. Moskau macht dreissig Jahre nach dem Fall der Sowjetunion gerade die Hoffnungen auf ein besseres Leben zunichte. 

Gerald Hosp

«Ist das Wort Mutterland nur ein bedeutungsloses Wort für dich? Wir haben getan, was das Mutterland von uns verlangt hat.»
Aus dem Buch «Zinkjungen» von Swetlana Alexijewitsch 

Vor rund dreissig Jahren hatte Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, vor einem «Jugoslawien mit Atomwaffen» gewarnt. Doch das Auseinanderfallen des Sowjetreichs und die Trennung der drei slawischen «Bruderstaaten» Russland, Weissrussland und Ukraine verlief friedlich. Moskau erhielt die alleinige Herrschaft über das sowjetische Atomwaffenarsenal. Die Welt feierte den Untergang des russisch-sowjetischen Imperiums als friedvollen Akt, auch wenn es gewalttätige regionale Konflikte gab.

Schnelle Sanktionen

Diese Illusion des geräuschlosen Untergangs eines Reichs fand ihr Ende, als am 24. Februar Russland mit der Invasion der gesamten Ukraine begann. Der Westen wurde aus einem Traum gerissen, er reagierte aber überraschend geeint und schnell mit präzedenzlosen Sanktionen gegen die elftgrösste Volkswirtschaft der Welt: Mehrere russische Banken werden vom internationalen Finanzsystem ausgeschlossen, Wirtschaftsmagnaten, Bürokraten und Politiker direkt mit Sanktionen belegt und Exportverbote für Güter eingeführt, die die russische Rüstungsindustrie und die Flugzeugbranche benötigen.

Die grösste Überraschung waren die Sanktionen gegen die russische Zentralbank, die den Kern der «Festung Russland» ausmacht. Moskau bereitete sich schon einige Jahre mit hohen Währungsreserven und Goldkäufen auf Massnahmen vor. Mit dem Vorgehen der westlichen Staaten gegen die Zentralbank werden diese Reserven aber teilweise entwertet. Selbst der Verkauf von Gold, um an Devisen zu gelangen, erscheint unter diesen Umständen als extrem schwierig.

Die Zentralbank reagierte lehrbuchmässig mit einer Zinserhöhung von 9,5 auf 20 Prozent und Kapitalverkehrskontrollen. So müssen unter anderem Unternehmen 80 Prozent ihrer Devisenbestände an die Zentralbank verkaufen. Die russischen Technokraten versuchen, die Auswirkungen der Sanktionen so gering wie möglich zu halten. Über die Verstaatlichung ausländischer Vermögenswerte wird bereits diskutiert.

Die wichtigsten Instrumente im Arsenal des Westens sind der Dollar und der Zugang zum internationalen Finanzsystem. Die Sanktionen haben bereits kurzfristig zu enormen Wertverlusten in der russischen Wirtschaft geführt. Viele Ökonomen erwarten eine Rezession und hohe Inflation. Zudem haben westliche Firmen wie Ikea, Apple oder H&M Läden geschlossen und lassen die Geschäfte ruhen. Selbst einige Energiefirmen, die bereits rund dreissig Jahre lang im Land waren, kehren Russland nun den Rücken.

Gegenseitige Abhängigkeiten

Offenbar sind aber die bereits verhängten Sanktionen für den Kreml noch nicht abschreckend genug, so dass Russland die kriegerischen Handlungen einstellen würde. Ein Grund dafür ist, dass die Einschränkungen der russischen Wirtschaft zwar einschneidend sind, ein Zusammenbruch aber nicht so schnell bevorsteht. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Einnahmen aus dem Erdöl- und dem Erdgasgeschäft immer noch fliessen. So dürften schätzungsweise mehr als 700 Millionen Dollar täglich vom Westen in das mit Sanktionen belegte Russland strömen. Putins Regime lebt davon.

Deshalb werden Forderungen nach einem Erdöl- und Erdgasembargo laut. Dabei dürfte ein Stopp von Erdölimporten leichter umzusetzen sein. Washington erwägt bereits ein Importverbot für russisches Öl. Erstens sind für den Kreml die Einnahmen aus dem Ölgeschäft bedeutender als diejenigen aus den Erdgaslieferungen. Zweitens sind Ersatzlieferungen für Erdöl relativ gesehen einfacher zu bewerkstelligen als solche beim Erdgas, dessen Transport immer noch zu einem grossen Teil an Pipelines gebunden ist.

Ein Stopp der Energielieferungen ist der grösste Hebel des Westens und gleichzeitig auch seine grösste Achillesferse. Zum Teil ist dies sogar gewollt: Die gegenseitige Abhängigkeit sollte beide Seiten in Sicherheit wiegen. Das Modell orientierte sich daran, dass bereits zu Sowjetzeiten Erdgas und Erdöl in den Westen flossen. Dass diese Logik an ihre Grenzen gestossen ist, zeigt sich deutlich. Gegenseitiger Handel führt nicht für immer und ewig zu mehr Sicherheit.

Der Fluch der Ressourcen

Die russische Wirtschaft wäre eigentlich zu gross, zu vielfältig und auch zu modern, als dass sie sich auf Rohstoffe reduzieren lassen sollte. In Russland zeigt sich jedoch die volle Wucht des Ressourcenfluchs mit schwerwiegenden politischen Folgen: Ein Überfluss an Erdöl, Erdgas, Kohle oder Nickel begünstigt häufig Autokratien, Korruption, ineffizientes Regieren und Konflikte. Durch den Rohstoffreichtum sind Regierungen nicht oder in geringem Mass auf Wähler und Steuerzahler angewiesen. Der Aufbau effizienter Wirtschaftsstrukturen oder innovativer Unternehmen wird dadurch weniger dringlich. Dies ist zwar kein Naturgesetz, aber häufig traurige Wirklichkeit.

In den vergangenen zehn Jahren wuchs die russische Wirtschaft nur gering, die realen Einkommen der Bevölkerung gingen zurück, und das Investitionsklima verschlechterte sich. Dies ist in geringerem Masse auf die westlichen Sanktionen seit 2014 zurückzuführen als auf den Zerfall des Erdölpreises im selben Jahr. Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft flossen dennoch. Der Kreml nutzte diese dazu, aufzurüsten und sich gegen neue Sanktionen zu wappnen.

Ein Regime, das sich auf Petrodollars stützt, läuft wegen der Energiewende in ein Problem hinein: Für Russland besteht nicht mehr die Gewissheit, dass in Zukunft der Ölpreis steigen wird. Lange Zeit musste sich Russland bloss überlegen, ob es den Rohstoff lieber im Boden lassen oder lieber das Geld jetzt schon auf dem Konto haben will. Je erfolgreicher die Energiewende voranschreitet, desto mehr Erdöl oder Erdgas müssen die Produzenten fördern, um die Einnahmen stabil zu halten. Der Hebel verliert an Bedeutung.

Dies gilt auch für den politischen Nutzen von Energielieferungen: So stellt sich die Frage, wie lange das Fenster noch offen ist, in dem die Gasversorgung Europas als Waffe genutzt werden kann. Dies wird auch den Kreml umtreiben. Ressourcenfluch heisst in dieser Hinsicht, dass dadurch nicht nur interne Konflikte angeheizt werden können, sondern auch Angriffskriege finanziert werden.

Die Anekdote mit dem Lachs

Selbst ein Erdöl- und Erdgasembargo dürfte aber nicht zu einem schnellen Erfolg führen. Die Erfahrungen in Iran und Venezuela zeigen, dass vielmehr die bisherigen Profiteure des Regimes noch mehr Einfluss gewinnen könnten. Sanktionen engen die freie Wirtschaft ein, was sich die Geschäftsmänner aus dem engeren Kreis um Putin und die Sicherheitsstrukturen zunutze machen könnten. Der Kuchen wird zwar insgesamt kleiner, für manche werden aber die Kuchenstücke grösser. Der Übergang zu einer Kriegswirtschaft fördert noch stärker eine Günstlingswirtschaft.

Bezeichnend ist eine Anekdote, die der russische Ökonom Sergei Guriew erzählt. Als Russland nach 2014 Gegensanktionen gegen westliche Länder erliess und Lebensmittelimporte unterband, war auch Norwegen dabei, obwohl die Skandinavier Russland nicht mit Sanktionen belegt hatten. Ein mächtiger Geschäftsmann mit einer grossen Lachszucht erkannte aber die Gelegenheit, die Lachsimporte aus Norwegen loszuwerden.

Die Aussichten sehen nicht rosig aus: Russland könnte sich unter dem gegenwärtigen Regime in die Autarkie stürzen. Die politische Repression nimmt dabei zu. Das Land entkoppelt sich von den internationalen Produktionsprozessen und übt noch mehr Druck auf ehemalige Sowjetrepubliken aus, in der russischen Machtsphäre zu verharren. Abgesehen von der Tragödie in der Ukraine wird so das Erbe des russisch-sowjetischen Imperiums auf dieser Region noch länger lasten und eine für alle vorteilhafte Integration in den Westen verhindern.

Eine andere Variante – oder in Kombination damit – ist eine verstärkte Kooperation Russlands mit China. Peking spielt eine Schlüsselrolle dabei, wie die westlichen Sanktionen wirken werden. Dies trifft auch bei einem möglichen Erdölembargo zu. Auch in diesem Szenario fände eine Regionalisierung und Entkoppelung statt. Aufgrund der Unterschiede in der wirtschaftlichen Potenz dürfte Russland für China vor allem ein Rohstofflieferant sein, das unschöne Wort eines Vasallenstaates fällt immer wieder.

«Putins Welt»

«Wir leben nun alle in Putins Welt», schreibt der Politologe Iwan Krastew düster. Selbst Putin dürfte sich in dieser Welt nicht wohlfühlen. Mit der Invasion zerstörte er die Hoffnung der Ukraine, aber auch Russlands und weiter Teile der postsowjetischen Region auf eine Zukunft, in der wirtschaftliche Prosperität wichtiger ist als imperialistische Gelüste.

Der Westen steht vor dem Dilemma, dass die harschen Wirtschaftssanktionen zwar als erste Antwort eine Notwendigkeit waren, dass die Langzeitfolgen aber eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fehlentwicklung zementieren können. Die Wagenburgmentalität wird verstärkt. Ein Kesseltreiben gegen alles Russische hilft dabei nichts. Reformwilligen in Russland sollte eine Perspektive aufgezeigt werden, der Kontakt darf nicht abbrechen. Dazu zählen auch Wirtschaftsbeziehungen.

Nach dem Fall der Sowjetunion waren die Hoffnungen auf ein besseres Leben gross. Damit dieses auch nachhaltig gelingt, muss sich Russland von innen reformieren und demokratisieren. Dass dies ein schwieriger und nicht immer geradliniger, aber ein möglicher Weg ist, zeigt gerade die Ukraine der vergangenen Jahre.

NZZ KOMMENTAR vom 8.3.2022

Damit der Krieg in der Ukraine nicht zum europäischen Flächenbrand wird, braucht es klar definierte «rote Linien»

Militärhilfe an die Ukraine im Kampf gegen Russland ist richtig. Westliche Regierungen müssen sich jedoch einig darüber werden, welche Eskalationsschritte sie ganz bewusst vermeiden sollten.

 
Andreas Rüesch
Ein ukrainischer Soldat testet den Einsatz einer Panzerabwehrrakete. Mit der Lieferung von Tausenden solcher Waffen stärken westliche Länder den ukrainischen Widerstand, machen sich aber auch angreifbar.
Ukrainian Armed Forces / Reuters

Kriege besitzen, abgesehen vom unermesslichen Leid für die direkt Betroffenen, noch eine weitere unheilvolle Eigenheit: Sie haben die Tendenz, sich auszudehnen. Das gilt einerseits in zeitlicher Hinsicht. Die Kaiser von Russland und Deutschland stürzten sich im August 1914 in ein Kriegsabenteuer, von dem sie glaubten, es werde an Weihnachten bereits vorbei sein. Als der Erste Weltkrieg nach vier langen Jahren endete, gab es beide Kaiser nicht mehr.

Aber auch in räumlicher Hinsicht weiten sich Kriege oft aus – in einer Weise, wie sich das die Akteure anfangs nicht vorstellen konnten. Die USA intervenierten in den sechziger Jahren in Indochina in der Absicht, die proamerikanische Regierung Südvietnams gegen die Vietcong-Guerilla zu stützen. Bald sahen sie sich jedoch gezwungen, auch die Nachbarländer Laos und Kambodscha zu bombardieren, um feindliche Nachschubwege zu treffen.

Kühle Strategie statt kopfloses Draufgängertum

Solche historischen Erfahrungen gilt es mit Blick auf die Ukraine zu beherzigen. Zwölf Tage nach Beginn der russischen Invasion lässt sich nicht mit Gewissheit prognostizieren, dass dieser Krieg auf das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Karpaten beschränkt bleiben wird. Um das Risiko einer Ausweitung zu minimieren, braucht es kühle Köpfe auf allen Seiten und gewisse Vorkehrungen.

So ist es zu begrüssen, dass die USA schon vor Monaten Transparenz über ihre Absichten geschaffen haben. Präsident Biden machte klar, dass Amerika die Ukrainer in ihrem Widerstand unterstützen, aber ihnen nicht mit Truppen beistehen wird. Das ist kein Ausdruck von Feigheit, sondern der simplen Erkenntnis, dass der Einsatz amerikanischer Soldaten die Welt einer Konfrontation der beiden grössten Atommächte gefährlich nahe brächte. Das Ziehen solcher «roten Linien» hebt sich ab vom kopflosen Schwadronieren jener, die nun – wie beispielsweise Deutschlands einflussreichster Verleger – einen Kriegseintritt der Nato vorschlagen.

Aus demselben Grund kommt auch die Schaffung einer Flugverbotszone über der Ukraine nicht infrage. Man kann Sympathie haben für diese Forderung der Regierung Selenski, denn ohne russische Flugzeuge am Himmel gäbe es auch keine Bombenabwürfe mehr über ukrainischen Städten. Aber die einzige Organisation, die ein solches Verbot durchsetzen könnte, wäre die Nato. Das westliche Bündnis geriete damit automatisch in einen offenen Krieg mit Russland.

Der Teufel liegt im Detail

All dies ist im Westen weitgehend unbestritten. Doch die Sachlage ist heikler, als es diese relativ einfachen Fälle erscheinen lassen. Ab welchem Punkt sind die USA und ihre Verbündeten nicht mehr blosse Unterstützer der Ukraine, sondern beteiligte kriegführende Nationen? Eine klare Trennlinie lässt sich nicht ziehen. Entsprechend bleibt im Nebel, ab wann Russland auch die Nato-Staaten als Kriegsparteien betrachten wird. 

Richtigerweise machte Biden seinem Gegenspieler Putin im Voraus deutlich, wie weit die USA gehen wollen. Neben der Lieferung von Waffen und nachrichtendienstlicher Hilfe verkündete Washington die Absicht, im Falle einer Okkupation eine ukrainische Untergrundbewegung zu unterstützen. Solche Signale helfen, gefährliche Missverständnisse zu verhindern. Der Kreml wusste frühzeitig, dass der Westen nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit Militärhilfe an die Ukrainer reagieren würde.

Diese Hilfe liegt im sicherheitspolitischen Interesse Europas. Eine Unterwerfung der Ukraine unter russische Herrschaft gilt es zu verhindern, weil damit nicht nur eine Niederlage dieses einen Landes verbunden wäre, sondern weit mehr – eine katastrophale Schwächung der liberalen Weltordnung und das Risiko, dass sich solche kruden Eroberungszüge häufen werden.

Aber die Zurückdrängung Russlands sollte mit Mass verfolgt werden. Manche Eskalationsrisiken kann der Westen sehr einfach vermeiden. Beispielsweise stellt es eine sinnlose Provokation dar, wenn nun einige europäische Staaten ihren Bürgern offiziell erlauben, als Freiwillige in den Krieg gegen Russland zu ziehen. Wenig überraschend fasst Moskau dies als Verletzung einer «roten Linie» auf.

Ebenso empfiehlt es sich, die westlichen Ziele sorgfältig zu definieren. Als gewöhnlicher Bürger mag man sich wünschen, dass Putin gestürzt wird und vor dem Internationalen Strafgerichtshof landet. Aber das sollte nicht zum offiziellen Ziel der westlichen Sanktionspolitik deklariert werden. Deren Aufgabe ist es, Russland zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, und nicht, den Kremlherrn in eine Ecke zu drängen, in der er nichts mehr zu verlieren hat.

Unterstützung von ausserhalb der Ukraine

Solche Abwägungen sind in vielen Bereichen nötig. Beispielsweise unterstützen Spezialisten des Pentagons die Ukraine darin, russische Hackerangriffe zu vereiteln. Aber richtigerweise tut dies das Cyberkommando der USA nicht mehr in Kiew selber, sondern von Stützpunkten ausserhalb der Ukraine aus. Wenn die Nato-Staaten nicht als kriegführende Nationen wahrgenommen werden wollen, müssen sie auch weiterhin auf die Entsendung von Militärberatern und Waffeninstruktoren verzichten.

Heikel ist der von der Regierung in Warschau erwogene Plan, polnische Kampfflugzeuge der Ukraine zu überlassen. Formal ist das eine Waffenlieferung wie andere auch. Doch durchgeführt würde ein solcher Transfer durch ukrainische Kampfpiloten, was aus russischer Sicht wie ein Luftwaffeneinsatz von Nato-Territorium aus wirken könnte. Zumindest müsste Polen zuvor klarstellen, dass es nicht die Absicht hat, der Ukraine Stützpunkte für Angriffe auf russische Ziele zur Verfügung zu stellen.

Das Tempo und die Entschlossenheit, mit der westliche Staaten den ukrainischen Widerstand stärken, sind beeindruckend. Allein schon die verblüffende Zahl von über 20 000 Panzerabwehrraketen, die in diesem Jahr die Ukraine erreicht haben sollen, geben Hoffnung auf ein Debakel Putins. Es wäre eine Wiederholung der Niederlage, die einst die Sowjetunion in Afghanistan erlitten hatte und die zum Kollaps dieser Grossmacht führte. Moskau nahm damals die amerikanische Militärhilfe für die afghanischen Widerstandskämpfer hin, ohne den Krieg auf die Nachschublinien im Ausland auszuweiten. Der Westen kann nun seinerseits mit der Einhaltung klug definierter «roter Linien» dazu betragen, eine solche Eskalation zu vermeiden.

7. März 2022 

Was gibt es Aktuelleres im Moment, als der blutige Krieg Russlands in der Ukraine! Ich möchte hier einige sehr informative Artikel der heutigen NZZ aufschalten, die einige wichtige Punkte rund um diesen furchtbaren Krieg beleuchten. 

Schon seit einiger Zeit tobt der Krieg nun in der Ukraine. Bis jetzt sind mehr als 1,5 Mio Menschen auf der Flucht vor  der russischen Armee. Ganz offensichtlich wurden die russischen Kriegsziele, so, wie sie ursprünglich von Putin eingeplant waren, nicht erreicht. Die ukrainischen Truppen, aber nicht weniger die Zivilisten der Ukraine, leisten nach wie vor  erbitterten und heldenhaften Widerstand! 

Dieser Krieg, dieser Angriff auf ein friedliches Land, der von Russland unter dem Präsidenten Putin durchgeführt wird, wird klar und deutlich von den meisten Ländern dieser Erde nicht gutgeheissen. Der Kriegstreiber Russland wird von überwältigend vielen Ländern boykottiert und isoliert. Der russische Präsident hält nichtsdestotrotz weiter an seinem Ziel fest, die ukrainische Regierung zu stürzen und aus der Ukraine einen Vasallenstaat Russlands zu machen. Dazu benutzt er seine Truppen und  auf der Ebene der psychologischen Kriegsführung die primitivsten Argumente. Es wurde zudem rund um diesen bis jetzt schon blutigen Krieg erwartet, dass von russischer Seite auch gleichzeitig mit der einfallenden Armee  ein sogenannter "Cyber War" stattfinden wurde. Der ist bis jetzt ausgeblieben! Warum, was sind die Gründe, dass sich hier Russland so zurückhaltend zeigt? Der folgende NZZ-Artikel geht auf diese Thematik ein: 

NZZ vom 7. März 2022 

KOMMENTAR

Der grosse Cyberschlag Russlands ist ausgeblieben. Doch die Gefahr für eine Eskalation wächst

Cyberangriffe eignen sich nicht für die heisse Phase eines Kriegs. Doch im Konflikt mit dem Westen setzt Russland möglicherweise schon bald auf Cybermilizen. Das könnte ungeahnte Konsequenzen haben – bis hin zur Ausweitung des Kriegs.

 
Lukas Mäder24 Kommentare07.03.2022, 05.30 Uhr
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Mit einem Cyberangriff den Strom ausschalten: Was viele erwartet hatten, ist zu Beginn der russischen Invasion ausgeblieben. Blick in den Kontrollraum eines Kraftwerks in Kiew.

Vincent Mundy / Bloomberg 

Die Erkenntnis aus der russischen Invasion der Ukraine ist banal: Um Städte zu erobern oder einen Präsidenten abzusetzen, reichen Cyberangriffe nicht aus. Um sich gegen einen militärischen Aggressor zu verteidigen, ebenso wenig. Der grosse Cyberkrieg, wie ihn viele erwartet hatten, findet in der Ukraine nicht statt.  

In den letzten Jahren hatte sich weitherum die Ansicht durchgesetzt, die Konflikte des 21. Jahrhunderts würden im Internet geführt. Cybertruppen statt Artillerie oder Kampfjets war die Losung, nicht nur im linken politischen Spektrum. Für die westliche Bevölkerung waren in den letzten zwanzig Jahren blutige Kriege weit entfernt. Gleichzeitig begannen sich Cyberangriffe zu häufen, die Industrieanlagen stilllegten oder Datendiebstahl zur Folge hatten. Das war die reale Bedrohung. 

Und Russland war stets vorne mit dabei, nicht nur als sicherer Hafen für Cyberkriminelle. Das Land hatte in der Ukraine seit 2014 einen Vorgeschmack gegeben, wie der Cyberkrieg der Zukunft aussehen könnte: Beeinflussung der ukrainischen Wahlen, Stromausfälle – und mit der Schadsoftware NotPetya ein Angriff auf die Wirtschaft, der aus dem Ruder lief und weltweit Schäden in Milliardenhöhe verursachte. 

Die Ukraine war nach der Annexion der Krim zu einem Testlabor für den Cyberkrieg geworden. Russland hatte das Bild des zerstörerischen Konflikts im Cyberraum geprägt. Nun könnte sich diese Idee als Mythos herausstellen. 

Die Wirkung von Cyberangriffen verpufft rasch 

Grundsätzlich gibt es ein grosses Missverständnis: Entgegen der landläufigen Ansicht sind Cyberangriffe für den heissen Krieg schlecht geeignet. Das Eindringen in gegnerische IT-Systeme ist kompliziert und benötigt Zeit, Personal und Know-how. Weil sich kaum eindeutig nachweisen lässt, wer hinter einem Angriff steckt, sind Cyberaktionen das perfekte Instrument für verdeckte Operationen, im Graubereich zwischen Krieg und Frieden. 

Um eine kritische Infrastruktur zu stören, eignen sich Cyberangriffe nur beschränkt. Eine Operation kann nur einmal erfolgreich sein. Sobald die Auswirkungen spürbar werden, fliegt der Angriff auf. Zudem dauert die Störung oft nur wenige Stunden, da die Infrastruktur meist nicht dauerhaft physisch beschädigt wird wie bei einem Raketenangriff. In der Westukraine etwa fiel der Strom Ende 2015 trotz monatelanger Vorbereitung der Angreifer nur lokal für maximal sechs Stunden aus.  

Elektronische Aktionen haben in militärischen Kampfhandlungen dennoch einen festen Platz. Und sie finden derzeit bestimmt auch in der Ukraine statt. Meist geht es bei der sogenannten «Electronic Warfare» um elektromagnetische Signale: das gegnerische Radarsystem stören, Funksignale lokalisieren oder GPS-Signale manipulieren. Das Hacken des Feindes – im Sinne eines Eindringens in deren IT-Netzwerke – gilt aber als zu langwierig, um damit auf aktuelle Entwicklungen auf dem Schlachtfeld zu reagieren. 

Trotzdem war erwartet worden, dass Russland Sabotageaktionen vorbereitet und kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine mittels Cyberangriffen zum Beispiel den Strom oder das Internet ausschaltet. Das ist nicht geschehen. Warum? Noch liegen zu wenige Fakten vor, um diese Frage klar zu beantworten. Es gibt aber Indizien. 

Russland hatte möglicherweise Probleme beim Angriff 

Wenige Stunden vor der Invasion gab es koordinierte Cyberangriffe auf ukrainische Behörden und Unternehmen. Eine sogenannte Wiper-Schadsoftware löschte oder veränderte Dateien auf den betroffenen Rechnern, so dass diese nicht mehr funktionierten. Die Spur dieser Operation reicht Monate zurück. Auch über einen Angriff auf das Satellitensystem der Betreiberin Viasat wird spekuliert. 

Russland hat also Cyberoperationen mit langer Vorlaufzeit gestartet. Dabei sind die Angreifer aber offenbar auf Hindernisse gestossen. Denn sie haben gemäss technischen Analysen versucht, die Abwehrmassnahmen zu verstehen, um sie zu umgehen. Möglicherweise wurden sie von den Sicherheitsmassnahmen der ukrainischen IT-Systeme überrascht. 

Das könnte bedeuten, dass Russlands Fähigkeit zu einer breiten Cyberoffensive überschätzt wurde. Oder aber die Abwehr auf ukrainischer Seite wurde unterschätzt. Denn die Ukraine hat in den letzten Jahren Lehren gezogen aus den zahlreichen Angriffen und sowohl seine IT-Sicherheit als auch die Notfallplanung verbessert.  

Ukraine trumpft im Informationskrieg auf 

Nun ist der Krieg in eine neue Phase getreten. Mit der Verlangsamung des russischen Vormarsches haben die Cyberoperationen eine grössere Bedeutung bekommen. Die ukrainische Cybersicherheitsbehörde spricht von konstanten Aktionen gegen die Netzwerke der Behörden, welche grosse Kräfte für die Abwehr binden. Der Druck auf den Gegner wird auch mit Cyberattacken hoch gehalten. 

Öffentlich sichtbar sind die Aktivitäten im Informationskrieg. Die Ukraine setzt dabei auch eine raffinierte Mischung aus politischen Mitteln, Cyberoperationen und Propaganda. Sie kann damit in der westlichen Öffentlichkeit punkten. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Kommunikationsstrategie nicht erst nach dem russischen Überfall kurzfristig entworfen worden war. 

Teil des Kriegs im Internet sind auch neue Cybermilizen: Hacker unter Anleitung der ukrainischen Behörden oder Gruppierungen von Freiwilligen, die gegen Russland agieren. Ihre Aktionen sind meist darauf angelegt, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen. Das geschieht durch das Verunstalten von Internetauftritten, das vorübergehende Lahmlegen von Websites durch Überlastung oder das Publizieren von Informationen, die aus kleineren Datenlecks stammen. 

Zum Nebel des Krieges, der aufgezogen ist, gehören auch gefährlichere Gruppierungen. Russland und die Ukraine sind zwei Schwergewichte der globalen Cyberkriminalität. In beiden Ländern sind Mitglieder berüchtigter Ransomware-Gruppen zu Hause. Wenn sich diese Gruppen als Cybermilizen in den Konflikt einmischen, könnte das zu schwerwiegenden Cyberangriffen auf Firmen oder kritische Infrastrukturen führen. Auch im Westen. 

Kurz nach Beginn der Invasion hat eine berüchtigte Gruppe von Cybererpressern, die derzeit sehr aktive Conti-Gruppe, dem Westen gedroht. Es wird zudem vermutet, dass der russische Inlandgeheimdienst FSB im Januar Cyberkriminelle mit Verhaftungen enger an die Leine genommen hat – um sie jetzt für den Konflikt einzuspannen. Auf der Gegenseite hat die Ukraine ihre eigene Hacker-Community aufgerufen, in den Kampf gegen Russland zu ziehen. 

Russland könnte sich für die Sanktionen rächen 

Damit hat der Konflikt alle Zutaten für eine Eskalation im Cyberraum. Die westlichen Länder haben mit der Verhängung von Sanktionen Massnahmen ergriffen, für die sich Russland rächen könnte. Als Mittel dazu würden sich Cyberangriffe geradezu anbieten. Denn der Konflikt mit dem Westen findet derzeit noch unterhalb der Kriegsschwelle statt. 

Denkbar sind etwa Angriffe auf Behörden oder Unternehmen von Ländern wie die USA, Grossbritannien oder Deutschland. Diese haben nicht nur Sanktionen verhängt, sondern liefern auch Waffen in die Ukraine. Auch Einrichtungen in der Schweiz können ins Visier geraten: zum Beispiel Banken, die russische Gelder eingefroren haben, oder jenes der weltweit drei Datenzentren des Finanzdienstleisters Swift, das im Thurgau steht

Dieses Szenario ist beunruhigend. Ein direkter Cyberangriff Russlands auf ein westliches Land könnte die Situation rasch eskalieren lassen. Russland setzt deshalb für seine Rache möglicherweise auf kriminelle Gruppierungen. Der Kreml kann so eine Beteiligung besser abstreiten. 

Wenn sich halb- oder nichtstaatliche Gruppierungen in den Konflikt einmischen, steigt aber das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation. Denn diese Cybermilizen sind schlechter zu kontrollieren und führen ihre Angriffe womöglich weniger präzise durch. Es kann zu Sololäufen oder Kollateralschäden kommen. 

Im schlimmsten Fall könnte sogenannte kritische Infrastruktur wie die Energie- oder Wasserversorgung – beabsichtigt oder nicht – Opfer einer Cyberattacke werden. Das betroffene Land könnte den Angriff als faktische Kriegserklärung ansehen. Und die Nato hat klargemacht, dass eine solche Attacke unter Umständen gar den Bündnisfall auslösen würde. 

Cyberabwehr muss erste Priorität haben 

Für eine abschliessende Bilanz der Cyberoperationen im Rahmen des Ukraine-Krieges ist es noch zu früh. Doch ein Trend ist unübersehbar: Schwere Cyberangriffe spielen eine weit weniger wichtige Rolle als im Vorfeld angenommen. Dafür ist die Intensität des Informationskriegs, der schon seit Jahren im Gange war, massiv angestiegen. 

Insgesamt könnte das bedeuten, dass die Möglichkeiten von offensiven Cyberaktionen im militärischen Bereich tendenziell überschätzt werden. Dass ein Staat eigene Cyberoperationen durchführen kann, ist zwar entscheidend für die Spionage und den Informationskrieg. Doch die Vorstellung von Cyberschlägen gegen kritische Infrastrukturen bröckelt. 

Ganz anders bei der Verteidigung: Der Ukraine-Krieg zeigt, dass ein vermeintlich unterlegenes Land gegen eine Cybersupermacht wie Russland bestehen kann – dank einem funktionierenden Dispositiv zur Abwehr von Angriffen. Wichtig dabei ist ein umfassender Ansatz. Die Verteidigung im digitalen Raum funktioniert nicht wie eine Burgmauer, die alle Angriffe von aussen abwehren soll. In einer vernetzten Welt müssen Behörden und Wirtschaft auf allen Stufen ihren Beitrag leisten. Diese Aufgabe kann ein Land nicht alleine der Armee überlassen. 

Leider besteht bei der IT-Sicherheit noch grosser Nachholbedarf, in der Schweiz wie im Ausland. Der Stand entspricht nicht der Bedrohung. Der Vorteil dabei: Sind Behörden und Unternehmen gut vor Cyberangriffen geschützt, nützt ihnen das nicht nur bei einer erhöhten Bedrohungslage wie derzeit wegen des Ukraine-Konflikts. Gute Sicherheitsstandard helfen auch in normalen Zeiten gegen Cyberangriffe von Kriminellen oder Spionen.

Mit dem Einfall in die friedliche Ukraine der russischen Armee im Februar 2022 hat wohl sicherlich eine neue Zeit v.a. in Europa begonnen. Die friedliche Periode nach dem Ende des Kalten Krieges nach dem Zerfall der Sowjetunion nach 1989 scheint vorbei zu sein. Der Angriffskrieg Russlands weckt in ganz Europa auch viele alte Ängste einer möglichen atomaren  Auseinandersetzung. Der folgende NZZ Artikel geht dem nach: 

NZZ GASTKOMMENTAR vom 7. März 2022

Das Ende der Illusionen – Gehen wir einem neuen Zeitalter der Konfrontation und der Grossmachtrivalität entgegen?

Mit Putins Krieg gegen die Ukraine liegt die europäische Ordnung in Scherben. Nichts wird mehr so sein, wie es war.

 
Ulrich Schlie
 
Wird die Europäische Union ihren eigenen sicherheitspolitischen Bekundungen auch wirklich Taten folgen lassen?
 

Der Weltprozess gerate plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, schienen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein: So beschrieb Jacob Burckhardt in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» das Wesen der Krise als grosser Beschleunigerin. Mit einem eklatanten Verstoss gegen das Völkerrecht, dem Krieg gegen den unabhängigen europäischen Staat Ukraine, hat Putin versucht, die Ergebnisse der europäischen Revolutionen von 1989/90 zu seinen Gunsten zurückzubuchstabieren. Wenn demnächst in der Ukraine ein Marionettenregime von Putins Gnaden installiert sein wird, wird sich der russische Waffengang

Die europäische Ordnung liegt bereits in Scherben. Nichts wird mehr so sein, wie es war. Ein Russland unter Putins Führung ist als Partner nicht mehr vorstellbar. Die Krise der alten Ordnung wird nicht zu einer schönen neuen Welt, sondern zu einem neuen Zeitalter der Konfrontation und der Grossmachtrivalität führen. Erinnerungen an die sowjetische Aussenpolitik werden wach. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Putin hat indes in der deutschen Sicherheitspolitik geschafft, wozu in den letzten 20 Jahren kein Kanzler willens und keine Koalition fähig war: eine sicherheitspolitische Kehrtwende, die die Realitäten anerkennt und die Nato-Verteidigungsziele erreicht.

Warum gerade jetzt?

Weltordnungen bleiben nie statisch, sie verändern sich. Die Dynamik internationaler Beziehungen wird seit je beeinflusst von technologischen, wirtschaftlichen, sozialen, ideengeschichtlichen oder völkerrechtlichen Entwicklungen. Internationale Konstellationen und innerstaatlicher Systemwandel müssen dabei immer als zusammenhängendes Ganzes gesehen werden. Putins Flucht in den Krieg sagt viel aus über den inneren Zustand seines Landes. Die jüngsten Ansprachen lassen eine Gehetztheit und Aggressivität erkennen, die nur als Schwäche ausgelegt werden kann. Je gefestigter ein Land in seinem Inneren ist, je grösser der demokratische Grundkonsens, das Einverständnis über gemeinsame Positionen, desto berechenbarer wird seine Aussenpolitik erscheinen.

Warum hat Putin ausgerechnet jetzt den Zeitpunkt für seine Aggression gesucht? Strategische Unsicherheiten, die innere Krise der Europäischen Union, vermehrte Zeichen amerikanischer Schwäche unter Präsident Biden haben dazu beigetragen. Der überstürzte und auch mit den Verbündeten schlecht abgestimmte Abzug aus Afghanistan steht dafür. Die amerikanische Hegemonie befindet sich im Niedergang, Chinas machtpolitischer Aufstieg ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch sicherheitspolitische Bedrohung und eine Auseinandersetzung der Systeme. Zugleich nehmen die Erosionserscheinungen innerhalb der demokratischen Systeme zu. Die Brüchigkeit der freiheitlichen Ordnung hat sich in der Geschichte immer dann besonders deutlich manifestiert, wenn Bindungen nachliessen und der Zusammenhalt schwand.

Europa und Amerika

Die gegenwärtige Krise lenkt insbesondere den Blick auf die machtpolitische Asymmetrie zwischen Europa und Amerika. Diese Asymmetrie ist zunächst nichts grundlegend Neues. Sie war in der Ordnung von Jalta und Potsdam angelegt und hat auch in den ersten zwanzig Jahren nach dem Fall der Mauer fortbestanden, als sich Amerika von 1990 bis etwa 2006 auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befand. Aber diese Asymmetrie können sich weder Europa noch Amerika auf absehbare Zeit leisten, wenn sie im Zeitalter der neuen Machtrivalität nicht weiter geschwächt (Amerika) oder gar marginalisiert (Europa) werden wollen.

In welche Welt gehen wir? Im strategischen Wettbewerb der Zukunft geht es vor allem darum, wie ein Leben in Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Nachhaltigkeit möglich ist. Er wird sich – insbesondere innerhalb der internationalen Organisationen – im Ringen um Handels-, Technologie-, Industrie-, Gesundheits-, Sicherheits-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards oder um Eigentumsrechte ausdrücken. Gravierendste Folge dieses Wettbewerbs ist eine geoökonomische Neuordnung der Welt, bei der die Karten von Macht und Einfluss neu gezeichnet werden.

Russlands Selbstzweck

Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und asiatische Flankenmacht war der geopolitische Verlierer des Zusammenbruchs der Ordnung von Jalta und Potsdam im Jahr 1989/90, und Russland wird ein zweites Mal Verlierer sein mit seinem gegenwärtigen Versuch des Revisionismus. Russland ist es nicht gelungen, die Hypotheken aus der imperialen Vergangenheit der Sowjetunion abzustreifen. Das Land wird damit mehr und mehr vom Subjekt, das die politischen Entwicklungen Europas und der Welt beeinflussen wollte, zum getriebenen Objekt, das mit zunehmenden innenpolitischen Erosionserscheinungen, wirtschaftlicher Schwäche und Anlehnung an China als Juniorpartner zurückgeworfen wird. Der vollständige Anschluss an den Westen misslang, deshalb verblieb als Kategorie nur die Erhaltung der eigenen Macht.

Das Denken in Kategorien der Grossmachtpolitik geht in der Tradition der russischen Politik bis in die 1930er Jahre zurück. Ein wirtschaftlich empfindlich geschwächtes Russland unter Putin, das zugleich Nuklear- und Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist, wird weiter unberechenbar bleiben und sich nolens volens an der Seite Chinas wiederfinden. Bei den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen besteht ein deutliches Ungleichgewicht zugunsten Chinas, das traditionell gegenüber Russland einen Überlegenheitsanspruch erhebt.

China ist vor allem daran interessiert, Rohstoffe aus Russland zu beziehen, und betrachtet den Nachbarstaat in erster Linie als Absatzmarkt für seine Fertigprodukte. Russland ist für Europa geografisch, historisch und politisch näher als China, die europäische Geschichte ist seit Jahrhunderten auf vielfältige Weise mit der Geschichte Russlands verbunden.

Europa braucht Russland für die Lösung der unbewältigten Aufgaben auf dem Balkan und in Europas Peripherie. Zu den strategisch weitreichendsten Verschiebungen der geopolitischen Kräfteverhältnisse zählt zudem das künftige Verhältnis zwischen Russland und der Türkei, die ihrerseits in einer tiefen Orientierungskrise steckt und fortgesetzte Neupositionierungsversuche unternimmt.

Europa muss strategisch denken

Entscheidend für die künftige Entwicklung der Staatenwelt wird die Frage sein, ob sich der schon seit einiger Zeit anhaltende strategische Rückzug der Vereinigten Staaten und der damit verbundene Einflussverlust fortsetzen wird und ob die Europäische Union ihren eigenen ambitionierten Bekundungen endlich Taten folgen lässt, ihre Kultur der Selbstzufriedenheit abstreift und sich zu strategischem Denken und Handeln aufschwingt. Die wirtschaftliche und moralische Stärke der atlantischen Gemeinschaft gründet auf geteilten Werten. Die Artikel-fünf-Aufgaben des Washingtoner Vertrages werden im neuen strategischen Konzept der Nordatlantischen Allianz eine Renaissance erleben. Landesverteidigung als Bündnisverteidigung wird eine Kernaufgabe bleiben, die Systemrivalität zu Russland und China wird beim Namen genannt werden.

Eine noch grössere Klarheit über die eigene Rolle ist unerlässlich. Nicht nur Deutschland als wirtschaftlich potentestes Land Europas braucht einen Prozess des politischen Umdenkens und die Bereitschaft zu einer Neugestaltung. Gerade aber Berlin mit seinem noch unterentwickelten strategischen Kompass muss eine neue europäische und geopolitische Verantwortung anzunehmen bereit sein. Wenn aber Europa seine Chancen auf Gestaltung verpasst und nicht zu einer neuen Partnerschaft mit Amerika findet, dann wird sich der strategische Bedeutungsverlust Europas fortsetzen.

Damit die Nordatlantische Allianz ihre künftige strategische Bedeutung definieren kann, wird die gemeinsame Beantwortung der über den Geltungsbereich des Washingtoner Vertrages hinausreichenden geopolitischen Fragen eine entscheidende Rolle spielen. Dabei geht es insbesondere auch um die mit den Turbulenzen im Nahen Osten, dem Aufstieg Chinas und den Entwicklungen Asiens verbundenen Fragestellungen. Die Krise der Ordnung ist eine globale Krise und wird uns noch auf absehbare Zeit fordern. Wenn jetzt das Ende der Illusionen gekommen ist, wäre dies zumindest ein Anfang.

Ulrich Schlie ist Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung und Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Cassis) an der Universität Bonn.

Es muss davon ausgegangen werden, dass dieser Ukraine-Krieg noch länger dauern wird. Die russische Armee hat bis jetzt nicht erreicht, was geplant war. Obwohl die russischen Truppen zahlenmässig den ukrainischen weit überlegen sind, wehren sich die Angegriffenen heldenhaft und haben dem Feind bereits schwere Schläge erteilt mit Tausenden von Opfern. Da stellt sich die Frage, ob ein unmenschlicher Despot wie Wladimir Putin überhaupt in der Lage sein wird, ein tapferes Volk, das sich heroenhaft und hochmotiviert zur Wehr setzt, zu besiegen? Der folgende NZZ-Artikel geht dieser Frage nach

NZZ vom 7. März 2022

Krieg in der Ukraine: Hier zählt nicht militärische Macht, sondern kommunikatives Geschick

Seit dem Beginn der russischen Invasion tobt im Netz ein beispielloser Informationskrieg. Darin stehen die publizistischen Söldner Putins einem Schwarm der vernetzten Vielen gegenüber, angeführt vom ukrainischen Präsidenten Selenski.

 
Bernhard Pörksen07.03.2022, 05.30 Uhr

Kampf um Deutungshoheit in Zeiten des Krieges: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (sitzend) bei einer Medienkonferenz am 3. März 2022 in seiner offiziellen Residenz in Kiew.

Laurent Van Der Stockt / Getty

Es ist ein peinlicher Fehler, ein Missgeschick mit Symptomcharakter. In den Morgenstunden des 26. Februar, zwei Tage nach der von Lügen strotzenden Rede Wladimir Putins und dem Überfall auf die Ukraine, geht ein Artikel des Kolumnisten Pjotr Akopow online. Und wird kurz darauf wieder gelöscht. Doch da ist es bereits zu spät. 

Akopow arbeitet für die staatliche Nachrichtenagentur Ria. Er feiert in seinem vorproduzierten Artikel den Sieg Russlands über die Ukraine. Nun habe das Land seine Einheit wiederhergestellt. Die «Ära westlicher globaler Herrschaft» sei an ihr Ende gekommen. Und die Ukraine werde nun «umgebaut, neu gegründet und zurück zu ihrem natürlichen Zustand als Teil der russischen Welt gebracht». So weit die Propaganda-Arie des Journalisten, an der nichts stimmt, die aber doch gleich in mehrfacher Hinsicht bezeichnend ist.

Zum einen, das ist seit langem bekannt, sind Kriege die grosse Stunde der Falschmeldungen und Lügen. Zum anderen wird durch den Blick in den Maschinenraum der Propaganda offenbar, wie unmittelbar man auf russischer Seite mit einem Sieg rechnete, wie verstörend also die Einsicht für den Diktator Putin sein muss, dass seine Pläne nicht reibungslos aufgehen. Und schliesslich zeigt sich hier am konkreten Fall, dass es zwei miteinander rivalisierende Parallelwirklichkeiten gibt, die die öffentliche Wahrnehmung prägen.

Zwei Wirklichkeiten

Die erste ist in der analogen Welt angesiedelt. Hier donnern Panzer Richtung Kiew. Hier werden ukrainische Soldaten und Zivilisten umgebracht, sterben auf der Flucht, im Bombenhagel, gehetzt und gejagt. Hier sind die Kräfteverhältnisse klar, auch wenn sich die Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Mut der Verzweifelten verteidigen. Putin hat in dieser ersten Wirklichkeit alle Möglichkeiten, das unterlegene Volk zusammenschiessen zu lassen, und er tut dies, kaltblütig und brutal. Sein militärischer Sieg ist allein eine Zeitfrage. Und Erfolg heisst hier: Die Unterlegenen strecken die Waffen.

In der zweiten, der kommunikativ erzeugten Netzwirklichkeit stellen sich die Kräfteverhältnisse nach mehr als einer Woche Krieg jedoch anders dar. Hier marschiert Putin in Richtung Niederlage, dies natürlich nicht wegen ein paar Fehlern willfähriger Journalisten wie einem vorschnell veröffentlichen Jubel-Artikel, sondern weil hier grundsätzlich andere Spielregeln gelten – und sich die westliche Welt in seltener Einmütigkeit solidarisiert.

Hier, in der Netzwelt, heisst Erfolg: seine Narrative durchsetzen, Deutungshoheit erringen, effektiv für das eigene Gesellschaftsmodell werben. Und hier ist das militärische Machtgefälle zwischen Russland und der Ukraine nicht mehr spürbar, im Gegenteil. Denn im Netz stehen sich zwei publizistische Grossmächte gegenüber.

Auf der einen Seite: die totalitäre Gewalt, verkörpert durch Putin. Er thront wie ein Herrscher aus der Ferne, wie ein rätselhafter, undurchdringlicher Dämon an einem riesenhaften Tisch, die Welt auf Abstand, einen ängstlich vor sich hin haspelnden Untergebenen wie den Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergei Naryschkin, vor globalem Publikum abkanzelnd. Vorbei die Zeit, als Putin – dampfend vor Männlichkeit, zwischen Poster-Boy-Image und klassischer Helden-Ikonografie oszillierend – mit nacktem Oberkörper durch die sibirische Taiga ritt, im Judokostüm seinen Gegner auf die Matte warf oder von der Jagd oder dem Angelausflug kommend seine Beute in die Kamera hielt.

Heute regiert er als Kommandeur, der Befehle gibt. Seine Söldner ziehen los, um den ukrainischen Präsidenten ermorden zu lassen. Seine Medien schreiben von einer militärischen Operation. Begriffe wie Krieg und Invasion sind verboten. Armeen von Trollen ziehen durch die sozialen Netzwerke, um Andersdenkende niederzubrüllen, Meinungsmehrheiten zu simulieren, Angst und Schrecken zu verbreiten, der ukrainischen Zivilbevölkerung zu drohen.

Die Macht der vernetzten Vielen

Auf der anderen Seite im publizistischen Grosskonflikt dieser Tage: die plötzlich aufschäumende Macht der vernetzten Vielen, dirigiert von dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, der sich als Meister der strategischen Kommunikation in den digitalen Netzwerken entpuppt. Mehrfach täglich postet er Videos und Botschaften auf seinen Kanälen, die Menschen überall in westlichen Ländern übersetzen, verbreiten und auch einmal mit Hip-Hop-Beats unterlegen. Man erlebt ihn in ganz unterschiedlichen Rollen und an ganz unterschiedlichen Orten, mal nachts vor dem Präsidentenpalast, mal zusammen mit seinen Ministern in einem Bunker. Mal sieht man ihn im militärgrünen T-Shirt, dann wieder im Pulli, unrasiert, blass und erschöpft. An die Stelle der gewalttätigen Autorität eines Putin tritt hier existenzielle Authentizität. Eben in diesem Charisma der Verletzbarkeit liegt das Faszinationsgeheimnis Selenskis.

Worin besteht die Medienmacht des ukrainischen Präsidenten, wie lässt sich sein Einfluss auf die öffentliche Meinung der westlichen Welt erklären? Vier Gesichtspunkte.

In narrativer Hinsicht ist es die archetypisch bekannte, sofort verständliche David-gegen-Goliath-Geschichte, die hier wirkt. Weltanschaulich-ideologisch gesehen erscheint der ukrainische Präsident längst als Symbolfigur der offenen Gesellschaft. In ethisch-moralischer Hinsicht ist es der Einsatz des eigenen Lebens, die Weigerung zu fliehen, die Menschen auf der ganzen Welt berührt und erschüttert. (Er brauche keine Flucht- und Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen, so liess er die USA wissen.) Und medienanalytisch betrachtet kommt einem Selenski in diesen Tagen auf allen Kommunikationskanälen ganz nah; fast scheint es so, als würde man ihn kennen, als sei er – eben durch die medial hergestellte Vertrautheit – zum Verwandten geworden, zum Freund, dessen Mut man bewundert.

Er selbst tut im Angesicht seines womöglich baldigen Todes kaum etwas anderes, als den Aggressoren zu drohen und um Beistand zu bitten – bei ausländischen Regierungschefs, Plattformbetreibern, dem eigenen Volk, der Weltbevölkerung. Entscheidend ist: Er und seine Leute mobilisieren durch die Auftritte in den sozialen Netzwerken. Sie animieren zur Bildung einer Gemeinschaft, die man – im Gegensatz zu einem strikt hierarchisch geprägten Kollektiv mit klar definierbaren Innen-aussen-Grenzen – als Konnektiv bezeichnen könnte. Es ist eine Organisation ohne Organisation, eine Individual-Masse und Ich-wir-Gemeinschaft, die mithilfe der digitalen Medien und durch das Teilen von Informationen mit gemeinsamem Fokus entsteht.

Das Attraktivitätsgeheimnis eines solchen Konnektivs besteht in der Mischung aus Offenheit und zielgerichteter Partizipation, aus individueller Sichtbarkeit und Zugehörigkeitsgefühl. Man arbeitet gemeinsam, fühlt sich der einen Sache verpflichtet. Aber wer genau ist Teil des Konnektivs zur Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit?

Schwer zu sagen. Und kaum zu kontrollieren. Da sind diejenigen, die sich vor Ort und im Land über Facebook vernetzen und Strassenschilder abmontieren, um die Angreifer in die Irre zu führen. Da sind diejenigen, die Ermutigungsvideos und Dokumente der Zivilcourage posten, die Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails verbreiten, auf Twitter Tipps geben, wie man Strassensperren baut und Fluchtwege plant. Da sind die Plattformbetreiber, die auf einmal russisches Werbegeld zur Verbreitung von Desinformation zurückweisen, ihren pseudoneutralen Opportunismus der Vergangenheit über Nacht aufgeben. Und sich mit der Ukraine verbünden. Da ist ein 19-jähriger Jugendlicher aus Florida, der einen Bot programmiert, mit dem man die Flugrouten der Oligarchen-Helikopter und -Privatjets verfolgen kann. Da sind diejenigen, die aus unterschiedlichen europäischen Ländern auf den Restaurant-Empfehlungsportalen in Moskau und anderswo Berichte über den Krieg Putins und die Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung liefern, um die aggressiv durchgesetzte Informationskontrolle in Russland zu unterlaufen.

Und so könnte man immer weitere Player aufzählen. Könnte von Gruppen und Initiativen berichten, die systematisch Propaganda-Postings der russischen Seite entlarven oder Dokumente der Grausamkeit sammeln, auch für spätere Prozesse in Den Haag. Man könnte von einzelnen Wikipedia-Teams erzählen, die seit dem Tag der Invasion in Echtzeit faktengesättigte, mit Hunderten von Fussnoten gespickte Artikel in zahllosen Sprachen der Welt produzieren. Könnte von den Hackern berichten, die auf den Ladesäulen für Elektroautos in Russland den Spruch «Putin is a dickhead» sichtbar werden liessen.

Sie alle gehören zum Konnektiv einer global vernetzten Initiative und Publikative neuen Typs. Noch einmal: Hier, in den sozialen Netzwerken der westlichen Welt und in der zweiten Wirklichkeit der Kommunikation, hat Putin verloren. Global vernetzte Konnektive sind, was die Farbigkeit, die Vielfalt und die Intensität ihrer inszenatorischen Möglichkeiten betrifft, dem Kollektiv einer strikt hierarchisch organisierten Propaganda-Macht strukturell weit überlegen. Das ist die gute Nachricht. Der Schmerz dieser Tage besteht darin, dass das kommunikative Geschick zwar die Solidarität und den Sanktionswillen der westlichen Welt beflügelt und die Ächtung von Putins Gehilfen überall auf der Welt beschleunigt, aber die Menschen in der Ukraine doch nicht retten kann. Sie werden in der ersten Wirklichkeit des Krieges drangsaliert und umgebracht, und diese erste Wirklichkeit ist dann doch die entscheidende.

Instrument der Humanisierung

Dennoch: In den letzten Jahren hat sich, bedingt durch die Pro-Brexit-Propaganda, die Wahl Donald Trumps und die Verbreitung von Fake News und Verschwörungsmythen in Zeiten der Pandemie, die Gewissheit durchgesetzt, dass die Phase der Netzutopien endgültig vorbei ist. Die Datenskandale von Facebook, die Orchestrierung des Völkermords an den Rohingya auch mithilfe ebendieses sozialen Netzwerkes, die Hassexplosionen auf Twitter und zuletzt in den Katakomben der Telegram-Kanäle, die obszöne Kannibalisierung des Werbemarktes zulasten der Qualitätsmedien – all dies hat die Rufe nach Regulierung lauter werden lassen, zu Recht.

Die letzten Tage haben die längst verflogene Digitaleuphorie der 1990er Jahre nicht zurückgebracht, gewiss nicht. Sie im Angesicht der blutenden, verzweifelten Menschen und der zerborstenen Häuser auch nur für einen Moment zu beschwören, wäre verspielter Zynismus und blosse Gedankenflucht, um nicht allzu genau hinschauen zu müssen. Deutlich wurde und wird im Angesicht der Katastrophe dieses Krieges aber, dass sich das Instrument der Vernetzung durchaus zur Humanisierung und Demokratisierung der Verhältnisse einsetzen lässt. Dafür braucht es allerdings unbedingte Entschiedenheit, politischen Willen und kollektiven Fokus und vielleicht Menschen, die bereit sind, alles zu riskieren.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Demnächst erscheint sein neues Buch «Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation» (Palgrave Macmillan).

13. Februar 2022 

Die Frage, ob es rund um die Ukraine zum Krieg mit Russland kommt, steht weiterhin im Raum! Die Nachrichten rund um diesen Konflikt sind allerdings weiterhin sehr beunruhigend, es kann jederzeit mit einem russischen Überfall gerechnet werden.

Zu einem ganz anderen Thema: Leonardo da Vinci war ein Universalgenie, das weiss heutzutage was jedes Kind. Dass dieser Mann so quasi auch ein Vordenker in der Kiefer-Anatomie war, ist eher unbekannt! Der folgende Artikel von BLUE NEWS geht auf dieses Thema in da Vincis geniales Denken zu seiner Zeit ein:  

Leonardo da Vinci war ein Vordenker in der Kiefer-Anatomie

Leonardo da Vincis anatomische Studien brachten ihm ein Verständnis für die Anatomie des Kiefers, welches seiner Zeit voraus war. Das Bild zeigt Besucher*innen einer Ausstellung der Werke des Künstlers. 
KEYSTONE

Leonardo da Vinci gilt als eines der grössten «Universalgenies», das für seine Leistungen in der Kunst oder Technologieentwicklung hoch angesehen wird. Forscher haben nun nachgewiesen, dass er auch als Dentalforscher seiner Zeit weit voraus war.

sda - 13.2.2022 

Über 30 Lebensjahre hinweg führte da Vinci anatomischen Studien durch. Einer Überblicksarbeit von österreichischen Zahnforschern hat nun gezeigt, dass das Genie die Kieferhöhle schon 150 Jahre vor ihrer offiziellen Entdeckung korrekt erkannte – ebenso wie den Zusammenhang zwischen Zahnform und Funktion der Zähne.

Dem anatomischen und physiologischen Erbe da Vincis (1452-1519) gingen der Anthropologe und Direktor des Zentrums für Natur- und Kulturgeschichte des Menschen, Kurt W. Alt von der Danube Private University (DPU) in Krems (NÖ), und die Kunsthistorikerin und Zahnärztin Iris Schuez im «Journal of Anatomy» nach.

In einigen Zeichnungen und Notizen hat sich der Universalgelehrte auch mit der Beschaffenheit des Schädels, und speziell mit dem Kiefer- und Zahnbereich auseinandergesetzt. Fünf 1489 angefertigte Skizzen zeigen die Zahnanatomie, das Nerven- und Blutgefässsystem und die Nasennebenhöhlen bereits sehr detailliert, wie die beiden Studienautoren schreiben. Eine handschriftliche Seite mit Schlussfolgerungen zu den Zeichnungen datiert aus dem Jahr 1508.



Erkannte als erster, dass Zähne nicht tot sind

In der Renaissance-Epoche war die Zahnheilkunde noch kein eigenes wissenschaftliches Feld. Da Vinci war stark daran beteiligt, in jener Zeit seit der Antike verloren gegangenes anatomisches Wissen wieder zurückzuerlangen. Weil sein wissenschaftlicher Zugang damals sehr innovativ war, blieben da Vincis Aufzeichnungen auch für viele seiner Zeitgenossen schwer nachvollziehbar.

Zwei der Zeichnungen befassen sich unter anderem mit den Kieferhöhlen - und das 150 Jahre vor ihrer «Entdeckung» durch den britischen Anatomen Nathaniel Highmore. Da Vincis Aufzeichnungen würden auch zeigen, dass er die Zähne nicht als «totes Gewebe» sondern als lebende Strukturen gesehen hat. 

In den Zeichnungen findet sich laut den Autoren auch die erste korrekte Angabe zu der Zusammensetzung des menschlichen Gebisses mit vier Schneidezähnen, zwei Eckzähnen, vier Vorbackenzähnen und sechs Backenzähnen pro Kiefer.



Zu klug für Zeitgenossen

Seine Beschreibung der vier verschiedenen Zahntypen ergänzte er später durch eine Analyse ihrer Funktion. Dabei gelangte er zu dem richtigen Schluss, dass bei der Bewegung von Ober- und Unterkiefer die stärksten Kräfte im hinteren Teil des Gebisses und damit nahe an dem Punkt wirken, von dem die Kaubewegung ausgeht. Daraus leitete er ab, warum die verschiedenen Zahntypen so entwickelt und angeordnet sind, welche Aufgaben sie erfüllen und welchen Belastungen sie ausgesetzt sind.

Auch wenn da Vincis anatomische Studien nicht publiziert wurden, hatten sie in der Folge beträchtlichen Einfluss auf Künstler und Forscher, wie Schuez und Alt hervorheben. Seine vielleicht grösste Errungenschaft im medizinischen Bereich sei aber sein Einfluss auf die Einführung von möglichst detaillierten Zeichnungen zur Vermittlung von anatomischem Wissen.

Letztlich sei ihm aber das Schicksal vieler «Universalgenies» zuteilgeworden. Nämlich, dass sein Vermächtnis so umfassend war, dass die kommenden Generationen mit dem Ausmass an Information gar nicht umgehen konnten, halten Schuez und Alt fest.

 

12. Februar 2022

Steuern wir auf einen Krieg rund um die Ukraine zu? Wird Russland einen Angriff auf die Ukraine in nächster Zeit starten? Diese Fragen muss man sich stellen, wenn man die News der weltweiten Presse liest. Aus den USA tönt es schon seit einigen Tagen sehr drastisch, womit in den nächsten Tagen mit einem Krieg, resp. einem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine zu rechnen sei: 

BLUEWIN News meldete heute das folgende

 
Hubert Wetzel vor 20 Std.

Damit in der Ukraine keine Panik ausbricht, wollte die USA nicht mehr von einer «unmittelbar» bevorstehenden russischen Invasion sprechen. Doch nun endet die Zurückhaltung bereits wieder.

© Foto: Manuel Balce Ceneta (Keystone/dpa) Warnt vor einem bevorstehenden Angriff Russlands auf die Ukraine: Jake Sullivan, der Sicherheitsberater des US-Präsidenten

Vor einigen Tagen erst hatte die US-Regierung bekannt gegeben, künftig auf ein kleines, aber nicht unwichtiges Wort verzichten zu wollen: imminent. Man werde nicht mehr davon sprechen, dass eine mögliche russische Invasion in der Ukraine «unmittelbar» bevorstehe, hiess es aus Washington. Das war eine Geste an die Regierung in Kiew, die verhindern wollte, dass wegen der ständigen Kriegswarnungen aus den USA in ihrem Land Panik ausbricht. Auch die amerikanischen Verbündeten in Europa, die noch mitten in allerlei diplomatischen Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin steckten, waren wohl etwas irritiert, dass die USA den Eindruck erweckten, ein Angriff Russlands auf den Nachbarstaat könnte praktisch jederzeit beginnen.

Lange dauerte die Zurückhaltung in Washington allerdings nicht. Am Freitag benutzte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, in seiner Lagebeschreibung ein gleichbedeutendes Wort – immediate. «Russland könnte in sehr kurzer Zeit den Befehl zu einer grossen Militäraktion gegen die Ukraine geben», sagte er. Zwar wüssten die USA nicht mit abschliessender Sicherheit, ob Putin eine Invasion beschlossen und angeordnet habe. Aber die Gefahr sei «hoch» und die Bedrohung sei «unmittelbar».

 

Wenige Stunden vor Sullivans Äusserungen hatte Biden sich bereits in einer Telefonkonferenz mit Staats- und Regierungschefs aus den wichtigsten Nato- und EU-Ländern zusammengeschaltet. Darunter waren Bundeskanzler Olaf Scholz und die Kollegen aus Paris, London und Rom. An der Besprechung nahmen aber zudem die Präsidenten Polens und Rumäniens teil – jener beiden osteuropäischen Staaten, die die längsten Landgrenzen mit der Ukraine teilen. In den vergangenen Tagen hatten die USA in beide Länder mehrere Tausend GIs verlegt, um Moskau zu signalisieren, dass die Ostgrenze der Nato verteidigt wird.

«Wir sehen, dass Russland weiter eskaliert»

Über Details der Unterredung wurde zunächst nichts bekannt. Doch dass die US-Regierung nur kurz nach dem Telefonat Bidens wichtigsten Berater an die Öffentlichkeit schickte, um vor einer Invasion zu warnen, spricht dafür, dass Washington ernsthaft besorgt ist. An diesem Samstag will Biden erneut mit Putin telefonieren.

Sullivan zufolge hat die russische Armee genügend Truppen und Material für einen Angriff an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. «Wir sehen, dass Russland weiter eskaliert», sagte er. «Dazu gehört auch die Ankunft neuer Militärkräfte an der ukrainischen Grenze.» Der Sicherheitsberater spekulierte sogar öffentlich darüber, wie eine Invasion ablaufen könnte. «Sie würde vermutlich mit Luftangriffen und Raketenbeschuss beginnen, durch die Zivilisten getötet werden könnten», sagte Sullivan. Danach könnte eine Bodenoffensive «durch eine massive Streitmacht» folgen.

Angriff während Olympia würde China verärgern

Ähnlich wie Sullivan äusserte sich auch US-Aussenminister Antony Blinken. Bei einer Pressekonferenz in Australien warnte er davor, dass ein russischer Einmarsch in der Ukraine «jederzeit» beginnen könne. Er wolle auch nicht ausschliessen, dass Putin noch während der derzeit laufenden Olympischen Winterspiele in Peking losschlage, so Blinken. Bisher war im Westen erwartet worden, dass Putin das Ende der Spiele am 20. Februar abwartet, um die chinesische Regierung nicht zu verärgern. Im Falle eines russischen Angriffs auf ein europäisches Land wäre es vermutlich schwierig, die Spiele einfach fortzusetzen.

Blinkens Äusserung war eine dringende Warnung des US-Aussenministeriums an alle amerikanischen Staatsbürger in der Ukraine vorausgegangen, das Land möglichst sofort zu verlassen. Sullivan sprach am Freitag von einem Zeitfenster von 24 bis 48 Stunden, das Amerikaner zur Ausreise nutzen sollten. Präsident Biden stellte in einem Interview klar, dass das US-Militär nach dem Beginn einer Invasion keine Amerikaner aus der Ukraine retten werde. Die Gefahr, dass es bei einer Evakuierungsaktion zu Zusammenstössen mit russischen Soldaten komme – und dadurch zum «Dritten Weltkrieg» -, sei zu hoch. Auch andere europäische Staaten forderten ihre Staatsbürger auf, schnellstmöglich aus der Ukraine auszureisen.

 

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2021 

9. Februar 2021

Nach wie vor stecken wir weltweit in der Corona-Pandemie-Zeit mit allen Auswirkungen auf unser tägliches Leben. - Vielen ist nicht bekannt, dass vor rund 100 Jahren (1918-1919) eine ähnliche Pandemie die Welt erschütterte. Ein Vergleich mit der aktuellen Pandemie drängt sich auf.

Vielleicht hat der/die eine oder andere das bekannte Buch von Oliver Sacks "Awakeings" gelesen, der in einem Hospiz Überlebende der damaligen Spanischen Grippe mit L-Dopa behandelte mit überraschendem Erfolg! Heute sprechen wir von Long-Covid, an Corona-Erkrankten mit Folgeschäden, die etwa 25-30% der an Covit-19-Erkrankten und Überlebenden betrifft. Damals, vor 100 Jahren, gab es auch Überlebende, die mit fürchterlichen Folgen weiterleben mussten: sie fielen in einen Koma-ähnliche "Tiefschlaf" und mussten die kommenden Jahrzehnte in Pflegeheimen verbringen und konnten kein normales Leben mehr führen. Oliver Sacks therapierte sie 1969 mit L-Dopa und erzielte ganz verblüffende Resultate: die erstarrten Menschen "erwachten" auf einmal, konnten ihre Fähigkeiten, die sie einmal vor der Erkrankung der Spanischen Grippe erwarben, wieder aktivieren und das Leben wieder geniessen. Awakenings ist ein erstaunlicher Bericht, der gerade heute rund um die Corona-Pandemie wieder aktuell wird. 

Der BLICK stellt seinen Fokus auf die damalige "Spanische Grippe". Was sich damals auch bei uns in der Schweiz abspielte, ähnelt sich frappant der heutigen Situation! 

Forscher zeigen Parallelen: Schweiz wiederholt Fehler der Spanischen Grippe

Bruhin Martin (bra)

Zögerliches Handeln, zu frühe Lockerungen und ignorierte Einschränkungen: Die Muster bei der Bewältigung der Spanischen Grippe haben auffällige Ähnlichkeiten mit derjenigen der Corona-Pandemie. Das berichten Forschende im Fachmagazin «Annals of Internal Medicine». 

In den Jahren 1918 und 1919 wütete die spanische Grippe weltweit und tötete in der Schweiz gemäss historischen Quellen fast 25'000 Menschen. Besonders die lange andauernde zweite Welle forderte viele Opfer. «Es ist beeindruckend, wie sich beim Vorgehen der Regierung und der Behörden während den Pandemien 1918 und 2020 immer grössere Ähnlichkeiten abzeichnen», sagte der Historiker Kaspar Staub von der Universität Zürich im Gespräch mit Keystone-SDA.

Natürlich gebe es auch wichtige Unterschiede zur Corona-Pandemie: Heute sei es ein anderes Virus, die Lebensumstände andere, die Fachwelt vernetzter und das medizinische Wissen grösser. Dennoch ähneln sich gewisse Muster auffällig stark. 

Für seine Studie zeichnete das schweizerisch-kanadische Forscherteam das Geschehen im Kanton Bern während der Spanischen Grippe nach, wo das aggressive Virus besonders stark wütete. Es analysierte fast 10'000 Meldungen mit über 120'000 Influenza-ähnlichen Erkrankungen aus 473 Gemeinden, die im Staatsarchiv Bern hinterlegt sind.

Viel schlimmere Herbstwelle

Demnach breitete sich die Spanische Grippe im Sommer 1918 zuerst im französischsprachigen Teil Berns sowie in den Städten aus. Ansteckungen in den alpinen Gebieten folgten etwas später. Zu Beginn der ersten Welle reagierte der Kanton Bern rasch und zentral. Er schränkte Versammlungen ein, schloss Theater, Kinos sowie Schulen und verbot Chorproben – Läden und Fabriken blieben offen. Die Ansteckungen gingen zurück, worauf sämtliche Einschränkungen wieder aufgehoben wurden. Viel zu früh, wie sich bald zeigte: Die viel schlimmere Herbstwelle rollte an.

Das Fatale gemäss der Studie: Der Kanton reagierte zu Beginn der zweiten Welle zögerlich und legte die Verantwortung den einzelnen Gemeinden in die Hände. Diese griffen teilweise weit weniger hart durch als der Kanton während der ersten Welle. «Dieses dezentrale Reagieren aus Angst vor erneuten Einschränkungen und ihren wirtschaftlichen Konsequenzen hat aber nicht funktioniert», sagte Staub. Erst einige Wochen später erliess die kantonale Regierung wieder strengere und zentrale Massnahmen – die Pandemie klang etwas ab.

Doch die zweite Grippewelle hielt die Bevölkerung weiterhin fest im Griff. So kam es im November 1918 bei immer noch hohen Fallzahlen zu Konflikten zwischen Regierung und Arbeiterschaft, die im sogenannten Landesstreik und in Massenansammlungen mündeten. Besonders auch Truppenzusammenzüge in die zentralen Ortschaften trieben die Übertragungen wieder in die Höhe.

Viele Leute widersetzten sich den Versammlungseinschränkungen

Infolge des Landesstreiks widersetzten sich viele Leute den Versammlungseinschränkungen, die daraufhin aufgrund politischen und öffentlichen Drucks wiederum gelockert wurden. «Wir sehen, dass diese Geschehnisse mit einem deutlichen Wiederanstieg der Fallzahlen assoziiert waren und die zweite Welle damit umso länger dauerte», sagte Staub. Eine ähnliche Entwicklung der Ansteckungen befürchte man nun wegen den Coronavirus-Mutationen.

Die Studie zeige, dass die Schweiz aus ihrer Geschichte hätte lernen können, sagte der Mitautor und Berner Epidemiologe Peter Jüni von der kanadischen Universität Toronto, der die wissenschaftliche Leitung des Covid-19-Beirats der Regierung Ontarios innehat. «Aus meiner Aussenperspektive ist es schwer nachvollziehbar, dass in einem wohlorganisierten, hochentwickelten und privilegierten Land wie der Schweiz jeder tausendste Mensch an Covid-19 verstorben und jeder dreihundertste hospitalisiert worden ist.» Der Bundesrat habe im Schweizer Konkordanz-System in dieser Krisensituation leider viel zu zögerlich gehandelt.

Zum einen hätte eine Polarisierung zwischen Vertretern von Politik und Wissenschaft seit mindestens Herbst 2020 zu einer politischen Lähmung geführt. Zum anderen stellt er die seiner Ansicht in der Gesellschaft weitverbreitete Selbstwahrnehmung des Schweizer Sonderfalls in Frage: «Man zahlt schliesslich Steuern in der Schweiz und sollte deswegen auch in Krisensituationen sämtliche Freiheiten geniessen können. Eine Pandemie hält sich aber weder an Landesgrenzen noch an wirtschaftliche Überlegungen.»

Der historische Blick offenbart aber auch Hoffnungsvolles: Im Frühjahr 1919 bäumte sich die Spanische Grippe zwar nochmals zu einer relativen milden, dritten Welle auf, danach verschwand sie. «Die akuten Phasen von Pandemien gehen irgendwann einmal auch wieder vorüber», sagte Staub.

Aus vergangenen Pandemien lernen

Staub ist es ein Anliegen, die Geschichten vergangener Pandemien aufzuarbeiten und zu erzählen. Denn in der Schweizer Gesellschaft gebe es einen sogenannten «Pandemic Gap». Was Wissenschaftler damit meinen: Keine globale Pandemie durch Atemwegsinfektionen seit der Spanischen Grippe überrollte mehr die Schweiz mit verheerenden Auswirkungen.

Dieses «Luxusproblem» löschte zusammen mit dem Rückgang der Influenza-Sterblichkeitsrate das Pandemie-Katastrophen-Gedächtnis und Risikobewusstsein in der Politik und der breiten Bevölkerung aus. Gerade die Herausforderungen einer zweiten Welle seien ungenügend aufgearbeitet worden, sagte Staub gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Mit seiner Forschung möchte er die eigentlich vorhandene Pandemie-Erfahrung in der Schweiz wieder in das gegenwärtige Bewusstsein rücken. Denn: «Aus vergangenen Pandemien zu lernen und die Erkenntnisse auf den heutigen Kontext anzupassen, hilft uns, gegenwärtige Herausforderungen wie die Covid-19-Pandemie besser zu bewältigen», sagte er. (SDA/bra)

2020

16. Dezember 2020

Wir leben in einer "ungewohnten" Zeit, der Corona-Pandemie, die bisher weltweit den Menschen ungewohnte Restriktionen und Einschränkungen auferlegt hat. Auf so eine aussergewöhnliche Situation muss es vielfältigste Reaktionen geben! Die Verschwörungsthearetiker zB haben jetzt Hochbetrieb und faseln, manchmal wie im Mittelalter, von dunklen Mächten, die an der Strippe ziehen und die Völker ins Verderben stossen wollen. Antisemitische Behauptungen kommen nach oben und sprechen direkt oder indirekt von einer "jüdischen Weltverschwörung"! Viele der "Querdenker", geben sich besonders "aufgeklärt" und werfen vom Hohen Ross herunter Behauptungen, von denen sie sich nicht abbringen lassen. Diese Behauptungen sind je danach aus den Fingern gezogen, haben kein Fleisch am Knochen. Sie sind einfach fanatische Behauptungen, auf die es in der Regel keine Antwort geben kann.  Diskussionen mit diesen Leuten lohnen sich nicht. Für diese Menschen ist die Corona-Pandemie nichts anderes, als eine ganz normale Grippe, die v.a. von politischen Gremien als Vorwand genommen wird, um die grosse Masse der Einwohner zu unterjochen, hinters Licht zu führen, für sich Nutzen daraus zu ziehen.

Ich kenne persönlich solche Leute, die fast missionarisch mit den wildesten Behauptungen um sich werfen und alle diejenigen, die es anderns sehen, als "Unwisser" anprangern. Nicht selten fliegen die Fetzen, es kommt zu extremen Emotionen in solchen Diskussionen von Pro und Kontra rund um die Corona-Pandemie! 

Nun sind Impfungen am Horizont aufgetaucht.

Die Diskussionen für oder gegen eine Impfung flammen jetzt ganz besonders auf und werden von gewissen "Impfgegenern" wie religiöse Dogmen verhandelt, abgewiesen. 

Der folgende NZZ-Kommentar geht auf die aktuelle Impfdiskussion ein:  

NZZ  16. Dezember 2020

Es braucht keine neuen Impfregeln: Wer die eigene Freiwilligkeit zum Dogma macht, befördert andere in den Zwang

Niemand soll zur Impfung gezwungen werden: An diesem Grundsatz darf trotz Corona nicht gerüttelt werden. Doch die Politik muss sich davor hüten, sich den Takt von radikalen Impfgegnern vorgeben zu lassen – und die Freiwilligkeit zum Dogma zu machen.

Daniel Gerny94 Kommentare16.12.2020, 05.30 Uhr hören

Ergeben nehmen wir massive Eingriffe in unser Leben und in unsere Freiheitsrechte hin. Wir schütteln keine Hände mehr, begeben uns nur noch mit hässlichen Masken in die Stadt, zucken bei jedem Husten zusammen – und verzeichnen trotzdem über 5000 Corona-Tote.

Der Kampf gegen die drohende Wirtschaftskrise verschlingt Milliarden, und schwere Schäden sind unvermeidbar. Das wird zur Belastung für die nachfolgende Generation. Die Demokratie läuft auf Sparflamme, weil kaum mehr Unterschriften gesammelt werden können. Und wir gewöhnen uns daran, dass wir noch während Monaten mit Restriktionen leben müssen. Vor einem Jahr hätten wir uns nie vorstellen können, wie sehr ein Virus Macht über unser Leben ausüben kann.

Die Debatte entgleist schon jetzt

Die Nachricht über den Durchbruch an der Impf-Front bedeutet deshalb mehr als die Aussicht auf die Normalisierung unseres Alltags. Sie steht für die Hoffnung auf die rasche und dauerhafte Rückkehr von Freiheit, Wohlstand und sozialer Sicherheit. Sollten die Impfstoffe halten, was ihre Erfinder versprechen, führt dies früher oder später zum Ende der Corona-Krise. Keine andere Massnahme, über die im letzten Jahr gestritten wurde, hatte nur ansatzweise dieses Potenzial.

Doch die Debatte über die Impfung entgleist noch bevor die ersten Dosen zur Verfügung stehen. Die Stimmung ist gereizt. Radikale Impf-Skeptiker stürmen mit einer Volksinitiative die politische Arena. In Leserbriefen und in den sozialen Netzwerken wird gehässig bis aggressiv attackiert und zurückgebissen, als stehe nicht der Sieg über die Pandemie bevor, sondern die Diktatur.

So wurde die Nationalrätin Ruth Humbel mit einer Flut von bösartigen Mails eingedeckt, nachdem sie in einer Fernsehsendung Vorschläge zur Impfstrategie gemacht hatte. Sie habe die Vernunft verloren und sei nicht mehr tragbar. Humbel wurde zur Ausreise nach China aufgefordert und mit Hitler verglichen. Einer wünschte ihr, dass sie mit Äusserungen «und noch viel schlimmer» bedrängt werde.

Seit Impfungen im 19. Jahrhundert erfunden wurden, lösen sie solche Auseinandersetzungen aus. Die Archive sind voll von Streitereien, wie sie sich jetzt abzeichnen: 1877 beklagte sich der «Schweizerische Verein gegen lmpfzwang» beim Parlament über ein Gesetz, das eine grosse Zahl von Staatsangehörigen zwinge, «ihr eigen Fleisch und Blut» herzugeben, «um es mit einem thierischen Auswurfstoff zu verunreinigen».

Die Schweiz ist nicht China

Das Parlament wurde aufgefordert, «dieses gesetzliche Unrecht nicht mehr länger fortbestehen zu lassen, sondern jeden Bürger vor dieser Vergewaltigung seitens der Mediziner zu schützen». Schliesslich wurden innert 90 Tagen 80 000 Unterschriften gesammelt. Mit 79 Prozent Nein-Stimmen stürzte ein erstes Epidemien-Gesetz an der Urne regelrecht ab. Und die Gerichte mussten sich von da an regelmässig mit Impf-Vorschriften herumschlagen.

Daraus hat die Politik Lehren gezogen. Alle Erfahrungen zeigen, dass strikte Obligatorien Widerstände verstärken und die Impfbereitschaft sinken lassen. Ein allgemeine Impfpflicht steht darum nicht zur Diskussion. Sie wäre politisch nicht mehrheitsfähig, juristisch nicht durchzusetzen und ethisch nicht vertretbar. Das Epidemiengesetz sieht einzig die Möglichkeit eines begrenzten Obligatoriums vor. Ein Impfzwang gegen alle Widerstände ist vielleicht in China oder Russland machbar. In einem Land wie der Schweiz, wo bereits die Maskenpflicht zu einem halben Volksaufstand führt, hat sie nichts zu suchen. 

Doch wo endet das sanktionslose Obligatorium – und wo beginnt der subtile Zwang? Die Antwort darauf ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint – und sie betrifft längst nicht nur Corona. Sie hängt zunächst von der Wirkungsweise der Impfung selbst ab. Verhindert diese nur den Ausbruch der Krankheit, aber nicht weitere Ansteckungen, so muss grundsätzlich jeder für sich selber entscheiden, welche Risiken er eingehen will. Auf die Dynamik einer Epidemie hat die Impfquote bei einem solchen Wirkstoff keinen Einfluss.

Idealerweise schützt eine Impfung aber nicht nur die Geimpften vor der Erkrankung, sondern sie verhindert gleichzeitig, dass das Virus weitergegeben wird. So kann die Epidemie gebremst oder gar gestoppt werden. In diesem Fall hat der individuelle Entscheid, ob man sich impfen lässt, Folgen für die gesamte Gesellschaft. Die Pocken konnten nur ausgerottet werden, weil sich genügend Leute impfen liessen. Das Virus konnte sich nicht weiterverbreiten und starb 1980 aus.

Ein Obligatorium für Pflegeangestellte

Bei den vor der Zulassung stehenden Corona-Impfstoffen gilt es zwar als gesichert, dass sie in den meisten Fällen vor dem Ausbruch der Krankheit schützen. Nicht klar ist, ob alle Personen auf das Vakzin ansprechen – oder ob es beispielsweise bei älteren Patienten weniger wirkt. Und unbekannt ist vorerst, ob jemand, der sich impfen lässt, auch nicht mehr ansteckend sein kann.

Wirkt der Impfstoff gegen Covid-19 aber ähnlich wie jener gegen die Pocken, kann längerfristig nicht jeder nur an sich denken. In einem Pflegeheim müssten möglichst viele Angestellte geimpft sein, damit sich nur wenige anstecken können – und der Betrieb virusfrei und reibungslos weiterläuft. Der freie Entscheid der Pflegeangestellten, auf die Impfung zu verzichten, hätte Folgen für andere Mitarbeiter und das ganze Haus. Weil das Vakzin nicht bei hundert Prozent der Geimpften wirkt, wären zudem gewisse Bewohner bedroht, von denen viele zur Risikogruppe gehören. Sie müssten sich von Personal pflegen lassen, das ihnen wegen der fehlenden Impfung gefährlich werden könnte.

Die Behörden oder die Arbeitgeber können deshalb für Angestellte in Spitälern oder Heimen ein Obligatorium erlassen. Doch darf man sich davon nicht zu viel erhoffen: Eine Pflicht könnte allenfalls eine latent vorhandene Impfzögerlichkeit verringern. Wer aber partout keine Impfung will, wird auf seinem Standpunkt beharren. Selbst eine Entlassung von Impfverweigerern würde ausser Personalmangel wenig bringen – und die gegenwärtigen Probleme im Gesundheitswesen gar verschärfen. Ein Impfobligatorium in Spitälern und Heimen sollte darum ein Gedankenspiel bleiben.

Es spricht aber nichts dagegen, wenn Restaurants, Fussballstadien, Fluggesellschaften oder Klubs einen Immunitätsausweis für das Betreten ihrer Lokalität verlangen. Das wäre von Zwang weit entfernt. Das geltende Recht lässt hier vernünftigerweise alle Freiheiten. Das Gegenteil hätte schwerwiegende Beschränkungen der Wirtschaftsfreiheit zur Folge: Es wäre ungerecht, die Impfung freiwillig zu belassen – und gleichzeitig den Wirt dazu zu zwingen, ungeimpfte Gäste in seinem Restaurant zu bewirten.

Eine Welt voller Zwang

Selbst die Etablierung von Impfnachweisen als Teil von behördlich genehmigten Schutzkonzepten darf nicht diskussionslos zum Tabu werden. Paradoxerweise könnte das Beharren auf Impffreiwilligkeit um jeden Preis nämlich drastischere Eingriffe bewirken: Dann, wenn die Verbreitung der Impfung zu gering wäre, um die Pandemie in Schach zu halten – und Wirtschaft und Gesellschaft erneut brutal in die Knie gezwungen würden. Es ist Unsinn, in diesem Zusammenhang von einer drohenden Zweiklassengesellschaft zu sprechen, solange sich alle sicher impfen lassen können. Es verhält sich umgekehrt: Wird Freiwilligkeit einseitig zum Dogma gemacht, landet man erst recht in einer Welt voller Zwang.

Im Streit um die Covid-19-App wurden solche Möglichkeiten fälschlicherweise konsequent ausgeschlossen. Damals liess sich die Politik von den Datenschutz-Nerds widerstandslos über den Tisch ziehen. Das hat der Verbreitung der App geschadet. Jetzt versuchen notorische Impfgegner dasselbe. Für sie ist Corona nur der Anlass, um einen uralten Streit neu anzuzetteln.

In den letzten Jahren haben die Impfgegner Auftrieb erhalten. Ihre Netzwerke sind gut ausgebaut, und ihre Theorien beginnen in aufgeklärten Kreisen zu verfangen. Mit unwissenschaftlichen Argumenten wollen sie nun ihre eigentümliche Weltanschauung zum Gesetz machen und so der ganzen Schweiz aufs Auge drücken. Das Ziel ist es, Impfkampagnen generell zu erschweren. Das hätte Folgen weit über Corona hinaus, für Impfungen aller Art. Darauf darf sich die Politik nicht einlassen.

Für den Erfolg der Corona-Impfstrategie wird das juristische Regelwerk ohnehin kaum ausschlaggebend sein. Es gibt keinen Grund, neue Vorschriften zu erlassen. Entscheidend ist, ob es gelingt, auf die Bedenken in der Bevölkerung einzugehen und sie zu zerstreuen. Viele Ängste sind ausserhalb der Impfskeptiker-Szene verbreitet. Nicht alle sind zum Vornherein unbegründet. Der Informationsbedarf ist hoch – auch weil gegen das Coronavirus neuartige mRNA-basierte Vakzine zum Einsatz kommen, mit denen niemand vertraut ist. Ein Kommunikationsdebakel wie im Krisenmanagement der letzten Wochen muss unbedingt verhindert werden.

Gelingt dies und erweist sich die Covid-19-Impfung als zuverlässig, wird die Akzeptanz sukzessive zunehmen – und die hitzige Debatte über Impfobligatorien und Immunitätsausweise wird schon bald eine Fussnote aus dem traurigen Corona-Winter sein.

94 Kommentare
Karl Astor
vor etwa 6 Stunden

Als Weitgereister besitze ich einen internationalen WHO-Impfausweis, wo so Sachen drinstehen, wie Tetanus, Gelbfieber, Polio usw. Dies sind Einreisebedingungen insbesondere in fieberverseuchten Tropenländern. Nun wird wohl zusätzlich auch SARS-CoV-2 dabei sein. Bestimmt wird man in Kloten kaum ein Flugzeug betreten können, ohne nebst Pass oder ID auch den ockergelben Impfausweis vorzuzeigen und sei es auch bloss für den Kurzurlaub am Mittelmeer. Die Bedingungen dazu macht nicht die Schweiz. In meinem Bekanntenkreis wollen aber einige erst mal abwarten und sehen, ob etwa weltweit Millionen von Geimpften nach einigen Monaten umfallen und sich erst dann den Saft einverleiben. Da brauchen sich also unsere Politiker nicht den Kopf darüber zu zerbrechen – die Umstände werden es wohl von alleine richten.

M. H.
vor etwa 3 Stunden

Impfgegner*innen sind Trittbrettfahrer: Sie vertrauen darauf, dass alle anderen sich impfen lassen, damit sie selber und ihre Kinder geschützt sind.  Das ist in höchstem Maße unsolidarisch und letztlich sogar gefährlich. 

 
KOMMENTAR

Corona: Für die Impfung, aber gegen eine Impfpflicht

Je näher eine Impfung gegen das Coronavirus rückt, desto vernehmlicher werden die Rufe nach einer staatlich verordneten Impfpflicht. Doch die Bundesregierung sperrt sich dagegen – zu Recht.
Anna Schneider, Berlin 10.12.2020icken die Impfskeptiker: Ihre grossen Ängste, woher sie kommen – und bei wem alle Argumente für die Katz sind
Kaum eine medizinische Errungenschaft hat so stark zur Gesundheitsvorsorge beigetragen wie die Schutzimpfung. Dennoch zögern nicht nur notorische Corona-Zweifler, sich impfen zu lassen. Die Pandemie lässt alte Ängste wieder aufleben.
Daniel Gerny, Erich Aschwanden 21.11.2020
 
 

1. November 2020

In der heutigen Welt gibt es nach wie vor einige brutale und blutrünstige Despoten, die in ihren Ländern ein Schreckensregime führen! In den Drittweltländern, v.a. in Afrika, aber nicht nur dort,  hört man immer wieder von ganz schlimmen Kerlen, die es an die Staatsspitze ihrer Länder geschafft haben und sich offenbar Gott ähnlich fühlen und brutal und blutig über Leben und Tod ihrer Untergebenen verfügen. 

Im heutigen Russland ist seit vielen Jahren Präsident Putin aktiv und herrscht autoritär - ein ehemaliger KGB-Funktionär im ehemaligen Sowjetregime! Aber lange vor ihm beherrschte   S t a l i n  während Jahrzehnten das riesige Sowjetreich und beförderte unter seinem Regime Millionen von Unschuldigen ins Jenseits. Viele unter ihnen waren überzeugte Sozialisten, Kommunisten, die glaubten, dass diese Weltanschauung das Ideal für die ganze Menschheit sei. Früher oder später mussten sie dann aber feststellen, dass nach der Oktober-Revolution schlimme Despoten die hehren Ziele des Sozialismus mit Füssen traten und Schlimmes über das Volk brachten. Das Phänomen des Machtmissbrauchs grassierte auf ganz schlimme Art in der Führungsgilde der Sowjetunion. Der Schlimmste war allerdings Joseph Stalin, der ganz gut in Sachen Brutalität und Mord an Millionen von eigenen Leuten mit Hitler vergleichbar ist. Stalin ist verantwortlich für Abermillionen Unschuldiger, die er und seine Helfershelfer auf alle Arten quälten und umbrachten.  

Der folgende Artikel beschreibt das Schicksal einer gläubigen Kommunistin (mit Scheizer Pass), Elinor Lipper, die an echten Sozialismus glaubte. Und trotzdem wurde sie - wie Millionen anderer - denunziert und in den Gulag verbannt, drangsaliert und konnte nur durch Zufall überhaupt überleben. Sie berichtet als Zeugin von Stalins Terror, wie sie ihre Zeit im Gulag unter Angst und Schrecken, Hungersnöten und jeder Art von Qualen überleben konnte. Viele Menschen wie sie, aufrechte Sozialisten, erlitten das gleiche Schicksal!

NZZ online 29. November 2020  

Zeugin des Terrors – wie die Schweizerin Elinor Lipper die Wahrheit über den «Archipel Gulag» enthüllte

Wer vom «Archipel Gulag» spricht, denkt heute vor allem an Alexander Solschenizyn. Dabei hat die Schweizerin Elinor Lipper lange vor dem sowjetischen Erfolgsautor die millionenfachen Verbrechen der Kommunisten bezeugt.

 
Lucien Scherrer29.11.2020, 06.00 Uhr

In den Goldminen der Sowjetunion lag die Sterblichkeit auf einem immensen Niveau. 

Wer hier auftritt, braucht Mut. Denn was im Dezember 1950 im Pariser Justizpalast ansteht, ist kein gewöhnlicher Prozess. Zweihundert Journalisten aus der ganzen Welt sind angereist, fünfzig Zeugen angekündigt, im Gerichtssaal drängen sich Gendarmen, Diplomaten, Zuschauer und in schwarze Roben gekleidete Anwälte, die mit Zwischenrufen, Beschimpfungen und Anträgen immer wieder für tumultartige Szenen sorgen. 

Elinor Lipper wirkt denn auch etwas schüchtern, als sie am 8. Dezember in den Zeugenstand tritt. Doch was sie über Terror, Verhaftungen und Zwangsarbeit in Sowjetrussland berichtet, lässt kaum jemanden unberührt. «Da drüben», so erzählt sie, «arbeitet man zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, bei Temperaturen von minus 50 Grad; in den Goldminen liegt die Sterblichkeitsrate bei 30 Prozent im Jahr. Die meisten sterben an Unterernährung.»

Lügen, die Millionen glauben wollen

Für die kommunistischen Anwälte im Saal sind diese Aussagen eine derartige Frechheit, dass sie beim Richter intervenieren, um der jungen Schweizerin das Wort entziehen zu lassen. Es gehe doch nicht an, die Sowjetunion zu verunglimpfen, dieses Land der Freiheit, das nun wahrlich nichts zu verbergen habe!

Tatsächlich ist Elinor Lipper nach Paris gereist, um die Weltöffentlichkeit über die wahren Zustände in der kommunistischen Grossmacht aufzuklären. Sie ist die wichtigste Zeugin in einem Verleumdungsprozess, der sich um eine aus heutiger Sicht absurde Frage dreht: Darf man Leute, die auf systematische Verbrechen in der Sowjetunion hinweisen, als Lügner beschimpfen, wie das die kommunistische Presse Frankreichs gerne tut?

Letztlich geht es in Paris also um Fragen von weltpolitischer Bedeutung: Ist Josef Stalins proletarische Diktatur wirklich die Verkörperung des Fortschritts, des Friedens und der Menschlichkeit, wie das ihre internationale Anhängerschaft behauptet? Oder geht es um ein Terrorregime, das Millionen Menschen versklavt und getötet hat?

Dass Letzteres zutrifft, ist heute dank zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten belegt. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Debatte jedoch völlig offen. Zumal sich Millionen Menschen ihre Illusionen über das vermeintliche Arbeiterparadies im Osten nicht nehmen lassen. Dies besonders in Frankreich, wo der finanziell eng mit der Sowjetunion verbandelte, von Intellektuellen, Nobelpreisträgern und Künstlern unterstützte Parti communiste français (PCF) unentwegt behauptet, angebliche Terroropfer seien bloss Faschisten und Verräter. 

Obwohl sie es als eine der ersten Überlebenden gewagt hat, diesen Lügen öffentlich entgegenzutreten, ist Elinor Lipper fast völlig in Vergessenheit geraten. Das ist umso erstaunlicher, als sie den stalinistischen Terror nicht nur gerichtlich bezeugt, sondern auch literarisch verarbeitet hat. Als sie 1950 in Paris auftritt, hat sie in Zürich gerade ihren Erlebnisbericht «Elf Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern» veröffentlicht. In sechzehn Sprachen übersetzt, ist das Buch ein internationaler Erfolg – und das 23 Jahre bevor Alexander Solschenizyn mit seinem «Archipel Gulag» das vermeintliche Standardwerk zum Thema veröffentlicht.

Doch wie kommt es, dass eine Schweizerin zur Jahrhundertzeugin gegen den totalitären Terror wurde? Und weshalb hat sie in Zeitungen, Geschichtsbüchern und populären Abhandlungen über starke Frauen nicht längst jenen Platz erhalten, der ihr eigentlich gebühren würde?

Flucht vor der Gestapo

Die Geschichte von Elinor Lipper führt in die tiefsten Abgründe des 20. Jahrhunderts. Als sie am 5. Juli 1912 in Brüssel zur Welt kommt, regiert in Russland ein abergläubiger Zar, und «Stalin» ist der Deckname eines schnauzbärtigen Revolutionärs, den noch niemand kennt. Ihr Vater ist jüdischer Deutscher, die Mutter Niederländerin. Nach der Scheidung zieht der Vater in die Schweiz, Elinor verbringt einen Grossteil ihrer Jugend bei ihrer Mutter in Den Haag.

Die junge Frau wächst in einem bildungsbürgerlichen, kosmopolitischen Milieu auf, die soziale Ungerechtigkeit jener Zeit beschäftigt sie schon früh. Politisiert wird sie in Berlin, wo sie ab 1931 Medizin studiert; es ist die Zeit der Massenarbeitslosigkeit, der Saalschlachten und des Terrors von Hitlers SA-Schlägern. Wie viele Intellektuelle und junge Antifaschisten erblickt die Studentin in der 1922 gegründeten Sowjetunion ein Land der Hoffnung, in dem die Fähigsten regieren, das Volk geliebt wird und es kaum noch Verbrechen gibt.

«Mir schien es», so erklärt sie Jahre später vor Gericht in Paris, «als seien die Kommunisten die Einzigen, die gegen Hitler kämpften.» Ihr selber gelingt nach Hitlers Machtübernahme im letzten Moment die Flucht. Nachdem sie die Polizei wegen der Verbreitung marxistischer Literatur verhaftet hat, lässt sie ein Kommissar mit dem dringenden Rat frei, sofort die Koffer zu packen.

Ein schrecklicher Irrtum

So setzt sie ihr Studium in der Schweiz fort, daneben arbeitet sie offiziell als Buchhändlerin und angehende Heilgymnastikerin. Als überzeugte Kommunistin ist sie insgeheim auch für die Kommunistische Internationale (Komintern) tätig. Dieses von Moskau gesteuerte Netzwerk gibt den kommunistischen Parteien in allen Ländern der Welt den Kurs vor, koordiniert klandestine Aktionen, verschiebt Waffen und Geld, oder es hilft Genossen in Not.

Ihre Anführer, unter ihnen der Schweizer Fritz Platten, fallen später fast alle den stalinistischen Säuberungen und Schauprozessen zum Opfer. Auch Elinor Lippers Weg führt über die Komintern in die Falle, nach Moskau. Um drohende Schwierigkeiten mit den Schweizer Behörden zu umgehen, arrangieren Komintern-Leute 1935 eine Scheinehe zwischen der jungen Aktivistin und dem Zürcher KP-Sympathisanten Konrad Vetterli.

Nunmehr mit dem Schweizer Pass in der Tasche reist sie 1937 nach Moskau aus, um als Redaktorin im Verlag für ausländische Literatur zu arbeiten. Obwohl sie ihr Onkel eindringlich vor der Situation in Russland warnt, ist sie immer noch überzeugt davon, dass in der Sowjetunion nur Regimegegner und richtige Kriminelle verhaftet werden. Ein Irrtum, dem Tausende Kommunisten erliegen. 

Denn 1937 ist der grosse Terror in vollem Gang. Nach katastrophalen Hungersnöten und anderen Fehlschlägen braucht die Partei Stalins massenweise «Verräter», «Spione», «Saboteure» und «Volksfeinde», die für all das verantwortlich sein sollen. Von 1929 bis 1953 (dem Todesjahr Stalins) verschwinden 20 bis 30 Millionen Bürger in Gefängnissen und Lagern, Millionen kehren nicht zurück.

Nächtlicher Besuch der Geheimpolizei

Treffen kann es jeden, vom Weggefährten Lenins über den hochdekorierten Offizier bis zur Fabrikarbeiterin. Denunziationen, Selbstanklagen und Verleumdungen führen zu immer neuen Verhaftungen. Durch die Säuberungen schafft sich die sowjetische Führung nebenbei ein riesiges Heer von Zwangsarbeitern, die unter widrigsten Bedingungen Gold schürfen, Dämme, Eisenbahntrassees und Strassen bauen oder Bäume fällen für die Holzproduktion.

Gemäss neusten Schätzungen lässt der Geheimdienst NKWD allein zwischen Sommer 1937 und November 1938 rund 380 000 Menschen erschiessen und weitere 390 000 in Arbeitslager verschicken. Ausländer, Juden und «Kosmopoliten» spielen in den Verschwörungstheorien der Parteiführung und ihrer Handlanger eine besonders wichtige Rolle.

Im Moskauer Hotel Lux, in dem auch Elinor Lipper wohnt, holen Geheimdienstleute im Sommer 1937 jede Nacht «Verdächtige» ab, versiegeln ihre Zimmer und lassen die anderen Gäste im bangen Warten zurück, wer wohl als Nächstes an der Reihe sein würde. In ihrem Buch beschreibt Lipper die Stimmung im Hotel so: «Sie schlossen sich ab voneinander. Sie beobachteten sich gegenseitig lauernd und misstrauisch. Wieso hat mich der Parteisekretär so merkwürdig angesehen? Sie waren unschuldig und wälzten sich schlaflos in den Nächten. Bis es geschah.»

Sie selber trifft es in der Nacht des 26. Juli 1937. «Ich fuhr empor. Hatte es mir geträumt, oder klopfte jemand? Da – noch einmal, zweimal, dreimal – lautes, hartes, freches Klopfen. Es dröhnt, es donnert, das ganze Haus muss darüber aufwachen. Eine männliche Stimme: «Aufmachen!»

Die Herrschaft der Kriminellen

Im Glauben, dass alles nur ein Missverständnis sei, wird sie von der Geheimpolizei in die berüchtigte Lubjanka und schliesslich ins Gefängnis Butyrka verschleppt. In dieser Verhör- und Hinrichtungsstätte vegetieren Tausende Häftlinge in überfüllten Zellen dahin, geplagt von Läusen und belauscht von Spitzeln, bis man sie mit Schlafentzug oder nötigenfalls mit Schlägen und Folter dazu bringt, die absurdesten Geständnisse zu unterschreiben.

Elinor Lipper verbringt vierzehn Monate in Untersuchungshaft; nach drei Verhören droht ihr der Untersuchungsrichter mit Kriegsgericht und dem Urteil «Tod durch Erschiessen». Schliesslich reduziert die Geheimdienstjustiz das Verdikt am 8. September 1938 auf fünf Jahre Lagerhaft, wegen «konterrevolutionärer Tätigkeit». Und so wird die 26-jährige Frau zusammen mit anderen Verurteilten in Viehwagen und per Schiff nach Ostsibirien deportiert.

Dort, in den Weiten des Kolyma-Gebietes, hungern Hunderttausende in «Besserungsarbeitslagern», wie die von Lenin initiierten Gulags offiziell heissen. «In aller Augen stand die Frage: Warum? Und keiner wusste die Antwort. Wenn im Gefängnis noch ein erschrockenes Staunen über den Gesichtern gelegen hatte, die ungläubige Verwunderung des Menschen über den ihn peinigenden Menschen, über schuldlos erduldete Schmach und Grausamkeit, so konnte man jetzt etwas anderes lesen: Furcht und Verbitterung.» 

Angetrieben von Wachen und Lagerkommandanten, müssen die gefangenen Männer in Kolyma Gold schürfen und die Frauen schwerste Waldarbeiten verrichten – zwölf Stunden am Tag, bei Temperaturen von bis zu minus 60 Grad. Wer nicht genug Holz fällt, erhält weniger Brot. Hunger, Kälte, Schläge, Demütigungen, Massenerschiessungen und der Anblick von nackten Leichen gehören laut Historikern zum Lageralltag in Sibirien.

«Politische» Häftlinge stehen in der Hackordnung ganz unten, weit unter den Kriminellen, die ihre Leidensgenossen bestehlen, misshandeln und vergewaltigen. Elinor Lipper beschreibt das Grauen in ihrem Buch nüchtern und mit feinem Sarkasmus – etwa, indem sie wie später Solschenizyn aus der offiziell fortschrittlichen Verfassung der Sowjetunion zitiert, die den Menschen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz verspricht. Oder indem sie die Gesetzesparagrafen zitiert, deretwegen die Menschen in den Lagern leiden.

So reicht es für eine Verurteilung aus, unter Spionageverdacht zu stehen. Dasselbe gilt für Leute, die das Pech haben, «Familienmitglied eines Landesverräters» zu sein. Und Kinder, die das zwölfte Lebensjahr erreicht haben, dürfen im offiziell fortschrittlichsten Land der Welt sogar zum Tod verurteilt werden.

An die Nazis ausgeliefert

Der Hauptanspruch von Elinor Lippers Buch ist es, den Millionen Unschuldigen eine Stimme zu geben, «denen man die Stimme und die Freiheit und das Leben genommen hat». Da ist zum Beispiel eine Babuschka, die als vermeintliche Anhängerin von Stalins Rivalen Leo Trotzki verurteilt worden ist, obwohl sie das Wort «Trotzkismus» nicht einmal buchstabieren kann. Oder eine Mutter, die sich öffentlich von ihrem verhafteten Sohn losgesagt hat, um nicht selber verhaftet zu werden. Im Lager begegnet sie ihrem Sohn wieder. «Ich habe keine Mutter mehr» – das ist alles, was er zu ihr sagt. 

Andere Frauen sterben, weil Josef Stalin und Adolf Hitler im August 1939 einen Freundschaftspakt besiegeln, der den Nazis den ersehnten Krieg erst ermöglicht. Im Zuge dieser neuen Freundschaft liefern die Russen der Gestapo Dutzende deutsche Kommunisten aus, die einst vor Hitler in die Sowjetunion geflüchtet waren. Einige kommen jedoch gar nicht erst in Nazideutschland an: Die ehemalige Sekretärin des deutschen Kommunistenführers Ernst Thälmann etwa wird auf ein Schiff verfrachtet und während eines Sturms über Bord gespült.

Wie es auf den Gefangenenschiffen zugeht, weiss Elinor Lipper aus eigener Erfahrung: «Wir lagen zusammengepfercht auf dem teerbeschmierten Boden des Laderaums, während sich die Kriminellen auf den Brettern breitmachten. Wenn wir es nur wagten, den Kopf herauszustrecken, hagelte es von oben Heringsköpfe und Eingeweide. Die Seekranken erbrachen sich von oben herunter.»

Über ihr eigenes Schicksal berichtet die Autorin zurückhaltend. Das liegt zum einen daran, dass sie sich nicht in den Vordergrund stellen will. Zum anderen erlebt sie im Lager Sachen, über die sie auch nach der Haft nur mit ihren nächsten Angehörigen sprechen kann.

Zweimal stirbt sie in Sibirien beinahe an Hunger und Erschöpfung. Dass sie überlebt, ist auch dem Umstand zu verdanken, dass sie als ehemalige Medizinstudentin in Krankenstationen arbeiten kann. «Ohne diesen Glücksfall», so erklärt sie später gegenüber der Presse, «ist es sehr fraglich, ob ich die Freiheit je wiedergesehen hätte.» 

Kraft gibt ihr auch eine Liebesbeziehung mit einem gefangenen Arzt. 1947, noch in Gefangenschaft, bringt sie eine Tochter, Genia, zur Welt. Die ersten Monate verbringen Mutter und Kind in Durchgangslagern und verschmutzten Viehwagen. Denn 1942 ist Elinor Lippers fünfjährige Haftstrafe eigentlich verbüsst. Da die Sowjetunion während des Krieges keine Gefangenen entlässt, muss sie jedoch bis im Herbst 1946 in der Kolyma ausharren. Dann schickt man sie mit ihrer Tochter auf eine monatelange Odyssee, von einem Transitgefängnis zum nächsten Durchgangslager, vom Kaukasus bis nach Brest-Litowsk.

Weil die diplomatischen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion nur schleppend vorangehen, endet der Albtraum erst im Juni 1948, als Mutter und Tochter in Frankfurt an der Oder ein amerikanisches Flugzeug besteigen, das sie zurück in die Schweiz fliegt.

Träume vom Lager

Der Weg zurück in die Zivilisation ist für Opfer des stalinistischen Terrors jedoch ähnlich schwierig wie für die Überlebenden der Hitler-Barbarei. Kurz nach ihrer Rückkehr in die Schweiz erleidet die nunmehr 36-jährige Frau einen Nervenzusammenbruch, sechs Monate leidet sie an Gleichgewichtsstörungen, Gehen oder Stehen ist ihr kaum möglich.

«Sich wieder in die Freiheit zurück zu gewöhnen, wie sie die westliche Welt kennt, ist eine eigenartige Sache», sagt sie 1950 in einem Interview mit einem Ringier-Journalisten. «In meinem Unterbewusstsein, in den Schlafträumen leben die Lagererlebnisse immer noch weiter.» 

Neben den traumatischen Erinnerungen müssen die ehemaligen Häftlinge mit dem Umstand leben, dass kaum jemand ihre Geschichten hören will. Schlimmer noch: Die Kommunisten fühlen sich nach dem Zweiten Weltkrieg derart überlegen und siegesgewiss, dass sie glauben, alle Zeugen des sowjetischen Terrors als Lügner und Faschisten diffamieren zu dürfen.

Möglich ist das, weil Stalins Sowjetunion in der Nachkriegszeit ein heute kaum vorstellbares Renommee geniesst, in Westeuropa und sogar in den USA. Ihr Sieg über Hitler, der 20 bis 27 Millionen Sowjetbürger das Leben gekostet hat, überstrahlt fast alles – die antisemitisch gefärbten Schauprozesse der Jahre 1936 bis 1938, den Hitler-Stalin-Pakt, die Unterwerfung Ostmitteleuropas und den Gulag, der im Westen ohnehin nie auf grosses Interesse gestossen ist.

Selbst in der Schweiz sind die Kommunisten plötzlich salonfähig, in Genf wird die neu formierte Partei der Arbeit gar zur stärksten Partei. In Italien scheint eine Machtübernahme der Stalinisten möglich, ebenso in Frankreich. Dort inszeniert sich der PCF unter dem kultisch verehrten Stalin-Freund Maurice Thorez als Verkörperung der Résistance, bewundert von intellektuellen Zirkeln und Salons, gewählt von fast 30 Prozent der Urnengänger.

Der Dichter Pablo Neruda reimt in diesem geistigen Klima Verse über die «Menschen Stalins», Pablo Picasso widmet dem «Genius der Menschheit» schlichte Skizzen zum Geburtstag (Unterschrift: «Auf Deine Gesundheit!»), und Jean-Paul Sartre verkündet, dass alle Antikommunisten Hunde seien, also auch sämtliche Kritiker Stalins. Denn Kommunisten kritisieren, das dürfen in seiner Weltsicht nur Kommunisten. 

Der Prozess um die Konzentrationslager

Das Wort «Gulag» auch nur auszusprechen, ist da eine Provokation. Der sowjetische Ex-Diplomat Viktor Krawtschenko etwa wird 1947 von der kommunistischen Presse Frankreichs als Agent, Vaterlandsverräter und Lügner bezeichnet, nachdem er die sowjetische Terrorherrschaft in seinem Bericht «Ich wählte die Freiheit» entlarvt hat. Krawtschenko gewinnt 1949 zwar einen Verleumdungsprozess gegen die PCF-nahe Zeitung «Les Lettres françaises». Aber das hindert die Kommunisten nicht daran, mit allen Mitteln ihre Deutungshoheit zu verteidigen.

Als der französische Schriftsteller, antifaschistische Widerstandskämpfer und Buchenwald-Überlebende David Rousset 1949 einen internationalen Appell lanciert, alle KZ-Systeme auf der Welt, also auch das sowjetische Lagersystem, untersuchen zu lassen, bezeichnen ihn die «Lettres françaises» sofort als «Fälscher».

Rousset reagiert mit einer Verleumdungsklage, und so kommt es im Dezember 1950 in Paris zu jenem neuen «Prozess der russischen Konzentrationslager», an dem Elinor Lipper eine Hauptrolle spielt. Dass sie diese Belastung überhaupt auf sich nimmt, hat mit ihrem Mut und einem Gelübde zu tun: Noch in Haft verspricht sie ihren Leidensgenossinnen, nichts zu vergessen – und Zeugnis für alle Verdammten abzulegen, egal, wie gross ihr Bedürfnis nach Ruhe und Erholung auch sein möge.

Der Druck, der auf den Zeugen lastet, ist enorm. Wer schweigt, droht die Selbstachtung zu verlieren, weil er all jene im Stich lässt, die immer noch inhaftiert sind. Wer dagegen öffentlich über den Terror spricht, legt sich mit einer Grossmacht an, die auf ein Heer von Gläubigen, Spionen und Verleumdern zählen kann. Stalin ist 1950 kein fernes Phantom, sondern ein Diktator auf dem Höhepunkt seiner Macht. 

Als bedürfte es dazu eines Beweises, läuft in den Pariser Kinos kurz vor dem Prozess ein sowjetischer Propagandafilm mit dem Titel «Der Gesang Sibiriens». Dieser preist das Reich der Strafgefangenen als eine Art lustiges Schweizerland hinter dem Ural – und wie Elinor Lipper im Kino selber feststellen muss, quittieren das gutsituierte, Glace essende Franzosen auch noch mit Applaus.

Obwohl sie von Versagensängsten geplagt wird, findet sie am 8. Dezember 1950 die Kraft, in den Zeugenstand zu treten. Die Verhandlungen, so schreibt die NZZ am 10. Dezember, kämen wegen Obstruktionen und Störungen der kommunistischen Anwälte nur langsam voran, die Zeugen würden regelrecht tyrannisiert. «Dieser gewaltige Druck erreichte den Höhepunkt, als die Zeugin Elenor Lippert (sic!) den Saal betrat.»

Tatsächlich unternehmen die Anwälte der «Lettres françaises» alles, um die Schweizerin zu irritieren oder gar als eigentliche Täterin hinzustellen. Bei den Richtern verfängt die Verleumdungstaktik jedoch nicht, und die Redaktoren der «Lettres françaises» müssen erneut Schadenersatz leisten, diesmal an David Rousset.

Einmal KGB, immer KGB

Trotzdem sind die Kommunisten die heimlichen Gewinner im Streit um die «Gulag-Lüge». Denn eine nachhaltige Beschäftigung mit dem Thema bleibt in der Nachkriegszeit weitgehend aus. Sartre, der wegen des Gulag-Streits theatralisch mit seinem Gefährten Rousset bricht, etabliert sich erfolgreich als moralisches Gewissen, obwohl sein Beitrag zur Täuschung und Vertuschung nicht zu unterschätzen ist.

Erst nachdem Alexander Solschenizyn 1973 seinen «Archipel Gulag» veröffentlicht hat, finden die Verbrechen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Diktaturen einen gewissen Platz im kollektiven Bewusstsein. Nun gerät auch der moskautreue PCF in Erklärungsnöte – und erleidet einen Imageschaden, von dem er sich nie wieder erholt.

Elinor Lipper hat sich zu jener Zeit schon lange aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie heiratet und lebt mit ihrer Familie im Tessin. Alte Fotos zeigen ein scheinbar unbeschwertes Leben in den 1950er und 1960er Jahren, Elinor Lipper vor dem Hotel Schatzalp in Davos, auf Passfahrt mit einem schwarzen Fiat, mit Zigarette in gemütlicher Tischrunde. Angehörige erinnern sich an eine charmante, liebevolle Frau, die nach elf Jahren Haft endlich leben wollte – ohne Hass und Bitterkeit auf ihre einstigen Peiniger.

Als freier Geist will sie sich von niemandem instrumentalisieren lassen, auch nicht von bürgerlichen Antikommunisten, die im Kalten Krieg jeden enttäuschten Anhänger der Sowjetunion als Trophäe betrachten. So nimmt sie im Juni 1950 zwar am insgeheim von der CIA finanzierten «Kongress für kulturelle Freiheit» im zerbombten Berlin teil, wo sie sich mit anderen ehemals kommunistischen Autoren wie Arthur Koestler («Sonnenfinsternis») und Ignazio Silone («Fontamara») austauscht.

Auf einer Vortragstournee durch die USA wird ihr ein Jahr später jedoch bewusst, dass der Antikommunismus unter der Ägide des Senators Joseph McCarthy in eine denunziatorische Hexenjagd ausartet. Gerade weil sie weiter an den Sozialismus glaubt, will sie sich nicht für persönliche und politische Zwecke einspannen lassen.

«Auch heute scheint mir die sozialistische Idee die vernünftigste Lösung der sozialen Probleme und die einzige Garantie zur Verhütung von Kriegen in der Zukunft zu sein», schreibt sie in ihrem Buch, «aber die Sowjetunion hat diese Idee vor der ganzen Welt kompromittiert, in Blut ertränkt.»

Eine offizielle Entschuldigung hat sie von den russischen Behörden nie erhalten. Dafür muss sie noch im hohen Alter zur Kenntnis nehmen, dass die russische Regierung offensichtlich bestrebt ist, Stalin zu rehabilitieren, die Archive zu schliessen und den «Archipel Gulag» aus dem Gedächtnis der Bevölkerung zu tilgen. Über Wladimir Putin pflegte sie zu sagen: «Einmal KGB, immer KGB.»

In der Todesanzeige, die ihre Angehörigen 2008 in der «Tribune de Genève» aufsetzen lassen, heisst es: «Unfreiwillige Zeugin der Turbulenzen eines Jahrhunderts, zeugen ihr Mut und ihre Liebe von der unerschütterlichen Freiheit ihrer Seele.»

 

 1. November 2020

Die nun seit März geltenden Einschränkungen aller Art rund um die Corona-Pandemie machen uns allen - ohne Unterschied - viel zu schaffen. Es ist ganz normal, dass da jeder Einzelne auf seine Art ganz verschieden umgeht. Die einen fügen sich eigentlich problemlos ein, andere hinterfragen die verordneten Einschränkungen der Verantwortlichen auf eine "gesunde" Art. Aber da gibt es auch noch eine Gruppe, die reagieren darauf mit einer speziellen Aggression und Destruktivität, Verschwörungstendenzen inklusive. Diese dritte Gruppe widerspricht sich nicht selten in ihren Argumentationen. 

Dieser Blogger zeigt die Widersprüche der Corona-Verharmloser perfekt auf – in 7 Punkten

Sarah Serafini
 

Sie schimpfen über die «Mainstream-Medien» und informieren sich lieber auf den eigenen Kanälen. Doch das hilft den Verharmlosern der Corona-Pandemie wenig. Denn ihre Erklärungen der Umstände bleiben mangelhaft. Das zeigt ein österreichischer Blogger schonungslos auf.

Fabian Lehr ist ein Blogger in Wien und arbeitet im Sozialreferat der Österreichischen HochschülerInnenschaft. Auf den sozialen Medien hat er eine breite Followerschaft. Seine Beiträge lösen oft Kontroversen aus und werden hundertfach geliked und geteilt. So auch der Facebook-Eintrag über die lückenhafte Argumentation von Corona-Skeptiker. In 7 Punkten bringt Lehr die Widersprüche auf den Punkt.

>>> Hier geht es zu unserem Corona-Liveticker

Corona ist harmlos, andererseits ...

Corona ist harmlos, weil es nicht tödlicher ist als Grippe. Andererseits ist die Grippe eine von den Coronahysterikern totgeschwiegene Killerseuche, die jedes Jahr unbeachtet Millionen von Menschen dahinraff und wütet wie ein Weltkrieg.

Wir sind gesund, andererseits ...

Wer ein gesundes Immunsystem hat, braucht niemals irgendeine Art von medizinischer Behandlung, weil sein Körper mit jedem Eindringling spielend fertig wird. Andererseits werden an den Nebenwirkungen der künftigen Coronaimpfungen Millionen Menschen sterben, weil ihr Körper mit den eingedrungenen Stoffen nicht fertig wird.

Niemand stirbt am Virus, andererseits...

Die Sterblichkeit von Covid-19 beträgt in Wirklichkeit quasi null, weil die Dunkelziffer der Infektionen gigantisch ist und 80 Prozent der Bevölkerung sowieso schon immunisiert sind. Andererseits sind 80 Prozent aller angeblichen Infektionen falsch Positive durch unbrauchbare PCR-Tests, sodass in Wirklichkeit noch fast gar niemand infiziert wurde.

Es gab nie eine Übersterblichkeit, andererseits ...

Es ist nicht wahr, dass es jemals eine Übersterblichkeit durch Covid-19 gab. Andererseits ist die Übersterblichkeit durch Covid-19 nicht schlimm, weil an Krebs und Herzinfarkt mehr Menschen sterben.

Meine Freiheit wird beschränkt, andererseits ...

Dass der Bundesrat zur Eindämmung der Seuche von mir verlangt, täglich zehn Minuten im Laden eine Maske zu tragen, ist eine nicht hinnehmbare Einschränkung meiner persönlichen Freiheit. Damit ich mich solchen Zwängen nicht beugen muss, schlage ich vor, stattdessen die Risikogruppen zu isolieren, also alle über siebzig oder mit chronischen Krankheiten die nächsten zwei Jahre wegzusperren.

Die Wirtschaftsbosse gewinnen, andererseits ...

Einerseits muss man skandalisieren, dass das Kapital die Fake-Pandemie inszeniert hat, um seine Profite zu steigern. Andererseits ist die Fake-Pandemie deswegen schlimm, weil sie das BIP einstürzen lässt, also die Profite des Kapitals verringert.

Masken bringen nichts, andererseits ...

Einerseits sind Masken wirkungslos, weil die Luft sie ganz ungehindert durchquert. Andererseits sind Masken hochgefährlich, weil sie die Luft so wirksam blockieren, dass man leicht ersticken kann. (sar)

30. Oktober 2020

Sind die Verantwortlichen in der Schweiz wirklich sorglos, selbstüberschätzend, wie gewisse Kommentatoren im europäischen Ausland behaupten?

Blick  30.10.2020

Explodierende Corona-Infektionszahlen: Ausland wundert sich über «schön lockere und sorglose» Schweizer

Alle über 85-Jährigen einfach sterben lassen?

Schon vor den am Mittwoch neu ergriffenen Corona-Massnahmen des Bundesrats schrieb die «Süddeutsche Zeitung» von «misslichen Entscheidungen» in der Schweiz. Das Land zahle jetzt den «Preis der Entspannung». Zu Beginn der Pandemie sei aufgefallen, wie ruhig und besonnen in der Schweiz mit dem Virus umgegangen wurde – und wie schnell wieder Normalbetrieb herrschte. Man habe zu stark nur auf Eigenverantwortung gesetzt, wird Christian Althaus zitiert, Taskforce-Epidemiologe des Bundes: «Damit hat man es dem Virus bewusst erlaubt, sich langsam über die ganze Schweiz zu verbreiten.»

Deutliche Worte wählt die «Zeit». Ein paar Monate nach dem Bonmot von Gesundheitsminister Alain Berset (48): «Wir können Corona», sei in der Schweiz alles anders. Das Wochenmagazin geht mit dem Bundesrat hart ins Gericht. Während sich andere Länder in diesem Herbst mit harten Massnahmen überbieten, schreckten die meisten Kantonsregierungen in der Deutschschweiz vor eben diesen zurück.

«Realitätsfremde Selbstüberschätzung»

«Uns passiert schon nichts. Kommt schon gut», hätten sich Regierung und Behörden gesagt. Das bundesrätliche Selbstlob sei zum Mantra geworden. «Das Resultat dieses stetigen Sich-selber-auf-die-Schultern-Klopfens, wie so oft in der Schweiz: realitätsfremde Selbstüberschätzung.»

Der «Südkurier» fragt: «Kann die Schweiz die zweite Corona-Welle noch unter Kontrolle bringen?», und ob «vom Bund zu wenig Regeln» gekommen seien. Die Zeitung spricht von «lascheren» Massnahmen als etwa in Deutschland. «Ob die Massnahmen ausreichen, um die rasante Ausbreitung abzufangen, muss sich zeigen.»

Die «FAZ» meldet, gerade in den Schweizer Bergen sei «das Zähneklappern gross». Die Regierung in Bern habe keinen allgemeinen Lockdown geplant. Dieser würde insbesondere die «Bergregionen ins Mark treffen». Obwohl die Schweiz einen Teil-Lockdown wie in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich aufschiebe, viele ausländische Gäste würden dem Land im Winter wohl fernbleiben. Deutschland hat die gesamte Schweiz zum Risikogebiet erklärt: «In so einer kritischen Phase wird kaum ein Deutscher einen Skiurlaub in der Eidgenossenschaft planen.» (kes)

29. Oktober 2020

Die Schweiz - und mit ihr viele weitere Länder - befindet sich ganz tief in der Zweiten Corona-Pandemie-Well. In den vergangenen 24 Stunden stiegen die Ansteckungszahlen gegen 10'000 - die Tendenz scheint steigend zu sein. 

Es gibt Länder, die haben diese Zweite Corona-Pandemie-Welle mehr oder weniger bereits hinter sich gebracht - wie zum Beispiel Israel. Eine Übersicht

 

Diese Länder hatten schon eine zweite Corona-Welle – und so haben sie diese gemeistert

 
 
 
Reto Fehr
 
vor 7 Std.
© keystone Israel scheint die zweite Welle überstanden zu haben, die Massnahmen werden jetzt wieder gelockert.Während viele Länder Europas mitten in der zweiten Corona-Welle stecken, haben andere Staaten diese schon hinter sich. Ein Überblick.

Israel

Zeitraum: Israel hatte die erste Welle im März/April sehr gut unter Kontrolle. Ab dem 2. September nahmen die Fallzahlen aber stark zu, bis hin zum Höhepunkt am 2. Oktober. Am 16. Oktober waren sie wieder unter dem Stand vom 2. September.

Von den folgenden Ländern, welche die zweite Welle auch bereits hinter sich haben, verzeichnete Israel pro 100'000 deutlich am meisten Infektionen.

Massnahmen: Israel versetzte sich als erstes Land weltweit in einen zweiten Lockdown. Dieser begann am 18. September – also rund zwei Wochen vor dem Höchststand der Fallzahlen. Unter anderem durften die Bewohner sich nur noch in einem Radius von einem Kilometer ihres Wohnorts bewegen, Schulen und Restaurants etc. wurden geschlossen.

Der Lockdown war erst bis am 10. Oktober geplant, wurde dann aber bis am 18. Oktober verlängert. Seither läuft die Öffnung. Als Erstes konnten Kindergärten und Spielgruppen wieder öffnen, Restaurants dürfen Take-Away-Service anbieten und der Bewegungsspielraum ist wieder grösser geworden.

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Auffallend: Obwohl die Massnahmen insgesamt weniger strikt waren als im ersten Lockdown, nahmen die Fälle schneller ab. Warum, ist nicht ganz klar. Eran Segal, Forscher am Weizmann Institut, nennt in seiner Analyse zwei Gründe: Masken (gab's nur im zweiten Lockdown) und das Verbieten/Schliessen von grossen Veranstaltungen/Schulen (gab es in beiden Lockdowns).

© keystone In der Altstadt Jerusalem kehrt der Betrieb langsam wieder zurück.

Sterblichkeit: Israel verzeichnete bis am 31. August 113'724 Neuinfektionen und 918 Todesfälle. 0,81 Prozent der positiv Getesteten starben in dieser Zeit also. Seit dem 1. September wurden 195'802 Fälle registriert, 1475 starben. Die Sterblichkeit sank minim auf 0,75 Prozent. Damit war die Sterblichkeit in beiden Wellen etwa gleich.

Australien

Zeitraum: Australien vermeldet in Bezug auf die Einwohner ziemlich wenige Fälle (rund 27'000). Die erste Welle im März war schnell vorbei. Die zweite Welle begann am 1. Juli und dauerte bis Ende August, also rund acht Wochen. Betroffen war hauptsächlich der Bundesstaat Victoria mit Melbourne, wo mehr als 90 Prozent der landesweiten Toten beklagt werden.

Massnahmen: Am 1. Juli gab es in Melbourne und vielen Vorstädten einen Lockdown. Bars, Kinos und Museen mussten schliessen, Homeoffice wurde empfohlen. Wer die Maske draussen nicht trug, musste eine Busse bezahlen. Weil die Zahlen weiter stiegen, wurden die Grenzen zu anderen Bundesländern geschlossen.

Der Lockdown wurde verlängert und am 2. August mit einer Ausgangssperre von 20 bis 5 Uhr verschärft. Trotzdem dauerte es rund einen Monat, bis die Neuinfektionen nach unten gingen. Victorias Premierminister Daniel Andrews wurde für sein hartes Vorgehen kritisiert. Er hielt aber an der Strategie fest und wurde mit sinkenden Zahlen belohnt.

© keystone In Melbourne kam es am 23. Oktober zu Protesten gegen die Corona-Massnahmen.

Nachdem die Fallzahlen abnahmen, wurden auch die Restriktionen langsam wieder gelockert. Die Ausgangssperre wurde am 27. September aufgehoben. Drei Wochen später durften sich wieder bis zu zehn Personen aus zwei unterschiedlichen Haushalten draussen treffen.

Seit Mittwoch dürfen unter anderem Restaurants, Bars und weitere Geschäfte mit limitierten Gästen wieder öffnen. Und ab dem 8. November sollen dann auch noch weitere Massnahmen gelockert werden. So darf man ab dann unter anderem wieder weiter als 25 Kilometer von zu Hause weg, Fitnesscenter öffnen und die Gästelimiten in Restaurants werden erhöht.

Sterblichkeit: Während der ersten Welle starben bis am 30. Juni 104 Personen, was einer Sterblichkeit von 1,34 Prozent entspricht. In der zweiten Welle stieg diese auf 4,06 Prozent (bisher 801 Tote).

Neuseeland

Zeitraum: Neuseeland verzeichnete bisher nur 1584 Fälle. Es kommt trotzdem in die Liste, weil die Kiwis ihre Strategie «Go hard, go early» zweimal hart und schnell umsetzten. Die erste Welle war Ende April vorbei. Die zweite erschien ab dem 13. August, wurde aber sehr tief gehalten und dauerte rund vier Wochen. Zuletzt gab es bereits Anzeichen einer dritten Welle – sofern man bei diesen tiefen Fallzahlen überhaupt davon sprechen kann.

Massnahmen: In Neuseeland gilt die Devise: schnell und mit einschneidenden Massnahmen reagieren. So wurden die Grenzen am 19. März geschlossen und seither nicht wieder geöffnet.

Nach der ersten Welle sanken die täglichen Neuinfektionen am 4. Mai erstmals wieder auf Null. Erst 102 Tage später gab es in Auckland wieder eine registrierte Infektion. Als am 12. August 17 Personen infiziert waren, schloss die Regierung in der Stadt die Schulen, Kindergärten und nicht relevanten Betriebe.

Der städtische Lockdown wurde am 30. August etwas gelockert. So wurden Versammlungen auf 10 Personen limitiert. Ab dem 23. September waren beispielsweise wieder Versammlungen von bis zu 100 Personen möglich.

Seit dem 7. Oktober gilt im ganzen Land wieder Level 1 – was bedeutet, dass die Restriktionen aufgehoben sind, Masken aber weiterhin empfohlen werden. Dass es gelang, die Neuinfektionen tief zu halten, liegt gemäss Experten an den schnellen und zu jenem frühen Zeitpunkt drastischen Massnahmen. Zudem hilft Neuseeland die Lage als (Zwei-) Inselstaat, was die Abschottung erleichtert.

Sterblichkeit: Bisher gab es in Neuseeland nur 25 Todesfälle. In der zweiten Welle waren es drei von 374 registrierten Neuinfektionen. Damit lag das Land in beiden Wellen unter zwei Prozent.

Südkorea

Zeitraum: Südkorea war eines der ersten betroffenen Länder, reagierte aber schnell. Mitte August gab es eine kleine zweite Welle. Aber auch diese war schnell wieder unter Kontrolle. Seit Oktober sind die Zahlen auf tiefem Niveau stabil.

Massnahmen: Südkorea setzt unter anderem auf intensives Contact Tracing. Bei jedem positiven Fall sollen die Kontakte schnell gefunden und in Quarantäne versetzt werden. Das Maskentragen ist tief verankert in der Kultur. Am 15. August, als sich die zweite Welle abzeichnete, schlossen die Behörden unter anderem Clubs, Karaokebars, Buffet-Restaurants und Museen in Seoul, Incheon und der Gyeonggi Provinz. Zudem wurden Versammlungen von mehr als 50 Personen (drinnen) und 100 Personen (draussen) verboten. Wie in Neuseeland gilt: Eine schnelle Reaktion mit einschneidenden Massnahmen hat bei der Eindämmung des Virus geholfen.

Nachdem die Fallzahlen bis zum 13. September wieder sanken, wurden die Massnahmen (unter Einhaltung von Abstandsregeln und Maskenpflichten) gelockert. Weitere Lockerungen gab es am 12. Oktober.

Sterblichkeit: In der ersten Welle bis zum 31. Juli starben bei 14'305 Fällen 301 Personen (2,10 Prozent). Seit dem 1. August liessen 156 der 11'650 positiv Getesteten ihr Leben (1,34 Prozent).

Japan

Zeitraum: Japan hatte im April nur eine kleine erste Welle. Bei fast 130 Millionen Einwohnern sind die knapp 20'000 Fälle sehr tief. Ab dem 1. Juli zog die zweite Welle an, welche rund zwei Monate bis zum 11. September anhielt. Seither sind die Neuinfektionen auf tiefem Niveau wieder stabil.

Massnahmen: Japan schloss seine Grenzen früh. Selbst Ausländer mit Aufenthaltsbewilligungen konnten lange nicht einreisen. Im Land mit rund 15-mal mehr Einwohnern als die Schweiz wurden auch darum bisher nur rund 100'000 Neuinfektionen gezählt (Schweiz 127'000). Wie schon bei Neuseeland gilt: Das Land konnte als Insel die Grenzen einfacher schliessen.

Es wurde viel gerätselt, warum Japan – ein Land mit diversen Grossstädten und einer alten Bevölkerung – so gut durch die Krise kam und bisher nur 1725 Covid-19-Todesopfer beklagen musste.

Einen Lockdown oder harte Massnahmen gab es nicht, viel mehr hielt sich die Bevölkerung an Empfehlungen, wie beispielsweise das Maskentragen oder den Aufruf zum Zu-Hause-Bleiben.

Weiter handelt die Regierung früh und entschlossen. Und sie empfahl, folgende Situationen zu meiden: Geschlossene Räume mit schlechter Luftzirkulation, Menschenmassen und nahe Face-to-Face-Konversationen.

© keystone Japan öffnete am 1. Oktober seine Grenzen für Reisende wieder etwas.

Sterblichkeit: Auffallend ist, wie die Sterblichkeitsrate sank. Bis Ende Juni lag sie mit 972 Toten bei 5,23 Prozent. Seit Beginn der zweiten Welle sank sie auf 0,95 Prozent (746 Tote bei 78'481 positiv Getesteten).

Irland

Zeitraum: Irland erlebte die erste Welle von Mitte März bis Mitte Mai. Am 10. September begann die zweite Welle. Das Land steckt da noch immer drin, es zeichnet sich aber ab, dass der Höhepunkt am 23. Oktober überschritten wurde.

Massnahmen: Irland ging am 21. Oktober in den zweiten Lockdown. Dieser soll sechs Wochen (bis 1. Dezember) dauern. Die wichtigsten Regeln sind: Die Einwohner werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Sport ist innerhalb von 5 Kilometern vom Wohnort erlaubt. Restaurants dürfen Take-away-Service oder Lieferungen anbieten. Im Gegensatz zum Lockdown im Frühling bleiben dieses Mal die Schulen offen. Aktuell macht es den Anschein, als ob schon die Massnahmen vor dem Lockdown Wirkung entfalten. Es müssen aber noch die kommenden Tage abgewartet werden.

Sterblichkeit: In der ersten Welle kamen in Irland bis Ende Juli 1763 Personen wegen Corona ums Leben (6,77 Prozent der positiv Getesteten). Seit dem 1. August bisher 119 bei 31'101 Fällen (0,38 Prozent). Allerdings läuft die zweite Welle in Irland noch weiterhin. Todesfälle dürften sich noch mehren.

Die Lage in Europa

Während sich bei Irland womöglich schon ein Abwärtstrend abzeichnet, stecken weitere europäische Länder wie die Schweiz, Spanien, Italien, Frankreich, Tschechien, Grossbritannien, Österreich, Deutschland, Belgien oder die Niederlande erst am Anfang oder mitten in der zweiten Welle.

Die Massnahmen sind überall etwas unterschiedlich. In Frankreich rief Präsident Emmanuel Macron gestern den erneuten Lockdown aus, in den Niederlanden und Belgien gibt es Teil-Lockdowns, andere Länder versuchen, ohne Schliessungen durch die zweite Welle zu kommen. Ziel ist, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht, was in der zweiten Welle bisher in keinem europäischen Land geschah.

Der Zürcher Arzt André Seidenberg plädiert für mehr Realismus in der Corona-Krise: «Alles, was jetzt kommt, entspricht einer lang andauernden Freiheitsbeschränkung»

 
28. Oktober 2020
Die Corona-Pandemie-Situation in der Schweiz (wie weltweit) ist verzweifelt. Die Schweiz ist zu einem Hotspot geworden. Täglich gibt es mehr als 6'000 Ansteckungen. Heute Nachmittag verfügte der Bundesrat über neue Vorschriften im Umgang mit dieser Pandemie. Ich bezweifle, dass damit die Ansteckungszahlen und v.a. die Überlastung der Spitäler in den Griff zu bekommen sind. 
André Seidenberg, praktischer Arzt, hat sich v.a. in den 80er Jahren mit den Drogensüchtigen auf dem Zürcher Platzspitz eingegeben. Im nachfolgenden Interview geht er auf die jetzige Corona-Pandemie ein. Er ist der Meinung, dass sie für die Verantwortlichen aus dem Ruder gelaufen ist und dass man letzten Endes mit einer Sterberate von 20'000 bis 40'000 zu rechnen habe. Lesen Sie das Interview der NZZ selber.  

Er war einst Drogenarzt auf dem Zürcher Platzspitz und sah viel Leid und Elend. Nun hat André Seidenberg ein persönliches Manifest zum Coronavirus verfasst. Im Interview sagt er, wir hätten die Kontrolle über die Epidemie verloren. Nun gelte es dies auszuhalten.

© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung «Auch damals gab es Verschwörungstheorien und Realitätsverleugnungen, die mit der Zeit wieder verschwanden», sagt der pensionierte Arzt André Seidenberg über die Anfangszeit des HI-Virus, hier am Platzspitz. Christoph Ruckstuhl / NZZHerr Seidenberg, die Infektionszahlen steigen seit einiger Zeit täglich sehr stark an. Sind Sie überrascht davon?

Ich hätte nicht erwartet, dass die Zahlen so schnell so stark ansteigen. Aber wirklich überrascht hat es mich nicht. Ich staune eher darüber, wie viele Leute lange noch so taten, als würde man eine zweite Welle verhindern können. Dabei war schon früh klar, dass dies ohne eine rigorose, effiziente Organisation von Tests und Contact-Tracing nicht möglich sein würde. Wesentlich ist der Zeitfaktor: Man hätte innerhalb von wenigen Stunden jeden, der infiziert ist, identifizieren, kontaktieren und gleichzeitig die Tracing-Massnahmen einleiten müssen. Dann wäre es möglich gewesen, die zweite Welle zu unterdrücken. Das haben die Behörden verpasst.

Im Nachhinein ist es immer einfach, zu kritisieren. In einem persönlichen Manifest, das Sie an Bekannte verschickt haben, gehen Sie mit den Behörden hart ins Gericht. Wann haben Sie denn realisiert, dass es in die falsche Richtung läuft?

Vor ein paar Monaten, wie übrigens andere Berufskollegen auch. Faktisch hätten wir seit der ersten Welle ein halbes Jahr Zeit gehabt, um mit einem effizienten Einzelfall-Tracing eine massenhafte Ausbreitung und einen exponentiellen Anstieg der Infektionen zu verhindern. Politik und Behörden überschätzen ihre Wirkmächtigkeit. Wir als Gesellschaft beklagen nun wie kleine Kinder, dass uns niemand vor der Realität, vor diesem Ungemach und Schrecken, beschützen kann.

 
Diese Reaktionen erinnern Sie an Kinder im Trotzalter?

Ja, die Emotionen, die in der Breite der öffentlichen Meinungen zum Ausdruck kommen, enthalten oft infantile Elemente. Dazu zähle ich die Aussagen von Leuten, die sich der Realität verweigern und behaupten, Covid-19 sei nicht gefährlich. Und das nur, weil sie sich zu Recht in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen. Da gibt es Gefühlsausbrüche, die an das Verhalten kleiner Kinder gemahnen.

Von vielen Seiten wird jetzt gefordert, dass die Politiker hart durchgreifen und zumindest einen Mini-Lockdown verfügen. Was halten Sie davon?

Selbstverständlich wird das Verhalten jedes Einzelnen von behördlichen Massnahmen beeinflusst. Wir reagieren mehr oder weniger willig oder unwillig. Doch wie stark wir unser Verhalten als Kollektiv verändern, hängt nicht nur von Anordnungen durch Behörden ab. Wenn Massnahmen zu weit gehen, werden sie nicht mehr befolgt. In der Schweiz dauert es zwar sicher länger als in anderen Ländern, bis es zum Volksaufstand kommt, doch der Unwille ist da. Wir ärgern uns und werden zur polarisierten Gesellschaft. Darin sehe ich eine grosse Gefahr.

Was schlagen Sie also vor – einen Mittelweg?

Ich denke, wir müssen jetzt sorgfältig prüfen, wie es weitergeht. Denn Massnahmen, die nun angeordnet werden, werden wir nicht nur die nächsten ein oder zwei Monate, sondern wahrscheinlich zwei Jahre lang durchhalten müssen. So lange dauert es voraussichtlich, bis sich Covid-19 durch Durchseuchung und eine Impfung nicht mehr weiter verbreiten kann. Alles, was jetzt kommt, entspricht einer lang andauernden Freiheitsbeschränkung. Darum müssen Massnahmen sorgfältig legitimiert werden. Die Fiktion der Kontrollierbarkeit dieser Seuche genügt dafür nicht. Wir haben die Kontrolle über diese Epidemie verloren.

Was wäre Ihres Erachtens eine legitime Massnahme?

Wenn die Behörden verfügen würden, dass überall im Freien Masken getragen werden müssen, wäre das an vielen Orten absurd. Aber wenn in Zürich an der Bahnhofstrasse während des Weihnachtsgeschäfts eine Maskentragpflicht gilt, scheint mir das legitim. Einschränkungen der Freiheit, und dazu gehört eine Maskenpflicht, müssen gut begründet sein. Nur dort, wo ich als gefährdeter Mensch unvermeidlich hingehen muss, sind Verbote und Gebote wegen Covid-19 zulässig.

Dazu zählen Sie das Weihnachtsgeschäft an der Bahnhofstrasse?

Für die Kunden ist es nicht unbedingt zwingend, aber die Leute, die dort arbeiten und sich an der Bahnhofstrasse im Einkaufsrummel bewegen müssen, müssen geschützt werden.

«In der jetzigen Situation dürfen wir den Jungen nicht alle Freiheiten wegnehmen; das überfordert längerfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt.»

In Ihrem Manifest stellen Sie sich schützend vor die Jungen. Sie plädieren dafür, deren Freiheit nicht zu stark einzuschränken. Sie sind also gegen Klubschliessungen?

Ja, denn Klubschliessungen folgen der Fiktion, wir könnten diese Epidemie noch unter Kontrolle bringen. In der jetzigen Situation dürfen wir den Jungen aber nicht alle Freiheiten wegnehmen; das überfordert längerfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mein persönliches Risiko als knapp 70-Jähriger, in den nächsten ein, zwei Jahren an Covid-19 zu sterben, liegt theoretisch bei fast 5 Prozent. Das gibt mir jedoch nicht das Recht, den Jungen alles aufzubürden.

Das heisst: Jeder, der Freiheiten will, bekommt sie, und wer sich schützen will, muss es alleine tun?

Genau. Wir können uns allerdings nicht mehr der Illusion hingeben, dass wir uns hundertprozentig schützen könnenDie Wahrscheinlichkeit, dass wir uns alle früher oder später infizieren, ist hoch. Wir dürfen die Augen vor dieser Katastrophe nicht verschliessen. Ich rechne zurzeit damit, dass zwanzig- bis vierzigtausend Menschen in der Schweiz an Covid-19 sterben werden. Vielleicht 5 Prozent erleiden einen dauerhaften gesundheitlichen Schaden über Monate oder für den Rest ihres Lebens.

Wovon ist abhängig, wie viele Leute sterben werden?

Unter anderem von der Behandlungsqualität, und diese sinkt, wenn das Gesundheitssystem überlastet ist. Meine Kolleginnen und Kollegen in den Spitälern haben eine sehr professionelle Haltung in dieser schwierigen Situation. Viele von ihnen wachsen jetzt in eine Art Medizin hinein, die sie nicht gewohnt sind.

Sie waren als Arzt in der offenen Drogenszene in Zürich tätig. Kennen Sie diese Art Medizin, wie Sie es ausdrücken, aus jener Zeit?

Ja, ich habe in den achtziger und neunziger Jahren in der Drogensituation, die aus dem Ruder gelaufen war, viel Leid und Elend gesehen. Eines der grossen Probleme war damals HIV, ebenfalls eine Seuche, über die man zu Beginn sehr wenig wusste. Auch damals herrschte eine grosse Unsicherheit, die nur langsam überwunden wurde, indem das Wissen über die Krankheit wuchs. Auch damals gab es Verschwörungstheorien und Realitätsverleugnungen, die mit der Zeit wieder verschwanden.

Wie haben Sie das damals konkret erlebt?

Im Fixerraum des AJZ, des Autonomen Jugendzentrums an der Limmatstrasse, haben sich wahrscheinlich fast alle Süchtigen durch schmutzige Nadeln mit HIV angesteckt. In unserer Arztpraxis tauchten plötzlich Junkies auf mit Pilzbefall im Mund. Am Universitätsspital Zürich wurden wohlhabende Homosexuelle mit ähnlichen Symptomen behandelt, und aus den USA gab es ähnliche Berichte. Es dauerte zwei oder drei Jahre, bis man Genaueres über diese neue Viruserkrankung wusste. Und eine Impfung, auf die man lange Zeit hoffte, gibt es bis heute nicht.

«Man kann nicht alles Leid ignorieren. Wir müssen lernen, gelassen mit unserer Angst umzugehen.»

Mit den Wintermonaten und der Ausbreitung des Coronavirus kommt auf jeden Fall eine schwierige Zeit auf uns zu. Wie sollen wir damit umgehen?

Die meisten von uns haben jetzt Angst, und diese ist auch realitätsgerecht und angebracht. Covid-19 ist mit viel Leid verbunden. Ich hoffe aber auch, dass wir vielleicht wieder besser lernen, etwas auszuhalten. Ich war vierzig Jahre lang Arzt in Zürich, und die Schmerzschwelle der Patienten ist in dieser Zeit ganz drastisch gesunken. Auch die Bereitschaft, Ungemach auszuhalten, ist geringer geworden. Man kann nicht alles Leid ignorieren. Wir müssen lernen, gelassen mit unserer Angst umzugehen. Unser Selbstvertrauen hängt nicht vom Wohlbefinden und dem Fehlen von Unannehmlichkeiten ab. In uns selbst können wir Hoffnung finden.

8. Oktober 2020

Wir befinden uns immer noch mitten inder Coroan-Pandemie-Zeit. Diese Pandemie hat wohl nicht nur die offiziellen Stellen, sondern jeden Einzelnen von uns überfordert! Diese Pandemie liess in der Folge keinen Stein mehr auf dem anderen, veränderte gewissermassen unsere Existenz auf allen Ebenen. 

Es ist verständlich, dass rund um die Einschränkungen, die von offiziellen Stellen verfügt wurden und werden, die Meinungen auseinander gehen können. Das ist nicht nur verständlich, sondern auch legal. Aber höchst problematisch ist jedoch all das, was unter sogenannten "Verschwörungs-Theoretikern" abläuft, v.a. wenn es dabei um Diskriminierung von Andersdenkenden, und wenn dabei auch noch Antisemitismus mitschwingt. 

Der folgende Artikel der NZZ vom 8.10.2010 beschäftigt sich mit der aktuellen Corona-Pandemie-Zeit. 

https://www.nzz.ch/meinung/corona-in-der-pandemie-zeigt-sich-die-angst-vor-der-freiheit-ld.1580221?mktcid=smsh&mktcval=E-mail 

https://www.nzz.ch 
© NZZ AG - Alle Rechte vorbehalten 

25. September 2020

Die ganze Welt leidet unter der Corona-Pandemie, ihren Auswirkungen, ihren Einschränkungen. Die Folge davon ist in breiten Kreisen eine grosse Verwirrung. Verschwörungtheorien haben Hochkonjunktur und verbreiten sich so rasch wie das Corona-Virus. Auch in der Schweiz. In Diskussionssendungen hört man Leute jammern, ihre Meinungsfreiheit sei massiv beschnitten, sie würden als abartige *Verschwörungstheoretiker" gebrandmarkt. Das obligatorische Maskentragen würde ihre ganz persönliche "Freiheit" unnötig einschränken. Ich hörte sogar von einer Ladenbesitzerin für vegane Nahrungsmittel in Winterthur, die sich weigerte, ihre Kunden - und sich selber - Masken in ihrem Laden zu tragen. Der Laden wurde dann in der Folge von der Polizei geschlossen. Diese Dame ereiferte sich dann vor TV-Kameras lauthals über diese "Ungerechtigkeit". 

Hans Stutz geht in seinem folgenden Artikel auf diese sehr spezielle Situation  ein: 

TACHLES 25.9.2020

Alte Geschichten neu erzählt

Die Pandemie macht Verschwörungstheorien wieder populär – wie auch die Kundgebung gegen Corona in Zürich zeigt.

Zürich, Samstagnachmittag vergangener Woche. Kundgebung jener Männer und Frauen, die meinen, das Coronavirus gebe es nicht oder andernfalls sei es nicht gefährlicher als ein Grippevirus. Einige sehen sich als «Corona-Rebellen», andere als «Querdenker», nochmals andere als besorgte Zeitgenossen. So wie auch bei Demonstrationen in Berlin, Stuttgart oder vielen anderen Städten. Die Demonstrierenden beanspruchen Meinungsäusserungsfreiheit und pfeifen und schreien gegen alle, die ihre Meinung nicht teilen, besonders heftig gegen Medienschaffende. Viele schelten sie als «Volksverräter», andere halten ihnen ihre Mitarbeit an der «Lügenpresse» vor.

Netzwerke und anderes
Unter den Zürcher Kundgebungsteilnehmern auch ein Fahnenträger, dessen Stoffstück einzig den Buchstaben Q zeigt. Der Mann outet sich damit als Anhänger der QAnon-Bewegung. Diese «rechte Verschwörungsideologie» sei, so schreibt das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in seiner aktuellen Titelgeschichte, die «gefährlichste Bewegung unserer Zeit». Es sei «die erste Ideologie, die aus dem digitalen Raum» stamme und «sich von einer Nische im Netz ins wirkliche, reale Leben» vorgearbeitet habe.

Was ist QAnon? Und stimmt diese Einschätzung? Die Bewegung kam aus dem digitalen Nichts und vieles ist noch unklar. Unklar ist, ob die QAnon-Meldungen von einer Person oder von mehreren Personen verfasst werden. Klar ist: Die erste Botschaft erschien im Oktober 2017, inzwischen sind es über 4600 Texte. Der anonyme Verfasser «Q» behauptet, sein Wissen stütze sich auf Quellen in der Trump-Administration. Er wisse daher, dass eine einflussreiche und reiche Clique von Kinderschändern Mädchen und Knaben entführe, um aus ihrem Blut eine Substanz zu gewinnen, die Leben verlängere. Doch US-Präsident Donald Trump stelle sich dem «Deep State» entgegen.

Auch für die Corona-Pandemie erfand QAnon eine wüste Geschichte. Das Virus sei in einem chinesischen Labor erfunden worden, um US-Präsident Trump zu schaden.

Antisemitismus und anderes
Eine Verschwörungstheorie also? Von Verschwörungstheorien zu schreiben, verbietet die intellektuelle Redlichkeit, da Theorien einen Grundstock überprüfter und einleuchtender Behauptungen enthalten müssten. Verschwörungsideologien also? Geht man davon aus, dass Ideologien ausformulierte Leitbilder für gesellschaftliche und politische Ordnungen sind, dann ist auch die QAnon-Geschichte zu schmalbrüstig. Zutreffender wären Begriffe wie Verschwörungserzählung oder -legende. Gemeinsam ist diesen Geschichten, dass Erzähler bereits bekannte Geschichten aufnehmen, um sie zeitgenössisch weiter zu spinnen. Die QAnon-Kinderschänder-Legende erinnert an den Ritualmord-Vorwurf, der sich in der europäischen Geschichte häufig gegen «die Juden» wandte.

Auch die Figur eines anonymen Verfassers, der Insiderkenntnisse weitergibt, taucht immer wieder auf. Die frei erfundenen «Protokolle der Weisen von Zion» geben vor, Protokolle des Basler Zionistenkongresses zu sein. Viele Geschichten von «Illuminati» oder Freimaurern beruhen auf anonymen «Geständnissen» ehemaliger «Hochgradfreimaurer».

Klar ist auch, Antisemitismus und Freimaurer-Feindschaft fanden bei Anhängern der «Gegenaufklärung» Anklang, die um ihre Privilegien fürchteten – wider die Werte der Aufklärung und die Errungenschaften der Französischen Revolution. Besonders anfällig war bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil die römisch-katholische Kurie. Liberale Gesellschaften, geprägt von mündigen und selbstbewussten Bürgern, sind christlichen Traditionalisten noch heute suspekt.

In europäischen Gesellschaften verloren die Kirchen zwar Mitglieder und Einfluss, es entstanden aber esoterische Strömungen, teils begeistert von gegenaufklärerischen Ideen. Im vielfältigen und unübersichtlichen esoterischen Angebot kommen und gehen die Wellen zwar wie am Ufer des Ganges. Aber der Strom fliesst immerdar. Bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre erhielten in diesen Zirkeln Verschwörungslegenden verbreitet Zuspruch. Der damalige Star verbarg sich hinter dem Pseudonym «Jan van Helsing». Sein Buch «Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert» erreichte eine deutschsprachige Auflage von über 100 000 Exem-plaren. Er verband die alte antisemitische Mär einer geheimen jüdischen Weltregierung mit der Hohle-Welt-Mär, wonach Adolf Hitler und einige Tausend Nationalsozialisten sich nach «Neuschwabenland» im Innern der Erdkugel hätten zurückziehen können, das «Dritte Reich» also unbesiegt weiter bestände. Tröstlich: Jan von Helsings Ergüsse sind heute aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden. Auch bei Esoterikern. Heute wollen sich viele von ihnen nicht von der QAnon-Erzählung abgrenzen, oder sie halten sie ganz oder teilweise für wahr.

Fazit: Das Virus wird länger wirken, als die bewegten Corona-Leugner & -Skeptiker öffentlich auftreten werden. Die QAnon-Legenden werden allmählich aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden, bis sie, aus heute noch unbekannten Motiven, weiter gesponnen werden. Bleiben werden jene gesellschaftlichen Milieus, die mit Verschwörungslegenden ihre Machtansprüche verteidigen wollen. - Hans Stutz

23. September 2020

Julliette Greco ist gestorben! Ich war – v.a. in jungen Jahren und während der Zeit, da ich in Paris wohnte – ein grosser Fan dieser Chansonniere. Ich liebte ihre Art des Chansons, aber v.a. den Inhalt ihrer Poesie.

Jetzt ist sie im hohen Alter von 93 Jahren verstorben. Vor meinem inneren Auge (und Ohr) ziehen einige ihrer Chansons, ihre Gestik usw. vorbei. Diese Erinnerungen erfüllen mich mit einer gewissen melancholischen Nostalgie!

Juliette Gréco (†93): Große Trauer! Die Chanson-Legende ist tot

 Talea de Freese vor 12 Std.

Chansons wie "L'accordéon", "La Javanaise" und "Déshabillez-moi" machten sie in den 50ern und 60ern berühmt. Nun müssen die Fans von einer Ikone der Musikwelt Abschied nehmen.

Juliette Gréco (†93) ist gestorben

Wie ihre Familie über die Nachrichtenagentur AFP am Mittwochabend (3. September) mitteilte, ist Sängerin und Schauspielerin Juliette Gréco (†93) tot.

Die Französin sei in ihrem Haus in Ramatuelle in Südfrankreich im Kreis ihrer Familie gestorben, sie wurde 93 Jahre alt.

https://www.youtube.com/watch?v=oieG0DHfISE

Die Sängerin, deren Texte oft politisch waren, trug am liebsten Schwarz. Auf der Leinwand war sie unter anderem in "Jedermanns Fest" zu sehen gewesen. 2015 hatte sie Abschied von der Bühne genommen und zuletzt sehr zurückgezogen gelebt.

23. September 2020

Klimademo in Bern vor dem Bundeshaus – illegal: ist dies vertretbar oder nicht?

In Bern demonstrierten gestern (22.9.2020) bis heute morgen einige Hunderte Aktivisten der Klimabewegung vor dem Bundeshaus. Diese Demo wurde von dem amtlichen Stellen nicht bewilligt, und es stellt sich (für mich jedenfalls) die Frage, ob für das Einstehen einer „gerechten Sache“ ein Verbot von amtlichen Stellen gebrochen werden darf. Ich bin der Meinung: nein! Der folgende Artikel der NZZ (Kommentar) vom 23.9.2020 geht auf diese Thematik ein.

Anmerken möchte ich noch, dass ich in meinen Jungen Jahren an vielen Demos (in der Schweiz und in Frankreich( teilgenommen habe. Damals ging es v.a. um den unglücklichen Vietnam-Krieg, den wir als junge Menschen als ungerecht betrachteten. Und Sinn und Zweck dieser Demos (an denen ich teilnahm) war, klar und deutlich Stellung gegen diesen ungerechten Krieg in Asien Stellung zu beziehen, wir reihten uns an weltweite Demos im gleichen Sinne ein und versuchten auf diese Weise, die USA zu einem Rückzug, resp. einer Beendigung dieses Krieges zu bewegen. Erst viel später las ich dann die sogenannten „Washington Paper“, die klar bewiesen, dass seit Kennedy die USA-Präsidenten wussten, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war, ihre Bürger aber darüber im Unklaren liessen. Unsere Demos von damals geschahen auf friedlicher Ebene, wir hielten uns an die gültigen Regeln und Gesetzen. – Und das ist nun mit dieser Klima-Demo vor dem Bundeshaus nicht der Fall!

NZZ KOMMENTAR - 23.9.2020

Die Stadt Bern misst mit zweierlei Mass

Das Demonstrationsverbot auf dem Bundesplatz während der Parlamentssessionen gilt offensichtlich nur selektiv. Passt die Gesinnung zur links-grünen Weltutopie, lässt die Stadt Bern politische Aktionen wie den aktuellen Klimaprotest mit viel Gutmütigkeit laufen.

Georg Häsler Sansano, Bern

45 Kommentare - 22.09.2020, 17.47 Uhr

Der Bundesplatz ist seit Montag von Aktivistinnen und Aktivisten der sogenannten Klimabewegung besetzt. Foto Peter Klaunzer / Keystone

Die Dringlichkeit griffiger Massnahmen für den Klimaschutz sind unbestritten. Das Parlament ringt zurzeit mit den Differenzen im neuen CO2-Gesetz. Bald wird das Volk über die Gletscherinitiative abstimmen, die bei der Reduktion der Treibhausgase weitgehende Forderungen in der Verfassung festschreiben will. Angesichts des schnell schmelzenden, einst ewigen Eises in den Alpen hat der Vorstoss sogar Chancen, angenommen zu werden.

Stadt Bern hat es verpasst, das geltende Recht durchzusetzen

Auch wenn die Mühlen der Politik langsam mahlen: Die Gruppierungen, die zurzeit den Bundesplatz unter dem Slogan «Rise up for Change» besetzen, schaden dem Anliegen. Die Sorge um das Klima ist eine Etikette für den Versuch, die geltende Ordnung grundlegend zu verändern. In einem programmatischen Text, notabene auf Englisch verfasst, wird unter anderem der Finanzsektor fundamental angegriffen und eine partizipative Demokratie inklusive einer «citizen’s assembly» gefordert, also einer neuen Institution mit dubiosem Auswahlverfahren.

Die Forderung mutet seltsam an: Ausgerechnet im Land der direkten Demokratie soll mit «zivilem Ungehorsam» mehr Partizipation erzwungen werden. Ganz offensichtlich wird hier eine internationale Ideologie übernommen, die unter anderem auch auf den Websites von «extinction rebellion» propagiert wird. Die runenartigen Fahnen dieser radikalen Gruppe, die in London landende Passagierflugzeuge mit Drohnen stören wollte, dominieren gegenwärtig den Bundesplatz.

Der Rechtsbruch gehört also zum Programm dieser «action directe», ebenfalls ein ideologisch aufgeladener Begriff. Während der Parlamentssession sind Demonstrationen vor dem Bundeshaus grundsätzlich verboten. Störungen des öffentlichen Verkehrs sowieso. Die Stadt Bern hat es aber trotz deutlichen Anzeichen für eine Aktion der sogenannten Klimabewegung unterlassen, in der Nacht auf Montag mit einem hinreichenden Polizeiaufgebot bereitzustehen, um das geltende Recht durchzusetzen.

Jetzt wird es auch aus polizeilicher Sicht zunehmend schwierig, den Bundesplatz zu räumen. Die Polizistinnen und Polizisten würden zu unfreiwilligen Protagonisten durchaus gewollter Bilder von staatlicher Gewalt gegen einen friedlichen Protest. Trotzdem kann die Stadt Bern den deutlichen Brief der Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung vom Montag nicht einfach ignorieren, worin die Nationalratspräsidentin und der Ständeratspräsident zur «Wahrung der Demokratie» aufrufen und die «Einhaltung der geltenden Rechtsbestimmungen» fordern, also faktisch die Räumung des Camps.

Bern wird zum Biotop einer bestimmten Ideologie

Doch der Gemeinderat, die Berner Stadtregierung, duldet die Aktion mit fast elterlicher Gutmütigkeit weiter und macht Angebote wie an Kinder, die statt auf der Spielstrasse auf dem Parkplatz des bösen Nachbars spielen. Motto: Bitte kreidelt mit euren Strassenkreiden nicht den Bundesplatz voll, ihr dürft aber auf dem Waisenhausplatz weiterfahren. Ein erstes Ultimatum ist verstrichen. Die Aktivistinnen und Aktivisten sind geblieben. In einem letzten Angebot nach einer ausserordentlichen Sitzung lädt sie der Gemeinderat nun ein, den Bundesplatz freizugeben und doch bitte endlich auf einen anderen Platz umzuziehen.

Offensichtlich hegen die Berner Behörden Sympathien für die Aktion der sogenannten Klimabewegung und ihre radikalen Forderungen. Es stellt sich die Frage, wie der Gemeinderat reagierte, wenn die Anhänger eines weniger genehmen Anliegens den Platz vor dem Bundeshaus in Beschlag nehmen würden. Er setzt das Verbot von Demonstrationen auf dem Bundesplatz während der Sessionen selektiv um.

Die Gleichheit aller vor dem Gesetz ist ein wesentliches Gut der Demokratie und des Rechtsstaats. Der Rest der Schweiz erwartet, dass dies auch in der Bundesstadt selbstverständlich ist. Denn Bern ist ein Biotop einer links-grünen Weltutopie, die auch rechtsfreie Räume wie die Reitschule oder exzessive Hausbesetzungen toleriert. Gerade im Umgang mit existenziellen Herausforderungen wie dem Klimawandel ist der Wettbewerb der Ideen ein wichtiger Boden für gemeinsame Lösungen. Die Einhaltung der Grundregeln des Gemeinwesens ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Dafür hat die Stadt Bern zu sorgen

45 Kommentare

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Diese Demonstranten sehen nur ihre Lösung und die ist alles andere als demokratisch. Sie wollen ihre Staatsform (Marxismus) einführen und zeigen dies auch offen mit diesen ominösen Gremien.  Die Stadt Bern liess vor wenigen Wochen/ Monaten Demonstrationen auflösen und Bussen verteilen. Damals ging es aber um Corona-Massnahmen. Eigentlich wird jede unbeteiligte Demo aufgelöst seitens der Polizei. Wer hat denn da beide Augen zugedrückt?  dieser Entwicklung sehe ich seit längerem mit Besorgnis: Rules for thee but not for me.  Damit wird an dem fundamentalen Prinzip der Rechtsgleichheit gesägt. Versteht die Stadt Bern, dass sie damit dem moralischen Policing Vorschub leistet? Wer stellt sich dem entgegen? Die Medien sind immer noch relativ zurückhaltend. Ivo Gut - vor etwa 21 Stunden

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Dass die Polizei hier nicht dreinschlagen und womöglich noch "Helden" erschaffen soll, kann man durchaus nachvollziehen. Völlig daneben und unbegreiflich ist jedoch, dass grüne und linke Politiker die Aktion begrüssen oder höchstens etwas herumeiern statt klar zugunsten des Rechtstaates Stellung zu beziehen. Das ist staatspolitische Verantwortungslosigkeit - das Einstehen für den Rechtsstaat und die geltenden, in einem rechtsstaatlichen Verfahren erlassenen Gesetze (auch wenn sie aus eigener Sicht vielleicht falsch sind), ist eine charakterliche Grundvoraussetzung für Politikerinnen und Politiker in einer Demokratie (selbst wenn sie selbstverständlich davon überzeugt sind, dass sie moralisch und ethisch besser sind als der Rest der Bevölkerung). Die Mittel, um die Gesetze zu ändern, sind bei uns gegeben - und wenn neue Ideen überzeugen, werden sie sich auch ohne kindische Rechtsverletzungen durchsetzen.

 

6. September 2020

Der Zürcher Platzspitz war jahrelang weltweit als schlimmes Beispiel der Drogenszene bekannt. Dort haben sich ganz schlimme Sache ereignet, von denen wohl die meisten Zürcher gar keine Notiz nahmen. – In der Zwischenzeit ist der „Platzspitz“ (traurige) Geschichte geworden.

Der Arzt Dr. Andre Seidenberg, der damals in dieser Szene aktiv war, erinnert sich im folgenden NZZ-Artikel:

Neue Zürcher Zeitung: «Die Erinnerungen an den Platzspitz kommen manchmal überfallartig» – Der Zürcher Drogenarzt André Seidenberg war mitten drin in der offenen Drogenszene

 Rebekka Haefeli vor 2 Tagen

André Seidenberg reanimierte als junger Notfallarzt auf dem Platzspitz Süchtige, gab saubere Spritzen ab und hörte unzählige Geschichten von gescheiterten Existenzen. In einem Buch teilt er nun seine Erfahrungen.

Heute ist auf dem Platzspitz nichts mehr, wie es einmal war. An diesem Mittag im Spätsommer riecht es im Park nach Frittiertem; die Bänkchen und Mäuerchen sind von Leuten bevölkert, die für kurze Zeit aus ihren Büros geflüchtet sind. André Seidenberg spaziert über die Wiese, bleibt stehen, zeigt auf eine Stelle hinter einem Baum: «Hier habe ich einmal einen Süchtigen reanimiert – und es ging beinahe schief.»

Tägliche Überdosierungen

Hält sich der Zürcher Allgemeinpraktiker im Park hinter dem Landesmuseum auf, kann er die inneren Bilder nicht abwehren. Zu viele Abgründe hat er hier gesehen, zu viel von seinem Herzblut als Arzt und als Mensch ist mit diesem Ort verbunden. Als junger Notfallarzt rückte er in den achtziger und neunziger Jahren immer wieder in die offene Drogenszene aus. Denn dass sich Junkies Überdosen gespritzt hatten, war damals an der Tagesordnung.

«Zahlreiche Süchtige kannten mich als ihren Arzt und beschützten mich in der Szene», erzählt André Seidenberg. Christoph Ruckstuhl / NZZ© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung «Zahlreiche Süchtige kannten mich als ihren Arzt und beschützten mich in der Szene», erzählt André Seidenberg. Christoph Ruckstuhl / NZZ

Fast schief ging die Reanimation, von der Seidenberg erzählt, weil er dem weggetretenen Süchtigen ein Medikament spritzte, das die Wirkung des Heroins, das der Junkie zuvor konsumiert hatte, aufheben sollte. «Der Mann wachte schlagartig auf und ging auf mich los.» Der Süchtige wusste schlicht nicht mehr, wie ihm geschah, und war in Panik geraten. «Seine Freunde hielten ihn zurück und klärten ihn auf, dass ich Arzt sei und ihm soeben das Leben gerettet hätte.»

Düstere, repressive Stimmung

In seinem Buch, das Ende September erscheint, erzählt der Arzt von zahlreichen bedrückenden Szenen rund um das Platzspitz-Rondell, in dem Schwerstsüchtige unter widrigen Bedingungen hausten. Ihr einziges Ziel war, auf der täglichen Jagd nach Stoff fündig und nicht von der Polizei geschnappt zu werden. Es herrschte eine düstere, repressive und gehetzte Stimmung, die nahtlos an die bewegte Zeit der Jugendunruhen in den 1980er Jahren anschloss. Viele Jugendliche, die damals auf der Strasse für mehr Freiheiten gekämpft hatten, landeten später in der Drogenszene am Platzspitz.

Seidenberg schildert seine Erinnerungen im Buch anhand von Protagonisten der damaligen Zeit, die eine wichtige Rolle spielten und teilweise heute noch leben. Er hat die Geschichten so weit verfremdet, dass die tatsächlichen Personen nicht erkennbar sind.

Auf der steinernen Plattform im Rondell bewegte sich ein dunkler Haufen träge unter Wolldecken und wasserfesten Planen. Dort lagerte der härteste Kern der Szene. Noch waren die Nächte nicht eiskalt, aber diese Leute würden dort auch den sibirischen Temperaturen der härtesten Winternächte trotzen. Der Platzspitz war vierundzwanzig Stunden täglich und dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geöffnet.

Im Rondell führte Grosso Regie. Grosso wusste auch nach Mitternacht und in den frühesten Morgenstunden, wo welcher Stoff oder was auch immer subito und sofort besorgt werden konnte: Kokain, fünfzig Gramm Heroin, Falschgeld, eine Knarre und einen, der bereit war, bei einem Einbruch Wache zu schieben, oder welche Frauen zum Ficken, Schlagen und Würgen zu kaufen waren. Für Grosso fiel immer etwas ab, «universale Fernbedienung» nannte er das.

Viele der Abhängigen auf dem Platzspitz waren auch Seidenbergs persönliche Patientinnen und Patienten. Nach dem Staatsexamen arbeitete er einige Zeit in der Gruppenpraxis «Plaffenwatz» im Enge-Quartier. Ab 1985 führte er eine eigene Praxis für Allgemeinmedizin in Altstetten; später gründete er eine Praxis beim Central. «Zahlreiche Süchtige kannten mich als ihren Arzt und beschützten mich in der Szene», sagt er. «Auf dem Platzspitz gab es praktisch keinen Mord und Totschlag; später aber, am Letten, waren viele Abhängige auf Kokain und paranoid. Die Gewalt, auch diejenige, die von der Polizei ausging, war allgegenwärtig.»

Kampf für Spritzenabgabe

Seidenberg trat in der damaligen Zeit als Kämpfer und Rebell auf, der sich öffentlich gegen Obrigkeiten auflehnte. Legendär ist sein Einsatz für die Abgabe von sauberen Spritzen, um die zunehmende Ausbreitung von HIV zu stoppen. Über Aids wusste man damals so wenig wie heute über Covid-19. Es war eine unheimliche Krankheit, die sich besonders unter Junkies rasant ausbreitete, weil sie sich gegenseitig ansteckten. Die Stigmatisierung war gross.

Der Stoff wurde mit blutig kontaminierten, mehrfach gebrauchten Spritzen aus einem gemeinsamen Löffel aufgezogen. (. . .) Wir wussten vieles noch nicht. Wer ist alles infiziert? Wie ansteckend ist die Krankheit? Wie viele werden sterben, wie schnell? Werden alle sterben? Wird die Menschheit an Aids zugrunde gehen? (. . .)

Christian La Roche und ich betreuten in unserer Altstetter Praxis in zehn Jahren rund zweihundert Patienten mit Aids bis in den Tod. Scham, Schuld, Depression und Angst prägten und behinderten das Leben unserer Patienten lange vor jeder sichtbaren Krankheit. Vor dem physischen Tod starben viele jahrelang einen sozialen Tod.

Seidenberg legte sich in den achtziger Jahren mit dem damaligen Zürcher Kantonsarzt an, der ihm mit dem Entzug der Praxisbewilligung drohte, wenn er sterile Spritzen und Nadeln an Süchtige abgäbe. Über 300 Ärztinnen und Ärzte zeigten sich solidarisch und weigerten sich ebenfalls, die Weisung des Kantonsarztes zu befolgen. Nach juristischen Streitereien zogen die Behörden das Spritzenabgabeverbot schliesslich zurück.

Eigene Drogenerfahrungen

Doch die Schauplätze des Buches beschränken sich nicht auf den Platzspitz und den Letten, wohin sich die Szene später verlagerte. Seidenbergs Buch liest sich sehr unterhaltsam. Es trägt auch autobiografische Züge und lässt dadurch erahnen, warum sich der Mediziner auf die Patientinnen und Patienten am Rand der Gesellschaft zu konzentrieren begann. «In gewissen Kreisen galt ich damals gewiss als Schmuddeldoktor», hält er fest.Der 69-jährige Arzt, der im Zürcher Niederdorf als Sohn eines jüdischen Buchhändlers aufwuchs, erzählt in seinem Buch unter anderem auch von seinen eigenen Drogenerfahrungen. Er habe fast alles ausprobiert, sagt er, von Cannabis über Kokain, LSD bis zu Amphetaminen und Heroin. Das habe ihm geholfen, Wirkungen nachzuvollziehen und die Patientinnen und Patienten besser zu verstehen.

Ich selbst fand Heroin eher unangenehm; das Gefühl, wohlig in süsser Melasse zu ertrinken, war grauenhaft und erschreckend. Nein, ich stand definitiv nicht auf Opioide und auch sonst nicht auf Downer. Ich wollte nicht schlafen, sondern wach sein. Ich wollte mich nicht beruhigen und kaltstellen, sondern mich erregen: «Lieber sich aufregen als sich nicht mehr regen.»

Ein spannendes Experiment

Während des Medizinstudiums schluckte Seidenberg in steigender Kadenz Amphetamine und wurde süchtig nach Speed. Ob der Konsum von Stimulanzien beim Lernen geholfen hat? Er weiss es nicht, beschreibt sich als «Getriebener», aber auch als «antreibender Mensch».

Im Studium wollte er sich zunächst der Hirnforschung zuwenden und schreckte nicht vor einem Selbstversuch mit Ketamin zurück, das damals noch nicht als Partydroge bekannt war. Im Buch schildert Seidenberg, wie er eines Abends mit entblösstem Oberkörper in einem Labor sass, mit 64 Elektroden auf dem Kopf und einer Infusion am Arm, um den neuropsychischen Effekt zu erforschen. Seine damalige Freundin, eine Pflegefachfrau, war für die Dosierung zuständig. Die Wirkung setzte nach wenigen Sekunden ein.

Ich konnte mich kaum noch bewegen. Das Schachbrettmuster vor meinen Augen wechselte hin und her. Der Trip war recht gespenstisch. Ich delirierte leicht und musste mich sehr konzentrieren, damit mir die komplizierten technischen Aspekte des Versuchs nicht entglitten.

In diesem Moment kam der Chefarzt der Anästhesie ins Monakow-Labor, um sich über den Verlauf des Versuchs zu orientieren. Er betrachtete die merkwürdige Szene und fragte mich: «Spinnen Sie jetzt, Herr Seidenberg?» Ich starrte auf den Monitor. Ich suchte die Antwort: Ja, nein, ja, nein? Das Schachbrettmuster schien sich hin- und herzubewegen. Was sollte ich sagen? Ja, nein, ja, nein. «Ja, Herr Professor! Ich glaube, ich spinne.»

Seidenberg beschreibt sich und seine Ideen mit einer guten Portion Selbstironie. In der Forschung oder der Trägheit einer anderen grossen Institution hätte er wohl nicht sein Glück gefunden, sagt er. Er sei viel zu «faustig», um die Spiele zu spielen, die man in einer straffen Hierarchie spielen müsse. Zu seiner offensichtlich rebellischen Ader sagt er, er sei schliesslich ein kleiner Mensch, und «kleine Menschen wollen nicht unterschätzt werden».

Meilensteine in der Drogenpolitik

Für ihn hat die Tatsache, dass er schliesslich nicht in der Hirnforschung gelandet ist, sondern Allgemeinmediziner wurde und sich den Menschen am Rande der Gesellschaft annahm, rückblickend eine gewisse Logik. «Als Jude kämpfe ich gegen Ausgrenzung, und die Medizin in diesem speziellen Feld, mit der Nähe zur Drogenszene, ist ein ‹Thrill›. Ausserdem ist das Gefühl, man könne etwas entscheidend verändern, ein mächtiger Antrieb.»

Entscheidende Veränderungen in der Schweizer Drogenpolitik gab es in den neunziger Jahren, nach der Auflösung der Letten-Szene. Seidenberg war Mitgründer der Arud, der Arbeitsgemeinschaft für einen risikoarmen Umgang mit Drogen. Er war massgeblich am Aufbau der Methadon- und Heroinabgabe in der Stadt Zürich beteiligt. Die Mehrheit der heutigen Abhängigen ist dank diesen Errungenschaften weniger verwahrlost und lebt deutlich gesünder.

Empfang mit dem Revolver

Von gesellschaftlichen Randerscheinungen und Grenzgängern war Seidenberg offenbar schon als junger Notfallarzt angezogen. Er erlebte zahlreiche brenzlige Situationen, nicht nur im Rauschgiftmilieu. Einmal wurde er von einem Mann in einer Wohnung mit Revolverschüssen begrüsst. Der Mann händigte ihm den Revolver wenig später aus, versuchte aber, dem Arzt weiterhin Angst einzujagen. So betonte er während des anschliessenden Gesprächs im Wohnzimmer, er sei früher Boxer gewesen.

«Also die Waffe nehme ich zur Sicherheit mit», meinte ich tapfer.

«Ja, machen Sie nur; die ist sowieso illegal.» Ich war aufgestanden und noch nicht um den Sofatisch, da zog er seine Hand unter dem Knie mit Leopardenfellkissen hervor, zeigte mit einer anderen Pistole auf mich und knurrte: «Ich habe noch mehr Waffen.» (. . .)

Der Mann stand breit im Licht in der Türe und winkte mir mit der zweiten Waffe nach, als ich, so schnell es meine schweren Koffer erlaubten, zum Lift hetzte. Er schaute mir nur nach, er schoss nicht in die Luft, und er rief auch nicht triumphierend: «Adieu, Doktorchen!»

Heute entsinnt sich André Seidenberg mit einem Schmunzeln, aber auch mit Dankbarkeit an diese Erfahrungen. «Ich bin zufrieden mit dem, was ich gemacht habe. Ich konnte einiges bewegen und bin im Gegensatz zu vielen früheren Freunden und Bekannten noch am Leben», fasst er seine allgemeine Gemütslage zusammen.

Die Platzspitz- und die Letten-Zeit waren absolut prägend für ihn, aber auch für seine Familie. Seidenberg ist verheiratet und hat drei Kinder. In der intensiven Phase der offenen Drogenszene arbeitete er fast bis zum Umfallen. Ein Vergessen gibt es für ihn nicht. «Die Erinnerungen an den Platzspitz kommen manchmal überfallartig.» Hin und wieder, fügt er an, sehe er auch Leute von damals, wenn er in der Stadt unterwegs sei. «Sie zu grüssen, kann heikel sein. Nicht alle wollen sich an diese Zeit erinnern.»

André Seidenberg: Das blutige Auge des Platzspitzhirschs. Verlag Elster & Salis. Erscheint am 21. September.

 

30. August 2020

Das, was die weltweite Bevölkerung momentan rund um die Covit-19-Pandemie durchmacht, ist schrecklich. Vor allem diejenigen Menschen, die angesteckt wurden und im Spital landeten und sogar qualvoll sterben mussten, hatten Fürchterliches zu erdulden. Aber auch all die Einschränkungen zum Eindämmen von Covit-19 haben weltweit viel Leid für viele verursacht.

Eine Begleiterscheinung dieser Pandemie hat auch wieder einmal gezeigt, dass sogenannte Verschwörungstheorien nicht ausgestorben sind. Wie im tiefen Mittelalter, so werden bei gewissen Kreisen wiederum zum Beispiel «die Juden» für die Entstehung und die Ausbreitung verantwortlich gemacht.

Aber nicht weniger gibt es auch viele «medizinische» Behauptungen, die die Corona-Pandemie mit einer hundsgemeinen Grippe gleichstellen wollen. Die folgende Aufstellung geht auf 13 gängige Behauptungen rund um die Corona-Pandemie ein:

Swisscom News 29.8.2020

Corona-Verharmloser, das ist für euch: 13 eurer Behauptungen im Faktencheck

Leo Helfenberger, Sarah Serafini vor 3 Std.

Am Samstag marschieren in Zürich die Corona-Rebellen auf. In der Hoffnung, einige von ihnen lesen watson, haben wir 13 falsche Aussagen rund um Covid-19 im Faktencheck demontiert.

«Corona ist nicht schlimmer als eine Grippe»

Es ist eines der beliebtesten Argumente von Covid-19-Verharmlosern: Sie sagen, das Coronavirus sei nicht gefährlicher als eine Grippe und die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie deswegen übertrieben. Doch diese Aussage ist falsch. Gemeinsam haben Sars-CoV-2 und die saisonalen Grippeviren, dass sie beide Atemwegserkrankungen auslösen und schnell von Person zu Person übertragbar sind. Abgesehen davon sind sie sehr verschieden.

Ein wichtiger Unterschied ist die Inkubationszeit. Sie liegt bei der Grippe bei 1 bis 2 Tagen und beim neuen Coronavirus meist bei 5 Tagen, sie kann aber bis zu 14 Tage dauern. Das heisst also, wer sich mit Sars-CoV-2 angesteckt hat, ist für eine lange Zeit ansteckend. Zudem ist die Ansteckungsrate höher. Nach aktuellen Erkenntnissen steckt eine mit dem neuen Coronavirus infizierte Person im Durchschnitt zwei bis zweieinhalb weitere Personen an. Das sind mehr als bei der Influenza. Schätzungen für Covid-19 und Influenzaviren sind jedoch sehr umgebungsabhängig und auch zeitspezifisch. Das erschwert direkte Vergleiche.

Bei Covid-19 gibt es mehr schwere Infektionsverläufe als bei einer Influenza-Infektion. Etwa 15 Prozent der Krankheitsverläufe sind laut Wissenschaft schwer, 5 Prozent der Fälle verlaufen kritisch und benötigen eine künstliche Beatmung. Für die Grippe sind laut WHO niedrigere Zahlen beobachtet worden. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den zwei Virentypen ist, dass es gegen Sars-CoV-2 keine Medikamente oder Impfungen gibt. Gegen die Influenza gibt es hingegen Schutzimpfungen und antivirale Medikamente.

Fazit: Falsch

«An der Grippe sterben mehr Menschen als an Corona»

Das Problem mit diesen Todeszahlen ist, dass sie unterschiedlich erhoben werden und deshalb nicht miteinander verglichen werden können. Nehmen wir das Jahr 2017. Damals war die Grippewelle eine der tödlichsten der vergangenen 30 Jahre. Ganz eindeutig von Ärzten als Grippetote klassifiziert wurden 284 Personen. Doch viele Menschen starben zu Hause oder in einem Heim und wurden gar nie auf Grippeviren getestet. Die Statistiker mussten für die Zählung der Grippetoten also eine Schätzung vornehmen, bei der sie sich an der Übersterblichkeit orientieren. Sie sahen, dass im langjährigen Durchschnitt in den Wintermonaten mehr Menschen als üblich gestorben sind. Diese Übersterblichkeit ordneten sie der Grippe zu und gingen von geschätzt 1000 Toten aus.

Bei der Zählung der Corona-Toten bemängeln Kritiker, dass nun Todesfälle von schwerkranken Patienten erfasst werden, die auch ohne Covid-19 an ihrem ursprünglichen Leiden gestorben wären. Das ist zum Teil tatsächlich so. In der Tat obliegt es der behandelnden Ärztin, die Todesursache zu deklarieren. Darum ist auch hier weniger die absolute Zahl der Toten aussagekräftig, sondern die Übersterblichkeit im Monats- und Jahresdurchschnitt. Diese bewegte sich ab März 2020 ausserhalb des normalen Rahmens und war gar noch höher als im Grippejahr 2017. Dass die Kurve danach wieder abflaute, ist den ergriffenen Corona-Massnahmen zu verdanken. Ansonsten kann man davon ausgehen, dass sie weiter gestiegen wäre.

Fazit: Falsch.

«Das Coronavirus wurde im Labor gezüchtet»

Ist das Coronavirus ein menschengemachtes Produkt aus dem Labor und absichtlich gezüchtet worden? Wissenschaftler halten das für nicht plausibel. Im März veröffentlichten Forscher um den schwedischen Mikrobiologie-Professor Kristian Andersen eine Analyse, in der sie der Frage nachgingen, ob das Virus künstlich hergestellt worden sein könnte. Ihre Antwort ist eindeutig: «Wir schliessen eine genetische Manipulation in einem Labor als möglichen Ursprung für Sars-CoV-2 aus», so das Fazit von Andersen.

Sein Team analysierte das Spike-Protein auf der Oberseite der Coronaviren, das für die Bindung an die Wirtszelle verantwortlich ist. Dabei sah man, dass die Aminosäuren von Sars-CoV-2 einen abweichenden Aufbau und eine andere Zusammensetzung haben als verwandte Coronaviren. Die Forscher sagten, dank dieser Merkmale könne das neue Virus besonders leicht menschliche Zellen befallen. Allerdings sei das Ganze nicht so optimal gestaltet, wie wenn man es künstlich in einem Labor präparieren würde. Ausserdem wäre bei der Labor-Theorie nicht nachvollziehbar, warum man Sars-CoV-2 aus einem bisher für Menschen harmlosen Virus hätte entwickeln sollen, anstatt aus einem gefährlicheren Corona-Verwandten wie Mers oder Sars.

Fazit: Falsch 

«Nicht alle Corona-Toten sind wirklich am Virus gestorben»

Tatsächlich ist es so, dass auch Personen als Covid-Tote gezählt werden, die nicht unbedingt an den Folgen von Covid-19 gestorben sind. So könnte beispielsweise jemand, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde und bei einem Autounfall stirbt, ebenfalls in die Statistik einfliessen. Aber: Die Anzahl jener, die eben nicht an den direkten Folgen der Lungenkrankheit sterben, ist kleiner als jene, die an Covid-19 sterben, aber nie getestet wurden. Dies zeigte kürzlich auch eine Studie aus Italien. 

Fazit: Richtig. 

«Die Fallzahlen steigen nur, weil jetzt mehr getestet wird»

Seit Juli steigt die Zahl der bekannten Neuinfektionen mit dem Coronavirus in der Schweiz wieder an. Kritiker behaupten, die täglichen Fallzahlen seien nur deshalb wieder höher, weil sich jetzt mehr Menschen testen liessen. Was stimmt, ist: Es wird tatsächlich mehr getestet. Die Kapazitäten werden stetig ausgebaut. Doch die Zahlen der durchgeführten Tests korrelieren nicht mit den Fallzahlen. So kommt es vor, dass an einem Tag die Testrate hoch ist, aber die Fallzahlen tief sind und an anderen Tagen die Testrate wieder gesunken ist, während die Fälle wieder hochgehen. 

Eine deutsche Untersuchung, die sich ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt hat, schreibt, die Zahl der Tests und jene der positiven Fälle könne kaum miteinander verglichen werden. Festgestellte Corona-Infektionen müssen verpflichtend übermittelt werden, während die Zahl der durchgeführten Tests eine freiwillige Angabe der Labore sei. Diese Zahl schwanke und es gebe Nachmeldungen. Es sei zwar nicht auszuschliessen, dass in einzelnen Wochen ein Anstieg der Fallzahlen auf die zusätzlich durchgeführten Tests zurückzuführen sei. Doch die Behauptung, die steigenden Fallzahlen seien von der erhöhten Testrate abhängig, sei falsch, so die Untersuchung. 

Fazit: Teilweise falsch.

«Corona-Infizierte ohne Symptome übertragen das Virus nicht»

Es stimmt, dass Personen mit asymptomatischem Verlauf das Virus viel weniger stark verbreiten als solche, die Symptome aufweisen. Der Grund dafür ist relativ einfach erklärt: Das Coronavirus verbreitet sich über Tröpfchen. Wer nicht hustet, ist damit eine kleinere Gefahr für die Mitmenschen. Trotzdem sind bereits Übertragungen des Virus von asymptomatischen Personen nachgewiesen worden. Hier gilt grundsätzlich, dass der Kontakt der beiden Personen viel enger sein muss. Da sich asymptomatische Patienten allerdings gesund fühlen und oft nicht wissen, dass sie ansteckend sind, kommt es auch häufiger zu engeren Kontakten als bei Patienten mit Symptomen. 

Fazit: Falsch. 

«Das Tragen von Masken ist gefährlich, weil viel mehr CO2 eingeatmet wird»

Immer wieder befürchten Leute, dass sie durch das Tragen einer Maske zu viel ihres eigenen CO2 einatmen und so zu wenig Sauerstoff aufnehmen. Gesundheitliche Schäden konnten bislang aber in keiner Studie nachgewiesen werden. Untersucht wurden dabei Gesundheitsangestellte, die solche Masken teilweise stundenlang während Operationen trugen – und das über Jahre. Der CO2-Gehalt müsste innerhalb der Maske von 0,04 auf über 10 Prozent steigen, damit die Person etwas davon merkt. Die ausgeatmete Luft kann bei Masken jedoch ohne Probleme an den Rändern entweichen.

 Fazit: Unbelegt. 

«Das Coronavirus wurde erfunden, um Massenimpfungen zu legitimieren»

Im Moment wird auf Hochtouren nach einer Corona-Impfung geforscht. Impfgegner auf der ganzen Welt haben nun Angst, dass eine Zwangsimpfung folgt. Dies ist unwahrscheinlich. Im Gegenteil, die Länder streiten sich im Moment eher darum, wer als erstes den Impfstoff erhält. Ausserdem gibt es in der Schweiz keine rechtliche Grundlage für eine Zwangsimpfung. 

Würde der Bundesrat tatsächlich ein Impfobligatorium erlassen, müssten Impfgegner also lediglich eine Busse bezahlen und würden nicht unter Zwang unter die Nadel kommen. 

Fazit: Falsch. 

«Die Suizidrate hat sich seit dem Lockdown mehr als verdoppelt»

Für die Schweiz kann bisher kein Anstieg der Suizidrate festgestellt werden. Verdoppelt hat sie sich garantiert nicht. Auch in den Nachbarländern Deutschland und Österreich wurde kein signifikanter Anstieg gemessen. 

Fazit: Falsch. 

«Die Corona-Massnahmen wurden erlassen, um die Demokratie in der Schweiz zu untergraben»

Die Corona-Massnahmen des Bundesrates waren bislang immer rechtlich abgestützt. Keine der Notverordnungen verstiess also gegen geltendes Recht. Weiter wurden die Massnahmen nach einer Abflachung der Kurve sogleich wieder heruntergefahren. Hätte der Bundesrat die Corona-Krise nutzen wollen, um seine eigene Macht zu mehren, müsste man diesen Plan als gescheitert ansehen. 

Fazit: Falsch. 

«Das 5G-Netz verbreitet das Coronavirus»

Das Coronavirus wird über eine Tröpfcheninfektion verbreitet. Das bedeutet, dass die Viren beim Niesen, Husten und Sprechen über winzige Speicheltropfen von einer Person zur anderen gelangen. Dies ist ausreichend belegt. Eine Verbreitung über das 5G-Netz ist deshalb nicht nachgewiesen. 

Fazit: Falsch. 

«Das Klima hat einen Einfluss auf die Coronavirus-Ansteckungen»

Dieser Punkt ist ungewiss. Es gab bislang verschiedene Untersuchungen dazu, die Ergebnisse deuteten aber immer wieder mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung. Das Problem ist dabei, dass die Corona-Fallzahlen auf der ganzen Welt unzuverlässig sind. Es ist je nach Land unterschiedlich, wie viele Ansteckungen gemeldet und wer überhaupt getestet wird. Das macht eine Auswertung ungemein schwierig, wie Wissenschaftler von der Universität Oxford erklären. 

Fazit: Unbelegt. 

«Haustiere können das Coronavirus übertragen»

Tatsächlich wurden bereits mehrere Katzen und Hunde positiv auf das Coronavirus getestet. Weiter wurde festgestellt, dass es durchaus vorkam, dass Katzen das Virus auf Artgenossen übertragen haben. Eine Ansteckung von einem Haustier auf einen Menschen wurde bislang noch keine nachgewiesen. 

Fazit: Unbelegt.

17. August 2020

Das Jahr 2020 wird wohl als das Jahr der Corona-Pandemie in die Geschichte eingehen. Vieles rund um die Covit-19-Erkrankung wissen wir noch nicht abschliessend. Man hört aber bereits zum heutigen Zeitpunkt, dass Überlebende, die die Covit-19- Erkrankung überlebt haben, vermutlich Langzeitschäden davontragen würden. Das macht Angst und Erinnerungen an die Schlafkrankheits-Pandemie vor rund 100 Jahren – man nannte sie auch die Spanische Grippe – kommen auf. Viele haben das Buch oder die Verfilmung von Oliver Sacks gelesen oder gesehen: «Awakenings».  Oliver Sacks, der weltberühmte Neurologe, behandelte bekanntlich ab 1969 Überlebende der damaligen Epidemie mit dem berühmten L-Dopa. Bekanntlich verfielen Menschen damals nach überstandener Erkrankung jahrzehntelang einer Parkinsoähnlichen «Erstarrung» und landeten in Pflegeheimen, wo sie jahrzehntelang ein trauriges Dasein fristen mussten. Oliver Sacks beobachtete diese Fälle als Neurologe und begann mit der Dopamin-Behandlung und konnte erreichen, dass diese armen Menschen sozusagen wieder aus ihrer Erstarrung «erwachten» und ein fast normales Leben wieder beginnen konnten. Ich empfehle jedermann, Olivers «Awakenings» zu lesen – wie auch seine anderen Bücher.

Ich habe mich soeben in Sacks «Awakings» vertieft und dabei immer wieder gefragt, ob eine ähnliche Erscheinung auch bei Covit-19-Patienten mittel- oder langfristig eintreten könnte. Entsprechende Vermutungen machen tatsächlich die Runde. Der nachstehende Artikel geht dieser Frage nach.

Hirnschäden und psychische Folgen – «Entwicklung ist besorgniserregend»

Jennifer Furer - 17.8.2020 - 06:50

Das Coronavirus könnte ungeahnte Langzeitfolgen auf unsere Psyche haben.

Getty Images /Swisscominfo

Welche Langzeitfolgen hat Corona auf uns? Dieser Frage gehen Wissenschaftlerinnen weltweit nach. Antworten sind derzeit nicht einfach zu finden. Das sagen Schweizer Psychologinnen und Psychiater dazu.

Das Coronavirus verändert unser Leben fundamental: die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, die Politik, unser Zusammenleben. Auch unsere Psyche reagiert auf die nie dagewesene Krise – und das nicht nur positiv.

Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen sagt: «Seit den Sommerferien erlebe ich in der Praxis ein Ansturm an Anfragen.» Das sei für diese Jahreszeit untypisch und bereite Adler Sorgen.

«Besonders, weil ich diese Patienten selbst nicht übernehmen kann, aber auch keine anderen Behandler angeben kann, die freie Kapazitäten haben», so Adler. «Hier haben wir ein grosses Versorgungsproblem.»

Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen sagt, dass die Coronakrise manche psychischen Erkrankungen verschlimmert. Man verzeichnet eine Zunahme an Depressionen, Alkoholerkrankungen, Verhaltenssüchte wie Gamen bei Kindern und Jugendlichen, sowie Probleme mit gewaltsamen Verhalten.

Unklar ist, ob sich dieses Versorgungsproblem lösen lässt, welche Langzeitfolgen dies mit sich bringt und – ohnehin – was das Coronavirus langfristig mit unserer Psyche macht.

Eine Frage, die im Moment nicht einfach zu beantworten ist. «Da dieses Problem noch relativ jung ist, befindet sich dieser Zweig der Wissenschaft noch in einem frühen Stadium, welches man als deskriptiv bezeichnen könnte», sagt Thomas Knecht, Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserhoden.

Folgen fürs Gehirn?

Das heisst: Man befinde sich immer noch in der Phase des Sammelns, des Beschreibens und der Einzelfallanalyse. «Währendem der aktuelle Erkenntnisstand noch keine übergreifenden und unumstösslichen Gesetzmässigkeiten zum Vorschein gebracht hat», sagt Knecht.

Dennoch: Bereits jetzt zeichnen sich Fragestellungen und Hypothesen ab, inwiefern das Coronavirus Einfluss auf unsere psychische Verfassung hat. Den Psychiater interessieren derzeit zwei Fragen, sagt Knecht.

Zum einen geht es darum, zu erforschen, ob das Virus direkten Schaden im Gehirn anrichten kann, wie es bei der Spanischen Grippe der Fall war – sei es auf das erwachsene Gehirn oder auf das sich entwickelnde Gehirn des Fetus im Mutterleib.

Dass das Coronavirus eine Hirnschädigung auslösen kann, liegt nicht fern. «Mögliche Schädigungsmechanismen sind einerseits die Gefässentzündungen, welche prinzipiell überall im Körper stattfinden können», sagt Knecht.

Dann aber auch der Sauerstoffmangel, welcher bei schwerer Betroffenheit der Lunge auftreten kann. «Hier wird man also den Langzeitverlauf sowohl der erkrankten Erwachsenen als auch der infizierten Neugeborenen ganz exakt beobachten müssen.»

Thomas Knecht, Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserhoden, sagt, dass die Erstickungsangst eine der elementarsten Angstformen des Menschen ist, sodass eine solche Erfahrung in einem Masse überwältigend sein kann und dementsprechend posttraumatische Symptome hervorbringt.

Auf der anderen Seite stehen die psychischen Folgen der Krise im Fokus, welche das Coronavirus auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene ausgelöst hat. Die neuen Umstände führen laut Knecht zu einem Lebensstil, der nicht in allen Teilen menschengerecht ist und somit zu Anpassungsstörungen führen kann.

Solche könnten sich als Depression, Angststörung, Hypochondrie oder auch als Zwangsstörung mit krankhaftem Vermeidungsverhalten (Ansteckungsangst) äussern. Vereinzelt werde auch über eine Erhöhung von Psychosen und Essstörungen berichtet.

«Junge sind davon offenbar noch stärker betroffen als die Älteren mit ihrer Lebenserfahrung», stellt der Leitende Arzt Knecht fest. Betroffen seien nicht nur Menschen, die in dieser Hinsicht bereits auffällig waren.

Mehr parkinsonartige Krankheitsbilder durch Corona?

Dass das Coronavirus neue psychische Erkrankungen hervorruft, denkt Knecht nicht. Grund: Der Störreiz, also das Virus, sei nicht Ursache für psychische Reaktionen, sondern die eigene Persönlichkeit. Es könne aber sein, dass sich durch das Coronavirus und seine Auswirkungen ein Krankheitsbild neuartig zeigt.

Anders ist dies aber, sollten im Langzeitverlauf organische Störungsbilder auftreten, also Störungen, die auf eine organische Ursache, wie eben beispielsweise die Beschädigung des Hirns. «Bei der Spanischen Grippe zeigten sich viele schwere Zwangsstörungen und parkinsonartige Krankheitsbilder», sagt Knecht.

Mensch ist sich gewöhnt, mit Tod umzugehen

Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie St. Gallen Nord, warnt davor, vorschnell zu denken, dass alle Arten von Belastungen sofort zu psychischen Krankheiten führen. Auch er bezweifelt, dass durch das Coronavirus neue psychische Erkrankungen entstehen werden.

Die Menschen seien «im Verlauf der Evolution» schon mit vielen Belastungen und Krisen konfrontiert worden, sodass sich alle psychischen Krankheiten, die der Mensch potenziell entwickeln kann, schon früher ausgebildet haben.

«Die Menschen sind ja seit eh und je daran gewöhnt, mit Unsicherheit und Bedrohungen durch Krankheiten inklusiv dem Tod umzugehen», so Maier. Die wenigsten Menschen würden deshalb krank. Man müsse sich zudem bewusst sein, dass objektiv gesehen – trotz Coronakrise – das Leben für die meisten Menschen noch nie so sicher und angenehm war wie heute.

 

Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie St. Gallen Nord, sagt, dass das Coronavirus eine unspezifische Belastung ist, wie es noch viele andere gibt. Nicht alle diese Belastungen würden sofort zu psychischen Krankheiten führen.

Es gebe zwar Menschen, die in der Krise mit Symptomverstärkung reagieren. «Einige chronisch psychisch Kranke sind hingegen in der jetzigen Zeit eher weniger belastet, weil die Bedrohung alle trifft und sie sich nicht mehr als einzige fühlen, die irgendwie leiden», sagt Maier.

Der Chefarzt sagt aber, wie zuvor sein Kollege Knecht, dass sich alle psychischen Krankheiten unterschiedlich zeigen können – das sei zeitgebunden und epochenspezifisch. «So werden Patienten mit Angststörungen oft aktuelle Themen wie zum Beispiel Umweltverschmutzung, politische Unsicherheit oder eben jetzt Corona in ihre inhaltlichen Befürchtungen aufnehmen.»

Dass ein Virus eine besondere Belastung insbesondere fürs Gesundheitspersonal darstellt, sei jetzt schon in ersten Untersuchungen festgestellt worden. «Diese haben seit der Coronakrise durchschnittlich höhere Werte für Angst und Depressivität angegeben», sagt Maier.

Fest steht auch, dass sich je nach Schweregrad des Coronakrankheitsverlaufs unterschiedliche psychische Folgen ergeben können. Besonders stark betroffen können Menschen sein, die einschneidende Erlebnisse durch das Virus machen mussten – etwa Todesangst, Ohnmachtsgefühl und starke Atemnot. Dies kann eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, auslösen.

«Es gehört zu den möglichen Nebenwirkungen der modernen Hightech-Medizin, dass Menschen zwar schwere medizinische Erkrankungen überleben, danach aber an einer PTBS leiden», sagt Maier. Dies sei allerdings nicht neu oder spezifisch bei Corona, sondern war schon vorher ein Problem der modernen Intensivmedizin. «Was bei Corona einfach im Vordergrund steht, ist diese Lungenentzündung mit ausgeprägter Atemnot und das ist subjektiv ein sehr beklemmendes Gefühl.» Jennifer Furer - 24.3.2020 - 09:47

Das Coronavirus macht die Menschen einsam. Es zwingt zur Isolation. Das soziale Leben steht still.

Thomas Steiner, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP sagt, dass alle Altersgruppen auf unterschiedlichste Art davon betroffen sind. 

«Bei den jungen Leuten sind soziale Kontakte identitätsbildend», sagt Steiner. Ihnen würde jetzt etwas fehlen.  

«Sie können nicht in den Ausgang, Veranstaltungen werden abgesagt, Kontakte in der Ausbildung sind aufs Minimum reduziert und Reisen ist kaum mehr möglich», so Steiner. 

Auch für jene Menschen, die sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren und nun im Home Office arbeiten müssen, merken, wie einsam dies sein kann und wie sehr der Alltag durch Routinen und Alltagsroutinen gefüllt ist.

«Es wird einem bewusst, dass Menschen oft auf Autopilot gestellt sind: Aufstehen, duschen, arbeiten, Essen», sagt Steiner. Wenn die Routinen wegfallen, kann es psychisch herausfordernd werden. 

«Wir begegnen uns dann selber. Alltägliche Ablenkungen halten uns nicht mehr von unserem Selbst und der Reflektion über dieses fern», sagt Steiner.

Von der Einsamkeit zu Zeiten des Coronavirus betroffen seien besonders auch Pensionierte. «Sie haben sich Sachen vorgenommen, die sie nach ihrem Arbeitsleben endlich tun können. Der Virus bremst sie jetzt aber», sagt Steiner.

Auch Menschen in Alters- und Pflegeheimen würden leiden. «Der Entzug von Reizen - wie etwa ein Besuch - und Zuwendungen fehlt.»

 

«Sie können nicht in den Ausgang, Veranstaltungen werden abgesagt, Kontakte in der Ausbildung sind aufs Minimum reduziert und Reisen ist kaum mehr möglich», so Steiner. Bild: Keystone

Auch für jene Menschen, die sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren und nun im Home Office arbeiten müssen, merken, wie einsam dies sein kann und wie sehr der Alltag durch Routinen und Alltagsroutinen gefüllt ist. Bild: Keystone

«Es wird einem bewusst, dass Menschen oft auf Autopilot gestellt sind: Aufstehen, duschen, arbeiten, Essen», sagt Steiner. Wenn die Routinen wegfallen, kann es psychisch herausfordernd werden.

«Wir begegnen uns dann selber. Alltägliche Ablenkungen halten uns nicht mehr von unserem Selbst und der Reflektion über dieses fern», sagt Steiner. Bild: Keystone

Von der Einsamkeit zu Zeiten des Coronavirus betroffen seien besonders auch Pensionierte. «Sie haben sich Sachen vorgenommen, die sie nach ihrem Arbeitsleben endlich tun können. Der Virus bremst sie jetzt aber», sagt Steiner.

Das Coronavirus und die damit verbundene soziale Isolation können psychisch Erkrankte an ihre Grenzen bringen. Zehn Betroffene erzählen, wieso man sie jetzt nicht vergessen sollte.

 

Ines (23) leidet an schweren Depressionen, Borderline, Bulimie, dissoziativen Störungen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.

«Ich lebe in einer teilstationären Wohngruppe und gehe normalerweise jeden Tag in eine Tagesstätte. Um 8 Uhr morgens werde ich abgeholt, um 16 Uhr wieder nach Hause gebracht. Wir kochen und essen zusammen, gehen einkaufen, spielen Gesellschaftsspiele oder basteln. Seit einigen Tagen fällt die Tagesstätte aus. Ich habe dadurch meinen Tagesrhythmus komplett verloren. Ich merke, dass sich Depressionen breit machen und meine Essstörung vermehrt auftritt. Während des Tages liege ich viel auf meinem Bett und tippe auf dem Handy herum. Seit einem Suizidversuch, nach dem ich neun Wochen im Koma lag, sitze ich im Rollstuhl.

Ich habe jetzt vermehrt Zeit, nachzudenken und habe oft schlechte Gedanken. Auch das Thema Selbstverletzung ist wieder präsent. Ich merke, dass mir die Ablenkung fehlt, die ich in der Tagesstätte habe. Ich habe Angst vor der kommenden Zeit und dass ich wieder in eine akute Krise komme.

Eigentlich hätte ich Anfang April eine Traumatherapie beginnen können. Diese wurde wegen der aktuellen Situation verschoben. Ich habe Angst, dass ich wieder in eine Klinik muss, weil sich mein Zustand verschlechtert. Denn dann müsste ich vielleicht meinen Therapieplatz abgeben, weil ich als Akutpatientin nicht aufgenommen würde. Der Druck ist momentan sehr hoch.

Ich möchte den Menschen gerne sagen, dass sie sich an die Regeln halten sollen. Denn je besser wir das machen, umso schneller geht die Krise vorbei.»

Stefi (32) leidet an Borderline und ADHS.

«Ich fühle mich beengt und verloren. Mir fehlt die Struktur, die ich vor dem Ausbruch der Coronakrise hatte. Diese war durch mein 100-Prozent-Beschäftigungsprogramm in einem Holzbetrieb gegeben. Die Struktur ist meine Leitplanke, ohne diese wird es schwierig.

Im Moment taste ich mich an die Situation heran. Es ist ein Kampf. Ich probiere morgens den Wecker zu stellen und mir ein Tagesprogramm zurechtzulegen, sodass ich nicht einfach in den Tag hineinlebe. Es fällt mir aber schwierig, mich zu beschäftigen. Besonders, wenn es um meine Selbstfürsorge geht. Bei mir dreht sich vieles um Leistung und alles, was ich mache, muss wertvoll sein. Es fällt mir schwer, etwa ein Buch zu lesen, das nur meiner Entspannung dient.

Ich habe Bezugspersonen, mit denen ich in Kontakt stehe und auch meinen Psychologen kann ich telefonisch erreichen. Die Sprechstunde hat dadurch aber niemals dieselbe Qualität, wie wenn sie persönlich geschieht.

Mir bereitet momentan grosse Sorgen, dass sich die Corona-Krise länger hinziehen könnte. Es ist nicht abschätzbar, wann sie endet. Je mehr ich in Isolation lebe, desto schlimmer wird mein Zustand. Es ist beängstigend und ich fühle mich alleine.

Mir helfen aber Gespräche mit anderen Betroffenen. Meine Mutter beschäftigt sich schon sehr lange mit meiner Krankheit. Aber sie wird mich niemals so verstehen können, wie es Leute tun, die in derselben Situation sind wie ich.»

 

Nicky (33) leidet an einer Persönlichkeits- und Angststörung und posttraumatischen Belastungsstörung sowie an Depressionen. 

«Ich fühle mich sehr einsam, obwohl ich nicht alleine wohne. Dass ich nicht mehr herausgehen darf, zerrt an mir. Normalerweise arbeite ich als Alltagsbetreuerin. Aufgrund häuslicher Quarantäne bin ich aber momentan krankgeschrieben.

Es ist eine grosse Herausforderung momentan, den Tag zu bewältigen, ohne dass ich in ein Loch falle. Am Anfang fand ich die Situation noch nicht so schlimm, aber inzwischen macht es mir Angst. Ich merke meine Depression und meine Verlustangst sehr stark. Ich versuche momentan zu überleben und irgendwie mit der jetzigen Situation klarzukommen.

Ich versuche mich – so gut es geht – mit Putzen, Filme schauen und Zeichnen abzulenken. Am Abend, wenn ich zur Ruhe komme, ist es allerdings extrem schwierig, weil ich mir meiner Traurigkeit und Ängste wieder umso bewusster werde.

Am liebsten würde ich jetzt meine Freunde und meine Grossmutter besuchen. Ich habe aber Kontakt mit ihnen per Telefon – das ist besser als gar nichts.»

Dominique (37) leidet an einer chronifizierten somatoformen Funktionsstörung. Diese äussert sich in Stuhlinkontinenz und Inkontinenz sowie starken Unterleibsschmerzen. Zudem wurden bei Dominique eine chronifizierte ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung, Panikattacken und rezidivierende (immer wiederkehrende) Depressionen diagnostiziert.

«Die jetzige Lage bedeutet für mich ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits herrscht Angst vor einer Ansteckung. Dass meine Mutter momentan in der Krebstherapie und somit eine Hochrisikopatientin ist, macht es für mich nicht einfacher. Meine Frau arbeitet zudem in einer Migros-Filiale. Momentan habe ich nicht wirklich viel von ihr, da sie permanent am Anschlag läuft.

Ich bin Hausmann und kümmere mich so gut es geht um den Haushalt, um die Wäsche und um unsere Tiere. Zusätzlich lese ich viel und versuche mich weiterzubilden. Den Rest der Zeit verbringe ich mit meinen Hobbys wie 3D-Druck, Basteln und ab und zu einem Computerspiel. Zudem fahre ich meine Mutter zu den Bestrahlungen und Chemotherapien, gehe für sie und auch für meine älteren Nachbarn einkaufen und unterstütze sie bei Online-Erledigungen.

Das Coronavirus bereitet mir grosse Sorge, da meine Frau sich täglich durch ihre Arbeit im Detailhandel anstecken könnte. Ich habe Angst um meine Mutter, die durch eine Ansteckung sterben könnte.

Die Situation mit der Isolation nehme ich nicht als grössere Belastung wahr als sonst auch. Als psychisch Erkrankter bekommst du das täglich zu spüren. Kollegen wenden sich ab, und Familienmitglieder können mit der Situation nicht umgehen.»

 

Claudia leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen.

«Ich bin momentan stationär in einer psychiatrischen Klinik und fühle mich isoliert, alleine, nicht dazugehörend. Bevor ich krankgeschrieben wurde, war ich Integrationshelferin in einer Grundschule.

Durch das Coronavirus haben sich meine Ängste verstärkt. Ich habe grosse Verlustängste und mache mir Sorgen, meine Familie zu verlieren. Ich bin permanent angespannt, habe Heulanfälle und Nervenzusammenbrüche.

Ich versuche mich abzulenken, durch Fernsehen, Handy oder Spaziergänge mit anderen Patienten. Vier Stunden in der Woche habe ich Therapie bei einer Psychologin. Vor und nach der Stunde ist Desinfizieren angesagt.

Damit das Coronavirus nicht in der Klinik grassiert, dürfen keine Besucher ins Haus. Der Kontakt zwischen Patienten wird aufs Minimum reduziert. In die Aufzüge dürfen nur noch drei statt zwölf Leute. Das Mittagessen wird in einen Behälter abgefüllt, es gibt keine offenen Esswaren.

Ich würde mir wünschen, dass die Massnahmen nicht so strikt wären und dass beispielsweise kontrollierte Spaziergänge für uns organisiert würden, auf denen die Abstände eingehalten werden. In der Klinik herrscht momentan zu fest das Klima, dass wir Angst haben müssen.»

Sonja (31) leidet an einer Multiplen Persönlichkeitsstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung.

«Eine meiner ersten Ängste war, dass ich Probleme bekomme, wenn ich während einer Ausgangssperre eine dissoziativen Fugue (Anm. d. Red.: plötzliches, unerwartetes und zielloses Weglaufen einer Person ohne objektiv feststellbaren Grund) bekomme. Ich habe das mit meiner Hausärztin und der Spitex besprochen. Im Notfall könnte ich deren Nummer angeben.

Sorgen bereitet hat mir auch mein geplanter stationärer Aufenthalt in einer Klinik. Ich hatte Angst, dass dieser wegen des Coronavirus nicht klappt. Die leitende Ärztin hat mir aber gesagt, dass sie überzeugt ist, dass alles klappt.

Mein Alltag hat sich durch das Ausbreiten des Coronavirus fast nicht verändert. Allerdings habe ich noch weniger Sozialkontakte, und meine Hausärztin fällt erstmal als ‹Anlaufstelle› weg. Meine Therapie und Spitex laufen aber glücklicherweise wie gewohnt weiter.

Ich hoffe, dass psychisch Erkrankte während der Coronakrise nicht noch mehr in den Hintergrund geschoben werden als eh schon. Man sollte diese jetzt besonders ernst nehmen, auch die Ängste und Sorgen, die für andere vielleicht als ‹banal› gelten. Eine psychische Erkrankung kann tödlich sein.»

Julia leidet an Depressionen, Borderline, Panik- und Angstattacken, einer bipolaren Störung und einer Autoimmunerkrankung.

«Ich habe Angst. Angst vor dem, was passiert, Angst davor, wie es weiter geht, Angst, meine Familie zu verlieren und Angst, am Coronavirus zu erkranken. Die Ungewissheit lähmt mich und wirkt sich stark auf meine Gesundheit aus.

Ich habe momentan starke Stimmungsschwankungen, Herzrasen, Beklemmungsgefühle und fange wegen jeder Kleinigkeit an zu weinen. Meine Panikattacken werden häufiger und schlimmer. Ich hatte sie die letzten Jahre gut im Griff. Seit dem Virus werden sie leider stärker.

Ich bin momentan bei meiner Mutter, vermisse meinen Mann dadurch sehr. Das ist auch der Grund, warum ich derzeit nicht in eine Klinik möchte: Dort hätte ich noch mehr das Gefühl, von meiner Familie abgeschottet zu sein.

Ich warte seit zwei Jahren auf einen Therapieplatz. In Zeiten des Coronavirus würde ich mir wünschen, dass Psychologen Telefon- und Sprechstunden online anbieten – egal ob man ein aktueller Patient ist oder nicht.»

Saskia (29) leidet an starken Depressionen, einer posttraumatischen Belastungsstörung und Borderline.

«Wie ich mich derzeit fühle, kann ich nicht richtig sagen. Das Durcheinander ist sehr kompliziert für mich. Meine psychischen Zustände überlasten mich, teilweise so stark, dass ich alles blockiere ausser meinen Kindern. Ich mache zu Hause das, was ich noch schaffe: kochen, putzen und meine Kinder belustigen.

Ich würde derzeit gerne in meine Gruppentherapie gehen. Das kommt leider nicht infrage. Vom Krankheitsbild her würde ich auch sehr gerne einen Klinikaufenthalt machen. Durch das Virus ist dies momentan nicht so einfach. Die Hilfe, die man sonst bekommt, kann so gar nicht angeboten werden – eben beispielsweise Gruppentherapien. Ich würde mich derzeit auch nicht freiwillig in Situationen begeben, wo ich mich anstecken könnte.

Mich würde es beruhigen, wenn die Leute das Virus ernster nehmen würden und einfach mal ihren Egoismus hintenan stellen würden.»

Mona leidet an einer Essstörung und rezidivierenden Depressionen.

«Grundsätzlich fühle ich mich gut, aber auch allmählich genervt – es gibt kein anderes Thema mehr als das Coronavirus. Mein Zustand hat sich nicht verschlechtert. Ich bin durch meine Arbeit als Erzieherin und in einem Supermarkt stark ausgelastet.

Zum Glück ist mein Alltag ebenfalls nicht gross von den Massnahmen tangiert. Ich mache das, was ich sonst auch immer tue. Etwas Positives habe ich aus der Situation ziehen können: Durch das viele Händewaschen musste ich mir Handcreme besorgen. Nun habe ich das als kleines Ritual zum Entspannen entdeckt.»

Nancy (30) leidet an Borderline und Panikattacken.

«Bis jetzt fühle ich mich noch ziemlich gut, auch wenn ich merke, dass sich eine innere Unruhe breit macht. Ich stehe morgens wie gewohnt auf und mache mich dann fertig, um einen ‹normalen› Arbeitstag im Homeoffice zu beginnen.

Auch wenn ich weiss, dass die jetzige Situation wieder vorbeigeht, beschäftigt mich vor allem die Angst, wie es in den nächsten Tagen weiter geht, da meine psychischen Probleme meistens dann stärker werden, wenn mein Alltag nicht mehr geregelt ist oder ich mich nicht mit anderen Menschen treffen kann, um mich abzulenken.

Noch hat sich mein Zustand nicht extrem verschlechtert, aber die Panikattacken sind schon deutlicher zu spüren, als wenn es mir gut geht. Das Schwierigste für mich ist es, nonstop alleine in der Wohnung zu sein, ohne andere Menschen Face-to-Face zu sehen. Mir hilft es, mit Freunden zu schreiben und telefonieren.

Ich appelliere an die Menschen: Meldet euch besonders jetzt einfach mal bei den Menschen, die ihr kennt und von denen ihr wisst, dass sie mit psychischen Erkrankungen kämpfen. Zu hören ‹ich bin für dich da› ist oft schon eine grosse Hilfe.»

 Erster Juli 2020 – Corona-Pandemie

Der Schweizer Lockdown wurde von unserem Bundesrat Berset praktisch aufgehoben, die Ansammlung von 300 Personen wurde auf 1000 erhöht. Eine Maskenpflicht gibt es hier in der Schweiz nach wie vor nicht. Im Gegenteil: nachdem BAG-Koch (er wurde als Corona-Superstar gehandelt) und auch BR Berset sich mehrmals über das Maskentragen lächerlich gemacht haben und die Wirkung der Gesichtsmasken herunterspielten, steigen seit einiger Zeit die Neuinfektionen: noch vor 2 Wochen lagen die täglichen Neuinfektionen unter 10. Heute sind sie über 60! Das Clublegen schweizweit wird wieder ausgelebt. Die klare Pflicht der Clubbetreiber, die Gäste namentlich und mit Telefonnummer aufzunehmen, wurde in einigen Clubs schwerwiegend missachtet. Und siehe da: ein Club nach dem anderen muss von Ansteckungen, «Superspreadern»,  berichten, von jungen Partygängern, die sich um alle Regeln foutieren und nur ihr eigenes, egoistisches Vergnügen ausleben wollen. Massenhaft wurden offenbar Fakte-Adressen angegeben. Beim Tracing nach Ansteckungen in diesen Clubs wurden die offiziellen Tracer von diesen Partylöwen noch demütigend verspottet.

Aber ein Clubverbot nach diesen schwerwiegenden Aussetzern gibt es noch nicht. BR Berset spielt weiterhin den Helden und delegiert solche Verbote an die kantonalen Instanzen.

Und die Ansteckungsquoten steigen weiter, eine zweite Corona-Ansteckungs-Welle scheint nicht mehr fern zu sein. Das Partyvolk wird weiter auf einer egoistischen Schiene „feiern“, und gewisse  alte, uneinsichtige Menschen aus der Risikogruppe werden weiterhin (wie bis anhin) alle Verordnungen in den Wind blasen. Ich beobachte solche „Risiko-Alte“ schon seit Beginn dieser Corona-Pandemie-Zeit.

Corona-Fall auch im Zürcher Club Plaza – SDA auf Bluewin  - 1.7.2020 - 09:41

Auch im Plaza Club feierte ein Gast, der mit dem Coronavirus infiziert war. Im Bild der Eingang des Clubs.

Nach den Ansteckungen im Zürcher Club Flamingo hat am Mittwoch auch der Club Plaza einen infizierten Gast gemeldet.

Die Betreiber des Plaza schreiben am Mittwoch auf ihrem Facebook-Profil, dass ein infizierter Gast am 26. Juni bei ihnen gewesen sei. Über weitere Ansteckungen im Club ist bisher aber nichts bekannt.

Sie hätten umgehend mit dem kantonsärztlichen Dienst Kontakt aufgenommen und die Anwesenheitslisten eingereicht, schreiben die Betreiber weiter. Alle Gäste wurden inzwischen vom Kanton kontaktiert, eine Quarantäne wurde nicht verfügt.

Weniger Glück hatten die Gäste des Zürcher Clubs Flamingo. Am Wochenende wurde bekannt, dass ein «Superspreader» dort am 21. Juni fünf Personen angesteckt hatte. Die Arbeit der Contact-Tracer wurde aber erschwert, weil viele Besucher falsche Adressen angaben. Viele Partygänger beschimpften zudem die Anrufer des Kantons.

Auch im Aargau und im Kanton Graubünden

Um die Infektionskette zu unterbrechen, ordnete der kantonsärztliche Dienst für die knapp 300 Gäste und Angestellten des Clubs eine zehntägige Quarantäne an. Die Clubs zu schliessen, lehnte Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) damals aber noch ab.

Auch im Aargau und im Kanton Graubünden gab es bereits «Superspreader»-Events. «Superspreader» sind erkrankte Personen, die aus unbekannten Gründen sehr ansteckend sind.

Chinesische Forscher warnen vor neuem Schweinegrippe-Virus

© Bereitgestellt von Keystone-SDA (via Bluewin)

Wissenschaftler haben in China eine Variante des Schweinegrippe-Virus identifiziert, die das Potenzial für eine Pandemie unter Menschen entwickeln könnte. Das berichtet das Team um George Gao vom Chinesischen Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten.

Die Variante des Influenza-Virus H1N1, das ab 2009 als sogenannte Schweinegrippe zirkulierte, komme vor allem in Schweinen vor, könne aber auch Menschen infizieren, schreibt das Team im US-Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences".

Die Virusvariante G4 EA H1N1 zeige alle Anzeichen als möglicher Auslöser einer Pandemie, mahnen die Wissenschaftler. Untersuchungen in Schweinebetrieben verschiedener chinesischer Provinzen hatten ergeben, dass diese Variante seit 2016 unter den Tieren vorherrscht. Zudem hatte etwa jeder zehnte von 338 untersuchten Beschäftigen in der Schweinehaltung im Blut Antikörper gegen den Erreger. Menschen könnten also grundsätzlich infiziert werden, folgert das Team.

Die Forscher haben die Sorge, dass sich das Virus besser an den Menschen anpassen und sich dann vermehrt ausbreiten könnte. Zudem biete eine Immunität gegen anderen Grippe-Erreger keinen Schutz gegen diesen Genotypen. Die Wissenschaftler empfehlen daher dringend, seine Verbreitung bei Schweinen und Menschen engmaschig zu kontrollieren.

Schweine gelten als wichtige Überträger von Influenza-Viren, weil sie sich mit Influenza-Viren sowohl von Vögeln als auch von Menschen anstecken können. Das als H1N1 bekannte Schweinegrippe-Virus hatte im Jahr 2009 Ängste vor einer globalen Pandemie ausgelöst, wurde aber schnell unter Kontrolle gebracht.

"Wir sind derzeit zu Recht mit dem Coronavirus abgelenkt", sagte der an der Studie beteiligte Veterinärmediziner Kin-Chow Chang von der Universität Nottingham am Dienstag der BBC. "Aber wir dürfen neue potenziell gefährliche Viren nicht aus den Augen verlieren".

 

Adrian Müller vor 2 Std. - © watson/ourworldindata Teaserbild - © keystone

«Bin überrascht, dass es so schnell gegangen ist»: Das sagt Berset zu den steigenden Fallzahlen nach den Corona-Lockerungen.

Mit den Turbo-Lockerungen hat sich der Bundesrat weit aus dem Fenster gelehnt. Ein Vergleich der Uni Oxford zeigt, dass die Schweiz inzwischen alle europäischen Länder hinter sich gelassen hat. Mit einer Ausnahme.

Die Schweiz hat punkto Corona-Lockerungen alle europäischen Länder abgehängt – ausser Weissrussland.

Dies zeigt ein Langzeit-Vergleich der Universität Oxford eindrücklich auf. Forscher haben anhand von neun Indikatoren einen «Government Response Stringency»-Index berechnet, mit dem sich Länder einfach vergleichen lassen. Auf einer Skala von 0 (extrem lasch) bis 100 (extrem streng) kommt die Schweiz nach den jüngsten Lockerungen (Discos offen/Veranstaltungen bis 1000 Personen erlaubt/Homeoffice ade) auf bloss noch 30 Punkte.

Damit hat die Eidgenossenschaft fast alle anderen europäischen Länder hinter sich gelassen: Die viel gescholtenen Schweden kommen auf 46 Punkte. Frankreich ist mit 65 Punkten fast doppelt so «streng» wie die Schweiz.

Zur Erklärung: In Frankreich gilt eine Maskenpflicht im ÖV. Zudem muss dort im Gegensatz zur Schweiz nach wie vor wann immer möglich im Homeoffice gearbeitet werden. In bestimmten Zonen dürfen Restaurants Gäste nur draussen bewirten.

Nur Weissrussland liegt mit 14 Punkten punkto Lockerungen noch vor der Schweiz. Dort ignoriert der autokratische Präsident Lukaschenko das Coronavirus weitgehend. Die Bevölkerung solle sich mit Saunagängen, Wodkatrinken oder landwirtschaftlicher Arbeit vor Covid-19 schützen, sagte der letzte Diktator Europas Anfang Juni.

Der Index setzt sich aus verschiedenen Indikatoren wie der Art des Contact-Tracings, dem Corona-Testregime bis zu Faktoren wie Veranstaltungsverboten oder Schulschliessungen zusammen.

(amü)

 

26. Juni 2020

Rassismus und Diskriminierung

Nach dem grausamen Mord eines US Polizisten an einem Schwarzen (der gefilmt wurde) ging ein Aufschrei durch die ganze Welt. Die Diskriminierung von Menschen v.a.  mit schwarzer Hautfarbe wurde an unzähligen Demonstrationen ins gleissende Licht der Öffentlichkeit gebracht. Tatsache ist, dass in den USA die schwarze Bevölkerung nach wie vor ganz schlimm  „diskriminiert“ wird, auf allen Ebenen, und dass weisse Polizisten immer wieder vorsätzlich und grausam schwarze Menschen umbringen! Aber vergessen darf dabei nicht, dass es überall, auch bei uns in der recht friedlichen Schweiz, zu Übergriffen aller Art gegen Menschen mit anderem Aussehen, mit anderen Ansichten usw. kommt. Rassismus in allen „Farben“ ist ein Teil jeder Gesellschaft, der Stärkere unterjocht, diskriminiert, drangsaliert, beleidigt und verletzt den Schwächeren. Ich denke, dass bei dieser aktuellen Diskussion, die wichtig ist, auch die „kleinen Übergriffe“, generell jede Art von „Rassismus“ und menschliche Diskriminierung, auf den Tisch gehört. Der folgende Leitartikel der BAZ von Marcel Rohr geht in diese Richtung und es gäbe Sinn, ihn zu diskutieren!

BAZ vom 26. Juni 2020 –

Meinung - Marcel Rohr - Leitartikel zu Hass und Hetze

Die Respektlosigkeit sprengt alle Grenzen

Die moralischen Werte während des Corona-Lockdown sind längst wieder verflogen. Das spürt auch die Polizei. Die sozialen Medien beschleunigen das Gebaren der geistigen Brandstifter.

Die Schweiz im Corona-Sommer 2020. In Gedanken fliegen wir an einen schönen Sandstrand und trinken Sangria in der Sonne. In der Realität jedoch bleiben wir lieber zu Hause und warten, bis sich das Virus endgültig verzogen hat. Da und dort kommen nochmals Erinnerungen hoch an den Lockdown im März und April, als die Wirtschaft über Nacht narkotisiert wurde.

Für ein paar Wochen haben wir uns in den eigenen vier Wänden eine schöne, neue Welt zusammengesponnen. Seen und Flüsse waren klar, die Luft rein, der Himmel schlierenfrei, Strassen und Züge leer. Wir besannen uns auf die wahren Werte des Lebens. Die Familie, die besten Freunde. Der nette Nachbar, der die Einkaufstaschen mit einem Lächeln vor die Haustür stellt. Der respektvolle Umgang mit den Mitmenschen, die Achtung vor den Pflegeberufen. Das Paradies wirkte ganz nah. Wir statt Gier.

Nur ein paar Wochen später sind wir zurück in der Realität. Die Züge sind wieder voll, auf den Strassen drängeln die Autofahrer genauso unverschämt wie früher, in den Büros reiht sich Sitzung an Sitzung. Wir kaufen wieder selbst ein und ärgern uns über die Senioren an der Kasse, die ihr Kleingeld suchen. Und die Politiker haben längst durchschimmern lassen, dass im Pflegebereich unmöglich mehr Lohn verteilt werden kann, weil die Staatskasse leer ist. So viel ist vom Lockdown übrig geblieben.Noch schlimmer: Wie ein Virus verbreiten sich die geistigen Brandstifter. Es begann schon im Spätfrühling mit einer Inflation an Demonstrationen, die auch in Basel die Gemüter immer noch erhitzen. Demos gegen den Kapitalismus, für das Klima, für Frauen, gegen den Fremdenhass, was auch immer. Ob bewilligt oder unbewilligt, die Leute zieht es auf die Strasse, viele wissen vermutlich nicht einmal, warum sie in der Gruppe der Gutmenschen mitlaufen und für welche Werte sie letztlich einstehen.

 

Die Respektlosigkeit, die im Umfeld dieser Demos zu sehen und zu spüren ist, sprengt alle Grenzen. Im Namen der Gerechtigkeit und politischer Correctness drängt es die Meute raus, und in der Anonymität der Städte scheint alles erlaubt. Man darf den Verkehr blockieren, sämtliche Corona-Regeln brechen und Leute anpöbeln, wie es einem gerade passt. Schreitet die Polizei ein – wie bei der Frauendemo am 14. Juni auf der Johanniterbrücke in Basel – und erledigt ihren Job, wird Zeter und Mordio geschrieen. Der Respekt gegenüber Polizeibeamten tendiert gegen null. «Bullenschweine» sind immer zur falschen Zeit am falschen Ort und verhalten sich immer unverhältnismässig, so der Tenor. Die Bilder vom Mob, der gerade mit verbrecherischer Gewalt in Stuttgart wütete, sind noch frisch.

Nicht nur Hass und Hetze gegen Uniformierte vergiften das politische und gesellschaftliche Klima in unserem Land. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA schwappte die Rassismusdebatte in einer Wucht über den Atlantik, die jedem gesunden Menschenverstand spottete. Nicht falsch verstehen: Rassismus findet im Alltag statt, weltweit, jeden Tag, jede Sekunde. Rassismus beginnt im Kleinen und muss aufs Schärfste verurteilt werden. Aber man kann die Diskussion führen, ohne dass gleich die ganze Welt spinnt.

Erregtes Grundrauschen als Dauerzustand, garniert mit einer Verrohung der Sprache: Dieser Brandbeschleuniger funktioniert bestens.

Es gibt weisse Rassisten, die Unrecht tun. Es gibt aber auch Rassismus gegen Weisse. Es gibt Ausländer – sie sind deutlich in der Überzahl –, die sich gerade hier in Basel korrekt verhalten. Es gibt aber auch Ausländer, die sich dumm anstellen und sich nicht einen Deut um Integration scheren. Wer dies festhält, muss kein Rassist sein – aber er wird im Handumdrehen als Rassist gegeisselt. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit fehlendem Respekt.

 

Einen entscheidenden Faktor spielen dabei die sozialen Medien. Die Kanäle von Facebook, Twitter und Instagram sorgen für eine Art Nonstop-Empörung im Netz und fördern die Polarisierung in nie gekannter Stärke. Erregtes Grundrauschen als Dauerzustand, garniert mit einer Verrohung der Sprache: Dieser Brandbeschleuniger funktioniert bestens. 24 Stunden am Tag. Ein falscher Gast im «Arena»-Talk am Freitagabend beim Schweizer Fernsehen? Schon bricht in der digitalen Welt die Hölle los. Ein bissiger Eintrag einer Influencerin auf Instagram, weil sie sich über Demonstranten ärgerte, die die Innenstadt stundenlang blockiert hatten? Schon kündigt ein Staatsunternehmen wie die Post die Zusammenarbeit auf. Es ist so viel einfacher, mainstreamkonforme Antworten zu geben. Das spart eine Menge Ärger. Mittlerweile fürchten sich sogar die grossen Konzerne vor dem sogenannten Shitstorm im Netz. Nur so ist es zu erklären, dass die Migros in Zürich ihre Mohrenköpfe aus den Regalen verbannte und 60’000 Papiersäcke mit angeblich sexistischen Motiven einstampfte.

Wer in der Debatte um Schwarze, Weisse, Sexisten, Mohrenköpfe oder Ausländer vernünftig argumentiert und abwägt, wird nicht mehr erhört, sondern geht im Internetmob unter – überstimmt auch von Linken aus Politik und Medien, die sich zunehmend als Spaltpilze und Schreihälse entlarven und damit eine generelle Brutalisierung befeuern. Zu denken geben muss auch ein weiterer Aspekt: So schnell sich Hass und Hetze über Andersdenkenden entladen können, so schnell legt sich die Aufregung wieder. Die Rassismusdiskussion droht bereits wieder im Sand zu verlaufen, das Reizwort Mohrenkopf hat ausgedient. Das zeigt, wie oberflächlich und flüchtig die sozialen Medien sind. Doch für die geistigen Brandstifter bilden sie die ideale Plattform zum Zündeln.

Respekt heisst auch Höflichkeit, Toleranz und Fairness. Sie bilden die Basis einer funktionierenden Gesellschaft. Im Lockdown sind sie endgültig verloren gegangen.

16. Juni 2020

 

ANTISEMITISMUS an Anti-Rassismus-Demos in Paris

 

Im Moment werden weltweit Protestdemonstrationen mit der Thematik «Rassismus» veranstaltet. Der grauenhafte Mord an einem schwarzen Mann, George Floyd, der gefilmt wurde, begangen von einem weissen US Polizisten, rüttelte die Menschen auf und zeigte den existierenden und ausgelebten Rassismus, die aktuelle Unterdrückung von Menschen schwarzer Hautfarbe gleissend auf. Auch in der Schweiz fanden an den vergangenen Wochenenden in den Grossstädten Demos statt, die das Motto aus den USA «BLACK LIVES MATTER» trugen. Ich denke, dass jeder anständige Mensch dies nachvollziehen und diesen Aufschrei auch mitvollziehen kann und muss. Dass aber bei solchen Grossveranstaltungen leider auch Misstöne unter den Teilnehmern aufkommen, scheint leider auch Tatsache zu sein. Ich denke, dass auch der Fokus bei dieser Debatte generell nicht nur die Unterdrückung auf allen Ebenen von Menschen mit schwarzer Hautfarbe, sondern auch jegliche Art von Rassismus und Diskriminierung von Menschen  eingeschlossen werden muss. Das fehlte mir bei all diesen Demonstrationen, auch den schweizerischen! Warum wurde bei diesen Massendemos nicht auch zB die Thematik des «Antisemitismus» aufgegriffen, einer bedenklichen Art von Rassismus, die gerade in den letzten Jahren sich massiv ausgebreitet hat? – Es scheint, dass unter den Demonstrierenden offenbar auch selber «rassistische Tendenzen» ausgelebt wurden, was ganz besonders bedenklich ist. TACHLES berichtet zB von Zwischenfällen in Paris, bei denen Rufe von «dreckigen Juden» beobachtet wurden. Ich hörte auch von Demo-Beteiligten, die «antizionistische» Slogans ins Feld führten! Wie sagt man so schön und so treffend: es kann keine Toleranz gegenüber Intoleranz geben. Antirassismus-Aktivisten, die zu Juden- und israelhass aufrufen, sind eine Katastrophe und desavouieren die gerechtfertigte Anti-Rassismus-Debatte und schaden ihr. Solche Leute sollten an den Pranger gestellt werden!

 

TACHLES  Frankreich 16. Jun 2020

 

Demonstranten rufen «dreckige Juden»

 

Eine Demonstration gegen Rassismus und Polizeigewalt in Paris wird zur Plattform für antisemitische Parolen.

 

Die Pariser Polizei ermittelt wegen der Rufe «dreckige Juden», die am Samstag an einer Demonstration gegen Rassismus und Polizeigewalt zu hören waren. Die Protestaktion mit rund 15.000 Teilnehmer am Platz der Republik stand unter dem Motto «Gerechtigkeit für Adama» und war Teil einer Welle von Demonstrationen weltweit. Als Gegendemonstranten auf dem Dach eines Gebäudes am Platz ein grosses Banner mit der Schrift «Gerechtigkeit für Opfer von Verbrechen gegen Weisse» aufrollten, wurden in der Menge auf dem Platz Rufe mit der Parole «dreckige Juden» laut (Link). Francis Kalifat hat dazu als Präsident des jüdische Dachverbandes CRIF erklärt, die Parolen seien eine Beleidigung der Republik, aber auch des der Demonstrationen zugrunde liegenden Anliegens.

 

Zu der Kundgebung hatte ein Komitee um Assa Traoré aufgerufen, die Schwester von Adama Traoré. Dieser war 2016 im Alter von 24 Jahren in Paris bei seiner Festnahme gestorben. Im Mai gab ein Gericht ein medizinisches Gutachten bekannt. Dieses entlastet die Polizisten, die den jungen Schwarzen verhaftet hatten: Traoré sei an gesundheitlichen Problemen und Herzversagen gestorben. Eine von seinen Angehörigen in Auftrag gegebene Autopsie besagt jedoch, der Tod sei Ergebnis der Methoden der Polizei bei seiner Festnahme.

 

Das Gerichts-Gutachten vom Mai löste in ganz Frankreich Proteste aus (Link). Am Samstag wurde das Banner der Gegendemonstranten rasch von Hausbewohnern zerschnitten, löste aber auf dem Platz Zusammenstösse mit der Polizei aus. Weitere Kundgebungen fanden in Marseille, Lyon, Montpellier und Bordeaux statt (Link). Andreas Mink

 

11. Juni 2020

Zivilcourage ist ein grosses Wort. Und nur wenige Menschen, die ich kenne, leben ihr nach! Einer, den ich kenne, ist Klaus Rozsa, ein Querdenker! Das folgende Lebensbild dieses «Querdenkers» von Alex Baur in der WELTWOCHE, porträtiert Klaus! Klaus Rozsa ist für mich ein lebendiges Beispiel eines Menschen, der aktiv am Geschehen teilnimmt und Position bezieht, dies v.a. dann, wenn etwas Unrechtes geschieht! Ich denke, dass viele Menschen sich ein Beispiel an ihm nehmen könnten und sollten. Ich schliesse mich ein! Klaus Rozsa ist ein in zweiter Generation Shoa-Überlebender. Dass dieser Umstand ihn wesentlich geprägt hat, scheint offensichtlich zu sein. Dass er sich jahrelang in der extrem-linken Szene bewegte, die für ihren latenten Antisemitismus und v.a. ihrem Hass gegenüber «Zionismus»  bekannt ist, mag erstaunlich sein. Aber von dieser «Szene» scheint er sich gelöst zu haben. Heute ist er ein Unterstützer des israelischen Staates, das ihn offenbar gerade in der linken Szene verhasst macht! (was ist Zivilcourage: https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilcourage

Die Weltwoche – 11. Juni 2020 Ausgaben-Nr. 24, Seite: 32 Geschichten

Der rasende Fotograf  - Alex Baur

Der Fotoreporter und Polizistenschreck Klaus Rózsa war ein Kopf der Opernhaus-Krawalle. Im persönlichen Umgang kann man sich kaum einen toleranteren Menschen vorstellen. Wie geht das zusammen?

Von Alex Baur

Jeder, der in den achtziger Jahren mit Strassenkrawallen in Zürich zu tun hatte, kannte sein Gesicht. Vor allem jeder Polizist. Denn Klaus Rózsa galt als einer der (wenn nicht der ) Rädelsführer. Zugleich war er der Pressefotograf, der die spektakulärsten Demo-Bilder knipste. Wo es krachte, war Rózsa meist ganz nahe dran. Seine Balanceakte zwischen Megafon und Fotoapparat waren atemberaubend.

Es war eine unmögliche Doppelrolle. Auf den meisten Redaktionen wurden Rózsa-Bilder, welche die Polizisten stets als gewalttätige Monster zeigten, nach Möglichkeit gemieden. Er schaffte es trotzdem immer wieder in die Blätter, weil er einfach die spektakulärsten Szenen brachte. Mehrmals wurden prügelnde Polizisten wegen ihm verurteilt. Bei der Polizei war Rózsa entsprechend verhasst. Doch sämtliche Versuche, ihm etwas Strafbares anzuhängen, scheiterten. Mit der Frustration stieg die Wut. Der Fotograf musste sich stets in Acht nehmen, er war ein begehrtes Prügelziel.

Als Reporter der NZZ verfolgte ich damals regelmässig Demonstrationen. Im persönlichen Umgang war Klaus Rózsa der toleranteste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Doch sobald eine Polizeiuniform auftauchte, mutierte er zum wutschnaubenden Agitator. Es war, als kippte in seinem Hirn ein Schalter. In diesem Zustand war er unansprechbar. Schlagstöcke, Tränengas und Gummigeschosse wirkten auf ihn wie Doping.

Keine Berührungsängste

Ich war 25 Jahre jung, in der journalistischen Ausbildung, als ich Klaus Rózsa 1986 kennen lernte. Ich suchte ein Praktikum. Ohne lange zu fragen, nahm er mich mit ins linksalternative Radio LoRa, wo er eine Nachrichtensendung leitete. Als Verfechter von Atomstrom und Israel-Fan, der jede Form von politischer Gewalt und insbesondere die Guerillas in Lateinamerika verabscheute, kam ich mir beim Sender etwa so vor wie ein schwuler Rabbi, der sich in eine salafistische Moschee verirrt hat. Schnell wäre ich rausgeflogen, wenn sich Rózsa nicht mit seinem Prestige vor mich gestellt hätte.

Das Einzige, was ich damals mit den Linken teilte, war die Ablehnung des Autos wegen dem vermeintlichen Waldsterben, und das wiederum war so ziemlich das einzige Thema, bei dem der bekennende Umweltmuffel Rózsa nicht links tickte. Unsere Positionen hätten gegensätzlicher nicht sein können. Erstaunlicherweise war das nie ein Problem. Ich bewunderte seine Eloquenz am Mikrophon, seine Schlagfertigkeit, seine Fähigkeit, eine Sache auf den Punkt zu bringen und in eine packende Geschichte zu verpacken. Ich lernte viel von Rózsa. Er war ein journalistischer Vollprofi, und offenbar glaubte er daran, dass ich auch einer werden könnte.

Die in linken Kreisen verbreitete Intoleranz war ihm völlig fremd, Berührungsängste kannte er nicht. Anders als viele Bewegte, wie man die Linksautonomen der achtziger Jahre nannte, hatte Rózsa eine Abneigung gegen Drogen, ob legal oder illegal. Er führte eine Art audiovisuelles Gemischtwarenunternehmen, das in seinen besten Zeiten ein halbes Dutzend Angestellte beschäftigte.

Beim Kampf um das Kanzleizentrum war Rózsa die unbestrittene Leitfigur. Der alternative Treffpunkt im Areal des alten Schulhauses am Helvetiaplatz Ende der 1980er Jahre war sein Kind. Es war ein rauer Kampf mit Besetzungen und polizeilichen Räumungen. Schliesslich gelang es Rózsa, mit dem freisinnigen Stadtpräsident Thomas Wagner eine einvernehmliche Lösung zu schmieden. Das Projekt scheiterte nach Wagners Abwahl 1990, als die Sozialdemokraten die Führung in der Stadt übernahmen. Zweimal wurde das Kanzleizentrum an der Urne abgelehnt.

Eigentlich war es eine Tragödie. Der Kulturtreff war im Quartier verankert und wurde dort an der Urne mit wuchtigem Mehr angenommen. Rózsa hatte sogar eine Kooperation mit dem Opernhaus und dem Schauspielhaus zustande gebracht. Dank der Querfinanzierung über die Diskothek in der alten Turnhalle kam der Kulturbetrieb ohne öffentliche Gelder aus. Drogen wurden vom Areal ferngehalten. Das Kanzleizentrum hätte eine Erfolgsgeschichte werden können, wäre da nicht der Ruch der linksautonomen Chaoten gewesen, der alles überstrahlte. Das gesamtstädtische Njet an der Urne war ein Protestvotum gegen den Strassenterror der achtziger Jahre. Es war Rózsas bitterste Niederlage. Nur Klaus blieb staatenlos

Ein Politikum in der Stadt Zürich war auch seine Einbürgerung, die sich über zwei Jahrzehnte hinzog und dreimal abgelehnt wurde. Die Gründe waren rein politischer Natur. Rózsa war weder verschuldet noch vorbestraft. Geboren 1954 in Budapest, war er als Zweijähriger mit den Eltern und der vier Jahre älteren Schwester Olga in die Schweiz gekommen. Sein Vater - er besass beim Kreuzplatz einen kleinen Kleiderladen - und seine Schwester, waren längst eingebürgert. Nur Klaus blieb bis Ende der neunziger Jahre staatenlos.

Dass die Rózsas jüdisch waren, wusste man, doch darüber wurde im latent antisemitischen linken Milieu nicht gesprochen. Das änderte sich erst 2016, als Erich Schmid den Dokumentarfilm «Staatenlos» über Klaus Rózsa und seine Familie drehte. Es ist ein berührendes Epos um zwei Shoa-Überlebende, die mit ihren beiden Kindern 1956 aus Ungarn fliehen und nach einer Odyssee durch die halbe Schweiz im Hinterzimmer einer Koscher-Metzgerei im Zürcher Kreis 4 landen. Sicherheitshalber liessen die Eltern ihre Kinder katholisch taufen. Klaus kam als Teenager in ein strenges katholisches Internat in Bayern.

Doch zwei Jahre vor der Matura rebellierte der Bursche. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wollte er nicht mehr ins Internat zurück. In der «Autonomen Republik Bunker» wurde er als 17-Jähriger von der trotzkistischen RML auf den revolutionären Kurs getrimmt. Beim Parteiblatt Maulwurf machte er erste journalistische Erfahrungen, daneben absolvierte er eine Lehre als Fotograf. Rózsa nahm diverse Stellen in der Branche an, machte sich aber bald selbständig als Fotograf und Revolutionär.

Verteidiger von Orban und Israel

In den siebziger Jahre herrschten raue Sitten auf den Zürcher Strassen. Viele Polizisten waren schlecht gerüstet und überfordert, die Gummiknüppel sassen locker. Es kam zu brutalen Übergriffen, die praktisch nie geahndet wurden. Wo andere sich duckten, reagierte der junge Rózsa mit Empörung. Jeder Schlag, den er einsteckte, stachelte ihn erst recht auf.

Nach der Niederlage mit dem Kanzleizentrum wurde es ruhiger um Klaus Rózsa. Die Alternativkultur hatte sich in Nischen etabliert. Rózsa zog für ein paar Jahre nach Ungarn, entdeckte seine Liebe zu Israel. Heute lebt er mit seiner Partnerin, der Schriftstellerin Bettina Spoerri, wieder in Zürich-Wiedikon. Letztes Jahr veröffentlichten die beiden einen alternativen Stadtführer für Zürich. Nachfolgewerke über Budapest und Tel Aviv sind in Arbeit. Im letzten September wurde Klaus Rózsa 65.

Sporadisch sorgte Rózsa in den sozialen Medien immer noch für Aufregung, etwa wenn er den ungarischen Premier Viktor Orban verteidigt oder die israelische Politik gegenüber den Palästinensern. Wer darin einen Bruch mit der linksalternativen Szene wittert, geht allerdings fehl. Rózsa war schon immer ein Querdenker, der sich nie in ein Kollektiv einbinden liess und seine grössten Konflikte im eigenen Milieu austrug. Doch sein Image als rasender Fotoreporter war stets mächtiger als der Mensch, der sich dahinter versteckt.

Tollkühner Balanceakt mit Megafon und Kamera: Klaus Rózsa 1980 bei seiner Verhaftung .

 

8. Juni 2020

Rund um die Corona-Pandemie-Katastrophe schwirren zahlreiche Theorien in der Welt herum. Unklar ist offenbar nach wie vor, ob ein Angesteckter nach Überwindung der Infektion resistent ist oder nicht. Der BEOBACHTER geht dieser Frage nach. Ein anderes aktuelles, meistens aber verschwiegenes Thema, ist der «Mundgeruch»:

BEOBACHTER - Coronavirus

Ist die Hälfte schon immun?

Forschende haben Hinweise darauf, dass ein grosser Teil der Bevölkerung bereits immun gegen das neuartige Coronavirus sein könnte. Das Immunsystem kennt vier Wellen der Verteidigung. Nicht immer sind alle nötig.Von Frederik Jötten - Veröffentlicht am 4. Juni 2020

Die Schlagzeilen lassen nichts Gutes ahnen für unser künftiges Zusammenleben mit dem neuartigen Coronavirus

Covid-19 Was Sie über das Coronavirus wissen müssen

: Manche Covid-19-Genesene hätten keine Antikörper im Blut. Sie wären also nicht anhaltend immun. Das hätte schlimme Folgen. Eine Rückkehr zu dem Leben, das wir als normal ansehen, wäre in absehbarer Zeit nicht möglich.

Doch die Angst ist wohl unbegründet. Denn ohne Immunität gegen den Erreger würde keine erkrankte Person gesunden. Die Forschung zeigt denn auch immer deutlicher, dass es eine durchaus übliche Immunreaktion gegen das Coronavirus gibt.

Die letzte Waffe

Die Öffentlichkeit ist bislang fixiert auf Antikörper – gibt es sie? Und wenn ja, wie lange sind sie nachweisbar? Doch Antikörper sind eben längst nicht alles, was unser Immunsystem

Corona und andere Krankheit Schafft mein Immunsystem das?

 gegen Viren aufzubieten hat. Im Gegenteil: Sie sind sogar erst die letzte Waffe, die gegen Erreger zum Einsatz kommt. Denn es vergeht eine Woche, bis die wirkungsvollsten dieser Abwehrmoleküle, die Immunglobuline der Klasse G (IgG), in grosser Zahl gebildet werden. Bis dahin muss der Körper das Virus mit anderen Mitteln in Schach halten.

«Bei einer Virusinfektion kommt es zunächst zu einem Lockdown der Zelle», sagt Christian Münz, Professor für Virale Immunbiologie an der Universität Zürich. «Die Zelle erkennt, dass fremde Erbsubstanz eines Erregers vorhanden ist, und fährt darauf ihren Stoffwechsel so weit herunter, dass die Vermehrung des Virus verlangsamt wird» (siehe Grafik weiter unten im Artikel).

Killerzellen werden aktiv

In einer zweiten Abwehrwelle werden sogenannte natürliche Killerzellen aktiv. «Wenn sich ein Virus in einer Zelle vermehrt, verändert sich die Balance ihrer Oberflächenmoleküle», sagt Münz. «Das erkennen die natürlichen Killerzellen und töten infizierte Zellen ab.» Der Körper opfert also eigene Zellen, um die Virenproduktion einzudämmen.

Behandlung gegen Covid-19

Was bringt Blutplasma?

Behandlungen mit Blutplasma könnten gegen das Coronavirus helfen – in Zürich ist die erste Patientenstudie gestartet. Warum Frauen davon ausgeschlossen sind.

Ein 130 Jahre altes Verfahren: Ein von Covid-19 genesener Rekrut spendet Blutplasma.

Von Frederik Jötten

Veröffentlicht am 7. Mai 2020

Andrej Peter war die Prozedur zwar unheimlich, trotzdem entschloss er sich, etwas gegen die Corona-Pandemie zu tun. Der 27-jährige Philosophie-Doktorand hatte Covid-19 überstanden, mit einem milden Verlauf. Ende April ging er zum Blutspendedienst Zürich, um sich Blutplasma abnehmen zu lassen.

Ärzte des Universitätsspitals Zürich (USZ) behandeln damit akut erkrankte Covid-19-Patienten

Covid-19 Was Sie über das Coronavirus wissen müssen

. Denn Peters Blut enthält Antikörper gegen das Virus Sars-CoV-2. Solange es weder ein wirksames Medikament noch einen Impfstoff gibt, ist von gesundeten Patienten gespendetes Plasma – Blut abzüglich der enthaltenen Blutzellen – eine der hoffnungsvollsten Therapien für Covid-19.

Am USZ ist nun die erste vom Heilmittelinstitut Swissmedic zugelassene klinische Studie zur Bekämpfung des Coronavirus

 

Blutspenden Das Millionengeschäft mit unserem Blut

 untersucht wurde, verliefen vielversprechend. Von den 17 schwer erkrankten Patienten, die behandelt wurden, besserten sich bei allen die Symptome. Von fünf Patienten, die bereits künstlich beatmet wurden, konnten sogar drei relativ rasch die Klinik verlassen, bei zwei weiteren war die Lebensgefahr gebannt.

Impfung gegen das Coronavirus «Die Schweiz braucht eine eigene Impfstoff-Fabrik» «Die Zahl der untersuchten Patienten ist noch gering», sagt Markus Manz. «Aber es gibt keinen Hinweis, dass die Plasmatherapie für Covid-19 schwerwiegende Nebenwirkungen hat.» Weltweit haben deshalb Studien dazu begonnen.

Die USZ-Studie soll in einem ersten Schritt belegen, dass das Verfahren sicher ist. Dann können weitere Schweizer Spitäler, die bereits Interesse angemeldet haben, in eine grössere Untersuchung eingegliedert werden.

Ein individueller Heilversuch mit Blutplasma von gesundeten Covid-19-Patienten ist auch in anderen Kliniken prinzipiell möglich. Eine Kontrollgruppe, in der es zum Vergleich keine oder eine grundsätzlich andere Behandlung gibt, wird in der ersten USZ-Studie nicht gebildet, eventuell aber in Folgestudien. «Im Sinne der Patienten werden alle Mittel eingesetzt, um sie zu heilen», sagt Markus Manz.

Antikörper wirken vor allem am Anfang der Infektion

Dazu können auch Medikamente zählen, die sich nicht gegen das Virus direkt richten, sondern die Immunantwort bremsen. So verabreichten die Ärzte in den beiden Studien aus China und Südkorea zusätzlich zum Blutplasma Corticosteroide, landläufig Kortison genannt. Bei den schweren Verläufen von Covid-19 ist nämlich oft nicht mehr das Virus selbst das Problem, sondern die überschiessende Immunantwort.

Von vielen antiviralen Medikamenten, wie etwa Tamiflu gegen Influenza, weiss man, dass sie vor allem wirken, wenn sie am Anfang der Infektion

Infektionen Natur pur gegen Viren und Bakterien

 eingenommen werden. Das Gleiche vermutet man auch von den Antikörpern aus dem Spenderplasma. «Wir transfundieren deshalb Covid-19-Patienten, die im Spital sind, aber noch nicht auf der Intensivstation liegen», sagt Markus Manz. Als Empfänger werden Menschen ausgesucht, die zusätzlich ein hohes Risiko haben. Mit Rekonvaleszenten-Plasma werden also am USZ nur Patienten behandelt, die über 50 sind und Risikofaktoren wie Herzkrankheiten und Diabetes haben. Oder solche, die über 18 sind und bereits mit Sauerstoff versorgt werden müssen.

«130'000 haben sich schon dafür interessiert, ob sie sich als Spender eignen.»

Beat Frey, Direktor des Zürcher Blutspendediensts

Keine Alternative zur Impfung

«Durch die Therapie wollen wir Beatmung

Patientenverfügung Medizinische Hilfe um jeden Preis?

 und Intubation vermeiden», sagt Manz. Die passive Immunisierung ist also eine Akutbehandlung. Eine Alternative zur Impfung ist sie nicht. Denn übertragene Antikörper sind bereits drei Wochen nach der Transfusion zur Hälfte abgebaut.

«Um die Pandemie

Die Gefahr, die nicht interessierte  in den Griff zu bekommen, wären ein wirksames Medikament oder eine Impfung billiger und einfacher zu handhaben», sagt Manz. «Für Plasmaprodukte braucht man immer eine Kühlkette.» Das sei schwer zu gewährleisten, zumal Patienten rund um den Globus versorgt werden müssten. Aber in der Schweiz mit ihrer Infrastruktur sei es machbar, Tausende Patienten mit Blutplasma zu behandeln.

Frauen als Spenderinnen ausgeschlossen

An der Bereitschaft zu spenden mangelt es nicht. «Wir erleben eine grosse Welle der Solidarität

Bürgerdienst «Das hat nichts mit dem Helfersyndrom zu tun» », sagt Beat Frey, Direktor des Blutspendediensts Zürich, der das Plasma für die USZ-Studie sammelt. «Wir haben einen Fragebogen online gestellt, um herauszufinden, wer als Spender geeignet ist – und der wurde schon 130'000-mal aufgerufen.»  Die Kriterien sind eng. Spender für die Studie müssen erst per Rachenabstrich positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden sein und danach zweimal negativ. «Viele Menschen melden sich, die klare Symptome hatten, aber nicht getestet worden sind», sagt Frey. «Sie muss ich im Moment vertrösten. Vielleicht können wir sie später noch für eine weitere Studie rekrutieren.»

Andrej Peter erfüllte alle Voraussetzungen. Wegen eines Nebenjobs im medizinischen Bereich wurde er dreimal getestet. Er hat keine schweren Vorerkrankungen, die ein Gesundheitsrisiko für ihn als Spender bedeuteten – und er ist ein Mann.

«Wenn Frauen Plasma spenden, kommt es bei Transfusionen öfter zu Komplikationen», sagt dazu Beat Frey. Das liege an Antikörpern, die bei Schwangerschaften entstehen können. «Diese Komplikationen treten vor allem in der Lunge auf – und Covid-19 in seiner schwersten Form ist eine Lungenkrankheit. Deshalb haben wir Frauen als Spenderinnen ausgeschlossen», sagt der Hämatologe.

«Ein seltsames Gefühl»

Die Plasmaspende ist ein lange etabliertes Verfahren. Durch einen Venenzugang fliesst Blut in eine sogenannte Plasmapherese-Maschine. Sie trennt die Zellen des Bluts von seinen flüssigen Bestandteilen. Rote und weisse Blutkörperchen sowie Thrombozyten werden dann, aufgefüllt mit einer Ersatzlösung, durch den Venenzugang wieder in den Körper des Spenders zurückgepumpt, das Plasma in einen Beutel abgefüllt. 30 bis 40 Minuten dauert das.

«Dass das eigene Blut in einen Apparat geleitet wird, man es dann zum Teil zurückbekommt, war ein seltsames Gefühl», erzählt Andrej Peter. «Aber die Mitarbeiterinnen des Blutspendediensts haben mich so gut betreut, dass ich beruhigt war.»

Mundgeruch - Oh Liebling, dein Atem...

Mundgeruch ist lästig und wird gerne totgeschwiegen. Dabei ist es meist einfach, wieder zu frischem Atem zu kommen.

BEOBACHTER: Mundgeruch ist unangenehm und ein Tabuthema. Dabei helfen oft schon kleine Tricks, um ihm beizukommen.   Von Vera Sohmer,

aktualisiert am 4. Juni 2020

Der Legende nach wurde Clark Gables schlechter Atem nicht vom Winde verweht – und Vivien Leigh hasste es, ihren Filmpartner zu küssen. Mundgeruch ist nicht sexy. Er wird als unangenehm bis abstossend empfunden und gilt in der Gesellschaft sowie bei der Partnersuche als Killerkriterium. Umso bemerkenswerter ist, dass Schätzungen zufolge jeder vierte Erwachsene in Europa ab und zu Mundgeruch hat. Etwa jeder fünfzehnte verströmt permanent schlechten Atem.

Es wäre also angebracht, die Übelriechenden darauf aufmerksam zu machen. Aber den meisten ist das peinlich. Warum eigentlich? Es ist ähnlich wie beim Fuss- oder Achselschweiss: Viele sind betroffen, aber keiner spricht offen darüber. Lieber versucht man, die schlechten Gerüche mit allerlei Mittelchen zu übertünchen. Erschwerend kommt hinzu: Keiner kann sicher sein, ob er selber nicht auch Mundgeruch hat. Denn seinen eigenen Atem riecht man nicht.

Spezialist kann Ursache für Mundgeruch klären -

Zahnpflege Was uns die Zahnfee verschwieg wurde aber auch in der Zahnmedizin lange vernachlässigt. Erst in den letzten Jahren hat man sich fürs Thema sensiblisiert. Das ist auch sinnvoll, denn in neun von zehn Fällen liegt die Ursache von schlechtem Atem in der Mundhöhle. Leider haben viele Betroffene Hemmungen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Ob man einen Spezialisten aufsuchen sollte, hängt vom Leidensdruck ab. Wer meint, er habe Mundgeruch, ist oft völlig verunsichert. Das wird noch verstärkt durch Andeutungen oder Gesten anderer: der Arbeitskollege, der den Kopf zur Seite dreht; das Kind, das sich bei der Familienfeier die Nase zuhält.

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In solchen Fällen kann eine Abklärung sinnvoll sein. Bei einer gründlichen Untersuchung kann man den Ursachen auf den Grund gehen und Betroffene vom lästigen Leiden befreien. Die Erfolgsaussichten sind gut: In den allermeisten Fällen ist es unspektakulär, Mundgeruch wegzubekommen. Und manchmal stellt sich heraus, dass alles nur eingebildet war und die Betroffenen gar keinen schlechten Atem haben. 

Die wichtigsten Fragen zu Mundgeruch - Woher kommt Mundgeruch?

Neben schlecht gepflegten Zähnen - Dentalhygiene -  Das tut den Zähnen gut  und entzündetem Zahnfleisch ist Zungenbelag die häufigste Ursache für schlechten Atem. Auf der Zunge können sich Bakterien ansiedeln, die schlechte Gerüche verbreiten. Wer die Zunge mit Schaber oder Zungenbürste säubert, riecht wieder gut.

Auch Stress

Stress und Körpersymptome Körper im Alarmzustand kann Mundgeruch verursachen, er hemmt den Speichelfluss. Und in einem trockenen Mund fühlen sich geruchsbildende Bakterien wohl.

Viele Businessleute sind im Mund top gepflegt, haben aber übel riechenden Atem. Der Grund: Sie stehen unter Druck und trinken zu viel Kaffee, was den Mund austrocknet. Das Mittel dagegen ist einfach: viel Wasser trinken und wasserhaltige Früchte essen. 

Gibt es zuverlässige Selbsttests?

Jein. Am ehesten funktioniert die «Airbag-Methode»: Man nehme eine geruchsneutrale Plastiktüte und atme sie voll. Dabei durch die Nase ein- und durch den Mund ausatmen. Dann den Sack verschliessen. Um den Geruchssinn zu schärfen, an die frische Luft gehen, an frisch gemahlenem Kaffee oder einem Espresso riechen. Danach den Airbag vor der Nase ausdrücken.

Oft empfohlen wird die «Wrist-Licking-Methode», bei der man mit der Zunge kräftig die Rückseite des Handgelenks ableckt und daran riecht. Das kann nur Hinweise auf Mundgeruch geben, wenn die Ursache dafür auf der Zunge liegt.

Was definitiv nichts bringt: in die hohle Hand atmen und schnuppern. Die einzige echt zuverlässige Methode: eine Vertrauensperson fragen: «Habe ich eigentlich Mundgeruch?»

 

Was taugen Pastillen und Wässerchen gegen Mundgeruch?

An Mitteln mangelt es nicht: Sprays, Wässerchen zum Gurgeln, Chlorophylltabletten, Pfefferminzblättchen, die man auf der Zunge platziert. Sie übertünchen allerdings den Geruch nur für kurze Zeit, beseitigen aber nicht die Ursache.

Wer unter Mundtrockenheit leidet, kann zu zuckerfreien Kaugummis oder Bonbons greifen. Auch sie beseitigen die Ursachen nicht, regen aber die Speichelproduktion an. 

 

2. Juni 2020

Wer kennt ihn nicht, den «Christo“, der ganze Landschaften, Gebäude verkleidete und praktisch umfunktionierte-  mit einer fast grenzenlosen Phantasie. –

Christo ist soeben verstorben. Er stammte aus Bulgarien und hat jüdische Wurzeln. Andreas Mink vom Tachles offeriert ein Lebensbild dieses einzigartigen Künstlers:

 

TACHLES - KUNSTWELT 01. Juni 2020

Christo in New York verstorben - Der Konzeptkünstler Christo.

Der in Bulgarien geborene Konzeptkünstler wurde 84 Jahre alt.

Die von Christo und seiner Frau Jean-Claude vorgenommenen Eingriffe in Naturlandschaften und Städte waren häufig massiv, aber stets von begrenzter Dauer. Die 7503 «Gates» aus orangenfarbenem Tuch und Stahlrahmen im Central Park von Manhattan zogen im Februar 2005 über zwei Wochen Millionen von Besuchern an. In Berlin blieb der Reichstag 1995 ebenfalls nur vorübergehend vollständig verpackt und eingeschnürt. Aber nach dem Tod des Konzeptkünstlers am Sonntag in New York steht fest: Ihre Kunst wird den am 13. Juni 1935 als Sohn einer jüdischen Unternehmerfamilie im bulgarischen Gabrovo geborenen Christo und seine bereits 2009 verstorbene Gattin und Partnerin Jeanne-Claude überstehen. Auch sie wurde am 13. Juni 1935 geboren. Wie sein Team auf Facebook mitteilt, wird «L’Arc de Triomphe, Wrapped», die Verhüllung des Triumphbogens in Paris wie geplant vom 18. September bis zum 3. Oktober 2021 stattfinden (facebook).

Das Paar hatte mit den Vorarbeiten dazu bereits 1962 begonnen. Andere Projekte laufen ebenso weiter, wie eine grosse Werkschau am Centre Georges Pompidou über die Zeit und die Arbeit des Paares in Paris von Juli bis Oktober. Dass ihre Installationen häufig jahrzehntelanger Vorbereitungen bedurften, geht aus dem Ehrgeiz des Paares hervor: Interventionen an der Little Bay im australischen Sydney (1968–69), der «Valley Curtain» in Colorado (1972), «Running Fence» in Kalifornien (1976), «Surrounded Islands» in Miami (1983), die verhüllte Brücke Pont Neuf in Paris (1985), die von tragischen Unfällen markierten «Umbrellas» in Japan und Kalifornien (1991) und zuletzt die «Floating Piers» auf dem italienischen Iseo-See (2016) und die Pyramide aus Ölfässer «London Mastaba» am dortigen Serpentine Lake (2018) waren ebenso raumgreifend, wie umstritten (christojeanneclaude). Dies gilt vor allem für die Anfänge des Paares.

Noch die «Gates» in Manhattan hatten endlose Widerstände von Bürokraten zu überwinden, bis der damalige Bürgermeister Michael Bloomberg das Projekt unterstützt hat. Skeptisch – mitunter auch mit einer Brise Eifersucht – blieben angesichts der Begeisterung eines Massenpublikums für die Spektakel des Paares indes Insider und Kollegen in der Kunstszene.

Dabei lässt sich das Duo durchaus in die Fluxus- und Aktionskunst der 1960er Jahre einordnen. Christo war jedoch bereits als Kind von den Stoffbahnen in der Fabrik der Familie fasziniert. Die Mutter Tzveta Dimitrova war Generalsekretärin der Akademie der Schönen Künste in Sofia gewesen und lehrte ihn Malen und Zeichnen. 1956 floh er versteckt in einem Güterzug aus dem kommunistischen Bulgarien zunächst nach Prag und von dort nach Paris. Dort hielt er sich mit allerlei Jobs und als Portraitmaler über Wasser. Die Qualität der Arbeiten führt zu Sitzungen mit dem französischen General und Kriegshelden Jacques de Guillebon. Dabei lernte Christo dessen Tochter Jeanne-Claude kennen. Die war zwar gerade erst eine Ehe eingegangen, verliebte sich aber in den jungen Exilanten. Beide gingen auch eine kreative Partnerschaft ein, die jedoch erst Jahre später offiziell anerkannt wurde. Vom Zeitgeist der turbulenten Epoche bewegt, zielte das Paar auf die Befreiung der Kunst aus Museen und grossbürgerlicher Umgebung. Christo war früh am Verpacken von Gegenständen interessiert. Die Verhüllung der Aussenwelt durch gigantische Stoffbahnen wirkt wie die maximale Umkehrung traditioneller Kunst: Leinwände bilden nicht mehr die Welt zweidimensional ab, sondern umfassen ihre Objekte.  

Gleichzeitig bewies das Paar Sinn für Marketing und trat ab 1961 nurmehr unter den Vornamen auf. Damals verbarrikadierten Christo und Jeanne-Claude als Reaktion auf den Mauerbau in Berlin eine Pariser Strasse mit Ölfässern. Nach der Teilnahme an der Dokumenta IV in Kassel erreichten ihre Projekte endgültig geographische Ausmasse. 1969 kleidete das Paar einen Küstenabschnitt in Australien und 1972 zogen sie einen massiven Vorhang aus orangefarbenem Stoff über ein Tal in Rifle, Colorado. Von da an begann die Marke «Christo und Jeanne-Claude» ihren Siegeszug durch die Kunst- und die wirkliche Welt (nytimes). Andreas Mink    

 

20. April 2020

Gewisse Leute unter uns gefährden durch ihr egoistisches Fehlverhalten ihre Mitmenschen mit Infektion und sind dadurch eine Gefahr für Leib und Leben. So ein Verhalten könnte je danach sogar rechtliche Folgen haben (Straftatbestand von «versuchter Körperverletzung», «versuchter Totschlag»). Wie in allen Extremsituationen kann auch in der jetzigen Corona-Pandemie-Zeit ein extremes Verhalten (im Guten und im Bösen) unserer Mitmenschen beobachtet werden.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden vermutlich noch monatelang die Bevölkerung beschäftigen und vor allem alle Lebensäusserungen krass einschränken. Schönfärberisch wird von den Verantwortlichen immer wieder betont, dass eine grosse Mehrheit sich immer an die Anordnungen des BAG halten würden. Dass sich die «Mehrheit» daran gehalten hat, das mag sicher richtig sein. Aber ich persönlich beobachte tagtäglich in meinem Umfeld, v.a. in der unmittelbaren Nachbarschaft, schwere Verstösse gegen die BAG-Vorschriften. Da sehe ich Leute – übrigens der altersmässigen Risikogruppe zugehörig – die sich über diese Vorgaben foutieren, sich nicht entfernt daran halten und dadurch ihre unmittelbare Umgebung (also die Mit-Nachbarn) mit einer Ansteckung bedrohen.

Ich gehe davon aus, dass solche schwerwiegenden Missachtungen/Übertretungen der BAG Vorschriften auch anderswo ausgelebt werden. 

Ab Ende April versprach der Schweizer Bundesrat nun eine Lockerung der  Vorschriften. Umfragen haben  gezeigt, dass eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung das Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit fordert. Ich vermute aber, dass auch hier gewisse Leute sich über diese Bestimmungen hinwegsetzen werden.

Ich bin der Meinung, dass  Übertretungen der BAG-Vorschriften jeder Art streng bestraft werden müssen. Teilweise wurde dies von Seiten der Polizei auch getan, und zwar bei Ansammlungen von mehr als 2 Personen ohne das social distancing. Es wurden Bussen von CHF 100.—pro Person ausgesprochen. Ich bin der Meinung, dass bei Gesichtsmaskenpflicht Fehlbare ebenfalls bestraft werden sollten. Auf eine andere Art werden diese Gesetzesübertreter sonst nicht zur Vernunft kommen und auch zukünftig ihre Mitmenschen mit Ansteckung bedrohen.

Der folgende Text ist eine Zusammenfassung des sda (veröffentlich in Bluewin Infos vom 20.4.2020) und zeigt den aktuellen Meinungsstand der Scheizer Bevölkerung. 

Mehrheit der Schweizer für Masken-Pflicht – jeder Dritte storniert Reise

SDA 20.4.2020 - 08:00

Tamedia-Umfrage: Maskenpflicht findet breite Zustimmung

Die Lockerung der Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus sollte nach dem Willen einer Mehrheit der Schweizer Bevölkerung mit einer generellen Maskenpflicht in der Öffentlichkeit einhergehen. Das geht aus einer am Montag veröffentlichten Tamedia-Umfrage hervor.

Sechs von zehn befragten Personen sprachen sich in der Umfrage dafür aus, dass das Tragen von Masken in der Schweiz verpflichtend wird, sobald genügend Schutzmasken verfügbar sind. Ein Obligatorium fände derzeit bei der Basis aller Parteien eine Mehrheit.

Parteien von rechts bis links halten nichts von einer staatlich verordneten Durchseuchung. Eine knappe Mehrheit lehnt es ab, dass der Staat Ansteckungen in Kauf nimmt mit dem Ziel, dass die Bevölkerung immun wird.

Ja zur Impfpflicht

Hingegen stösst die Nutzung anonymisierter Bewegungsdaten in grossen Teilen der Bevölkerung auf Akzeptanz. Sollte dereinst ein Impfstoff vorliegen, würden Wähler aller Parteien eine Impfpflicht befürworten.

Der Bundesrat erhält von der Bevölkerung gute Noten. Die Massnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Unterstützung der Wirtschaft werden als angemessen beurteilt. Auch die schrittweise Lockerung der Massnahmen stösst bei den befragten Personen auf Zustimmung.

Corona: Wie hoch ist das Risiko für Asthmatiker?

Schweizer Kreuz erleuchtet den Burj Khalifa

Die rasche Wiedereröffnung von Geschäften und Coiffeursalons beurteilt die Bevölkerung positiv. Nur knapp jeder Dritte möchte, dass Restaurants schon in den nächsten Wochen wieder Gäste bewirten dürfen. In der SVP-Basis wollen dies nur 35 Prozent, bei der FDP sind es 32 Prozent und bei der CVP 29 Prozent.

Kinos und Zoos sollen warten

Eine Wiedereröffnung von Freizeitbetrieben wie Kinos oder Zoos befürworten nur gerade 13 Prozent und eine Aufhebung des Veranstaltungsverbots nur 6 Prozent. Romands und Tessiner sind dabei noch deutlich zurückhaltender als die Deutschschweizer. Die Tamedia-Umfrage wurde am 15. April 2020 auf den Online-Plattformen der Tamedia-Zeitungen und von "20 Minuten" durchgeführt. Insgesamt nahmen 40'835 Personen aus allen Landesteilen daran teil. Die Umfrage erfolgte in Zusammenarbeit mit den Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen.

So viele Anhänger hat Schwedens Plan bei uns Auch in der Schweiz findet das umstrittene Modell Anklang, wie eine Umfrage von 20 Minuten zeigt. Rund jeder dritte Befragte ist dafür (13 Prozent) oder eher dafür (21 Prozent), dass der Staat die Ansteckung von Bevölkerungsgruppen ausserhalb der Risikogruppe zugunsten einer Herdenimmunität in Kauf nehmen soll. Schweden will Covid-19 mittels Durchseuchung bekämpfen. Laut einer neuen Umfrage hätte das Vorgehen auch in der Schweiz Anhänger. Im Kampf gegen das Coronavirus fährt Schweden einen Sonderkurs: Statt auf einen Lockdown setzt der Staat auf eine kontrollierte Durchseuchung. Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell geht anhand seiner mathematischen Modellen davon aus, dass es im Mai in Stockholm möglicherweise eine Herdenimmunität von drei bis vier Prozent gibt. Auch in der Schweiz findet das umstrittene Modell Anklang, wie eine Umfrage von 20 Minuten zeigt (siehe Box). Und jeder dritte Befragte ist dafür (13 Prozent) oder eher dafür (21 Prozent), dass der Staat die Ansteckung von Bevölkerungsgruppen ausserhalb der Risikogruppe zugunsten einer Herdenimmunität in Kauf nehmen soll. Die Männer (38 Prozent) zeigen sich dabei etwas weniger zurückhaltend als die Frauen (31 Prozent). Viel Support von jüngster Altersgruppe Am grössten ist die Zustimmung mit 16 Prozent bei der jüngsten Altersgruppe (18- bis 34-Jährige), am geringsten bei der ältesten Altersgruppe (über 65-Jährige) mit 9 Prozent. Die grössten Chancen hat eine Herdenimmunität bei Absolventen einer Uni oder Fachhochschule oder einer höheren Fachschule (16 Prozent bzw. 15 Prozent). Am wenigsten sprachen sich dafür die Befragten mit einem obligatorischen Schulabschluss oder einer Berufslehre aus (12 Prozent).

Gefahr von zweiter Welle sei zu hoch SVP-Nationalrat und Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel führte kürzlich in einem Videobeitrag ins Feld, dass Schweden mit der kontrollierten Durchseuchung am Ende besser aufgestellt sein könnte als die Schweiz. Köppel bat seine Zuschauer deshalb: «Bevor wir uns an den Schweden die Schuhe abputzen: Bitte mit offenem Visier die Resultate abwarten. Bis jetzt sieht das gar nicht so schlecht aus. Die Schweden müssen sich da auf keinen Fall verstecken.» Bis am Sonntag hatte Schweden bei den Todesopfern pro eine Million Einwohner die Schweiz jedoch überholt. Die Skepsis ist in Wirtschaftskreisen gross. «Einer kompletten Umstellung auf eine Herdenimmunisierung gegenüber wäre ich zurückhaltend», sagt Hans-Ulrich Bigler, Direktor de Schweizerischen Gewerbeverbands. Die Gefahr einer zweiten Welle sei so zu hoch. «Eine Herdenimmunisierung könnte vielleicht dann in Betracht gezogen werden, wenn man wüsste, wie es sich mit der Wachstumsrate des Virus genau verhält.» Der sicherere Weg, um die Wirtschaft trotz Corona in Gang zu bringen, sind laut Bigler Schutzkonzepte und Social Distancing. «Der Gastrobereich hat in einem Schutzkonzept nachgewiesen, unter welchen Voraussetzungen auch dort eine frühzeitige Öffnung möglich ist.»

«Totale Entgleisung möglich»

SP-Nationalrätin Barbara Gysi hält eine Immunisierung der Bevölkerung grundsätzlich für nichts Schlechtes. «Der Weg dorthin wäre aber gefahrenreich. Der Versuch einer Durchseuchung könnte total entgleisen», warnt sie. Es bestehe die Gefahr von Patientinnen und Patienten, die womöglich nicht mehr behandelt werden könnten und dadurch unnötiger Todesfälle.

Laut Gysi bietet die Schweiz auch nicht dieselben Voraussetzungen wie Schweden. «Schweden ist im Norden deutlich weniger besiedelt und sehr viel weiter weg vom Krisenherd Italien als die Schweiz.» Die Herdenimmunität sei ein gefährliches Gedankengut. «Es führt dazu, dass sich die Leute nicht mehr an die Regeln und Empfehlungen halten.»

Auch für Ärzte ist eine aktive Durchseuchung undenkbar. Für Robert Vogt, Herz und Gefässchirurg an der Klinik Hirslanden, kommt es gemäss seinem Gastkommentar in der «Mittelländischen Zeitung» «mit Sicherheit nicht in Frage, Millionen von gesunden Mitbürgern absichtlich mit einem aggressiven Virus zu infizieren, von welchem wir eigentlich überhaupt nichts wissen». Die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Mutation, die das Virus noch aggressiver machen könnte, werde mit einer wachsenden Anzahl Viren pro Population grösser, argumentiert er unter anderem.

19. April 2020

Extremsituationen, wie die heutige Corona-Pandemie-Situation, verursachen auch bei Menschen Extremreaktionen! Hier in der Schweiz ist das BAG zuständig für das richtige Verhalten der Bevölkerung und gibt laufend Verordnungen/Empfehlungen für einen richtigen  Umgang. Es ist leider eine Tatsache, dass sich im zwischenmenschlichen Verhalten v.a. auch  im Nachbarschaftsbereich, auf Spazierwegen (und überall, wo Menschen zusammentreffen) viele unserer Mitmenschen über diese lebenswichtigen Verordnungen hinwegsetzten, sich darüber foutieren! Manchmaml nimmt dieses zu beobachtende Fehlverhalten Extremformen an!

Ich beobachte dieses Fehlverhalten (das übrigens strafbar ist)  nicht zuletzt bei Nachbarn, die zB über die Ostertage frisch fröhlich bis zu sechs eingeladene Leuten , eng zusammengepfercht an ihrem Gartentisch versammelten. Die Empfehlung für die Ostertage, möglichst niemand in den Privatbereich einzuladen, aber auch das Einhalten der wichtigen Abstandsregel von 2 Metern, werden somit brutal gebrochen. Interessant mag in diesem Zusammenhang auch die Tatsache sein, dass diese Leute in die altersmässige «Risikogruppe» gehören. Damit gefährden sich diese Unholde nicht nur selber, angesteckt zu werden. Sie nehmen auch in Kauf, dass sie – sofern sie angesteckt werden – nicht nur alle Mitbewohner im gleichen Haus gefährden und letzten Endes auch alle diese Nachbarn in Quarantäne zwingen. Das ist ein unverzeihliches Fehlverhalten, das unentschuldbar ist.

Gleich sieht es auch auf Spazierwegen und überall dort aus, wo Menschen einander begegnen! Da gibt es die Anständigen, die – wie es sich gehört – diese Abstandsregeln und alle BAG-Vorschriften klar einhalten. Aber leider gibt es daneben auch das Gegenteil: Ich beobachte auch hier ein extrem egoistisches, unentschuldbares Verhalten: jüngere Leute (aber auch Alte!) breiten sich zB auf diesen Wegen egoistisch über die ganze Wegbreite aus. Ich habe erlebt, dass auf Hinweise zur Einhaltung der «social distance»-Vorschrift Grobheiten aller Art die Runde machen: «Ihr Alten könnt ja zu Hause bleiben!», «spielen Sie den Polizisten», und noch Schlimmeres usw. usw.

Der folgende Artikel der NZZ geht auf das Ansteckungsrisiko von Joggern und Bikern ein, die gerade  als Folge ihrer körperlichen Anstrengungen ein ganz besonderes Risiko für Menschen darstellen, denen sie begegnen. Ich gehe davon aus, dass die meisten dieser Sportler sich gar nicht bewusst sind, wie gross ihre Ansteckungsgefahr durch ihre Ausscheidungen ist:

Kann man sich beim Radfahren und beim Joggen mit dem Corona-Virus infizieren?

«Läufer und Velosportler sollten sich nebeneinander aufhalten und nicht hintereinander. Auch versetzt hintereinander ist man relativ sicher», sagt Bert Blocken, Physiker an der der Universität Eindhoven.

 

NZZ Tom Mustroph - 18.04.2020, 06.30 Uhr  

Joggen in einem Park in Rom: Durch das Tragen von Masken soll die Ansteckungsgefahr reduziert werden können.

Alberto Lingria / Reuters

Sportliche Betätigung in Zeiten der Corona-Pandemie ist wichtig, sowohl für den in Quarantäne ruhiggestellten Körper als auch für den unruhigen Geist. Studien von Aerodynamikern sowohl des Massachusetts Institute of Technology (MIT) als auch der Universität Eindhoven legen aber nahe, dass diese Betätigung gerade jetzt nicht ohne Risiko ist. Denn in der Atemluft der anderen können sich Coronaviren befinden. Und diese mit Viren angereicherte Atemluft kann sich weit über die empfohlenen zwei Meter Distanz hinaus ausbreiten. 20 Meter beim Velofahren

«Viele Menschen würden erschrecken, wenn sie sähen, welche Partikel sich gewöhnlich in der Atemluft befinden», sagt Bert Blocken am Telefon. Zum Alltagsgeschäft des Physikers der Universität Eindhoven gehört es, diese Partikel zu visualisieren – analog im Windkanaltest und digital in Computersimulationen. Ende letzter Woche hat er eine Studie über die Flugbahnen von Tröpfchen in der Atemluft veröffentlicht (www.urbanphysics.net). Tröpfcheninfektion gilt laut dem Berliner Robert-Koch-Institut derzeit als der verbreitetste Übertragungsweg von Sars-CoV-2. In eindrücklichen Bildern demonstriert Blocken in der Studie, wie aus Nase und Mund dringende Atemluft einen Jogger umhüllt und aufgrund von dessen Vorwärtsbewegung ihm wie ein Kometenschweif folgt. Bis zu zehn Metern kann die Wolke sich hinter einem Läufer ausbreiten, der mit 14,4 km/h unterwegs ist. Bei Velosportlern kann, je nach Geschwindigkeit, nicht einmal ein Sicherheitsabstand von zwanzig Metern ausreichen.

«Das gilt aber nur für die Personen, die sich im Windschatten befinden», präzisiert Blocken. Der Aerodynamiker aus Eindhoven ist ein Windschattenspezialist. Im letzten Jahr hatte er bei den Radprofis bereits die unterschiedlichen Windschatteneffekte für verschiedene Positionen im Feld, aber auch in Bezug auf Begleitfahrzeuge im Windkanal getestet. Als die Covid-19-Pandemie auch für Europa zu einem Problem wurde, beendete er mit seinem Team gerade eine Untersuchung über die Bewegung von festen Partikeln in der Luft. «Wir haben darauf aufgebaut und das Forschungsdesign dann auf Tröpfchen und Tröpfchenwolken ausgedehnt», erzählt Blocken.

 

Mehrere Stunden in der Tröpfchenwolke

Bereits Alltagsbeobachtungen legen nahe, dass der Windschatteneffekt bei sich bewegenden Objekten zu grösseren Luftzirkulationen führen kann. Mit genau dieser Begründung sagte etwa der in Kalifornien beheimatete Bicycle Club of Irvine alle Gruppenausfahrten ab (http://www.bikeirvine.org/news/2020/4/1/riding-in-the-time-of-covid-19). Eine schematische Darstellung auf der Homepage des Klubs zeigt, wie sich Partikel in der Atemluft hinter dem Rücken eines Velosportlers ausbreiten. Extrapoliert man dieses Bild auf Feldgrösse oder auch nur auf eine Radwandergruppe, wird das Problem deutlich: Mehrere Stunden halten sich zahlreiche Personen in den ausgeatmeten Tröpfchenwolken von Vordermann und Vorderfrau auf. Das Gleiche gilt, wenngleich weniger ausgeprägt, für Laufgruppen.

Bei einem sich mit 4 km/h bewegenden Spaziergänger erkannte Blocken einen Abstand von fünf Metern und bei einem sich mit 14,4 km/h bewegenden Läufer einen Abstand von zehn Metern als sicher an. «Dann treffen die Partikelwolken nicht auf Kopf, Oberkörper und Hände», erklärt Blocken. Zahlen für Velofahrer befinden sich nicht in der Studie, denn hier sind die Messungen komplizierter. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse empfiehlt Blocken dort Abstände von 20 Metern. «Das gilt aber nur für Personen, die sich im Windschatten befinden. Läuft oder fährt man nebeneinander oder versetzt hintereinander, reichen die normalen Abstände aus», präzisiert er.

Wie hoch die Infektionsgefahr selbst ist, will der Aerodynamiker nicht einschätzen. «Selbst Biologen haben unterschiedliche Positionen darüber, wie lange ein Virus in der Luft noch ansteckend sein kann. Mir kam es darauf an, die Flugbahnen der Tröpfchenwolken zu beschreiben. Und wenn ein Sicherheitsabstand von zwei Metern zwischen stehenden Personen gefordert wird, dann müssen wir auch kohärent sein und schauen, welche Abstände zwischen sich bewegenden Personen als sicher angesehen werden können», sagt er.

Eine Studie der MIT-Physikerin Lydia Bourouiba, veröffentlicht bereits Ende März im Journal der American Medical Association (https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2763852), kommt zu dem Schluss, dass die landläufig empfohlenen Abstände nicht einmal bei stehenden Personen ausreichen könnten. Sie integrierte in ihre Studie ein Video, das in Zeitlupe demonstriert, wie eine Tröpfchenwolke nach einem heftigen Niesanfall sich auf bis zu acht Meter ausbreitet. Wie häufig in der Praxis derartige explosionsähnliche Nieser vorkommen und wie hoch die tatsächliche Infektionsgefahr ist, diskutierte Bourouiba nicht.

Was bedeuten diese Studien nun für den Sport? «Läufer und Velosportler sollten sich nebeneinander aufhalten und nicht hintereinander. Auch versetzt hintereinander ist man relativ sicher», sagt Blocken. Befindet sich vor dem Gesicht ausreichend Abstand, wäre man sogar vor den Niesanfällen, die Bourouiba hochauflösend fotografiert hat, weitgehend geschützt.

Und wenn es windet?

Welchen Einfluss Seitenwind, Rückenwind und Gegenwind auf die Ausbreitung der Tröpfchenwolken haben, haben die Aerodynamiker bisher nicht untersucht. Ebenso wenig die Effekte von Masken. «Das ist sehr kompliziert. Es gibt viele unterschiedliche Masken, und es hängt auch davon ab, wie man sie aufsetzt», sagt Blocken. Dass die Gefahr durch das Tragen von Masken reduziert werden kann, hält er aber für wahrscheinlich. Könnte das auch eine Massnahme für den Profisport sein, die Tour de France als Maskenrennen also? «Ich sage nicht Nein. Es kann tatsächlich helfen», meint Blocken.

Für die Alltagspraxis lässt sich aus den Untersuchungen ableiten: Auf die Vorteile des Laufens und Fahrens im Windschatten sollte man unbedingt verzichten.

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  1. April 2020

Rund um die Corona-Virus-Pandemie schiessen die Statistiken wie Pilze aus dem Boden. In UK hat man herausgefunden, dass in der jüdischen Gemeinschaft die Infektionsrate von Corona-Virus offenbar am höchsten ist. Warum ist dies so? Halten sich v.a. die Ultraorthodoxen Kreise nicht an die vorgeschriebenen Verhaltensvorgaben, oder was ist der Grund?

JEWISH TELEGRAPH AGENCY

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(JTA) — There are about 250,000 Jews in the United Kingdom. They account for only 0.3% of its population.

But the coronavirus has killed 44 known Jewish victims so far — about 2.5% of the total U.K. tally.

That means British Jews are overrepresented by a factor of eight in their country’s death toll from COVID-19.

The statistics are compiled, released and updated periodically by the Board of Deputies of British Jews, an umbrella group representing British Jewry. The stats are unique because they are the first centralized attempt anywhere in the world at measuring the Jewish death rate and comparing it to a national total.

The figures are raising concerns that British Jews are particularly at risk from the virus. They are also giving rise to multiple hypotheses to explain this reality, though none seem conclusive.

Here are the theories and why they are difficult to prove at this point in the pandemic’s spread.

It’s early 

While Jews do seem to be overrepresented in the national death tally, “the numbers of Jewish deaths being reported so far are, statistically, very small – too small to draw any firm conclusions,” wrote Jonathan Boyd, the executive director of the Institute for Jewish Policy Research, or JPR, a group that researches the demographics of European Jewry, in a Jewish Chronicle op-ed published Monday.

Board of Deputies President Marie van der Zyl told the Jewish Telegraphic Agency about her organization’s monitoring of Jewish fatalities.

“While the figures are worrying, the current sample size is far too small to rule out variance and we cannot use them to come to any definitive conclusions,” she said.

But Boyd added that he “wouldn’t be surprised to see elevated counts among Jews.” More on that below.

The haredi Orthodox 

Reports of failures to observe social distancing protocols at some haredi Orthodox synagogues and institutions have raised concerns about the spread of the virus among that specific denomination.

“People are touching the same surfaces, the same siddurim,” or prayer books, a health worker told The Jewish Chronicle last week about the heavily haredi London neighborhood of Stamford Hill. “I believe the community is susceptible to the virus because they are so close knit.”

Separately, 20 British Jewish physicians, none of them haredi, also singled out haredim in a pamphlet circulated in Stamford Hill a couple of weeks ago urging them to heed social distancing guidelines.

“You are fully responsible for deaths that occur as a result of ignoring this advice,” the physicians wrote.

Their concern echoed similar warnings in other places with large haredi minorities, including Israel, the United States and Belgium.

But Herschel Gluck, a haredi rabbi and head of London’s Shomrim Jewish security force, argued that “the facts don’t support this hypothesis.”

The disease has claimed several haredi Jews, including Zeev Willy Stern and Uri Ashkenazi. But other victims have included four members of the Modern Orthodox Spanish and Portuguese community in London and two from the Reform community, including a rabbi.

Rabbi Alexander Goldberg, the Jewish chaplain at the University of Surrey near London, agrees with Gluck and he is not haredi. Goldberg believes he contracted and recovered from the virus, although medical authorities did not want to test him when he reported symptoms.

“Among Jews, this disease doesn’t seem to be confined to the haredi population. All sorts of Jews seem to have it,” Goldberg said.

The mobility factor

To Goldberg, a former community issues director at the Board of Deputies, “the one thing that the Jews who caught the coronavirus do have in common is that they belong to a group with a high level of mobility.”

Haredi families from Britain travel frequently to visit family in Israel, Belgium, New York and beyond, as do Jewish businessmen regardless of their denomination. 

Boyd concurs that mobility may be playing a role. Among Jews of all denominations, “many work in the center of town, travelling in daily by tube, and are very much in the thick of things,” he wrote.

“Collectively, we are wealthier and better educated than average, which also means that we are more likely to travel abroad – another way in which we might have been more likely than others to have picked up the infection early on.”

But Gluck has his doubts.

“The tube had many commuters, the trains were packed,” he said of the London underground and national railway, which operated at full capacity until as recently as March 25, when the United Kingdom introduced a national lockdown (it came more than a week after France had taken the same measure.) 

London is home to a number of immigrant groups, including more than 800,000 Poles and 600,000 Italians, who travel back to their countries of origin frequently on low-cost flights. 

“It doesn’t stand to reason that Jews would be more exposed because of travel,” Gluck said.

Age and city lifeJews are older than the general population and concentrated in London — the city that has seen the most coronavirus cases of any region in the U.K., and is believed to be several weeks ahead of the rest of the country.

“A London effect may partially explain higher counts” among Jews, Boyd wrote, referencing the fact that 60% of all British Jews live in or around the capital. “The city is an ideal place for a virus to spread, and like New York City in the United States, it is at the vanguard of the epidemic in this country.”

British Jews, Boyd added, are old — “21% are aged 65 and above, compared to 16.4% of the population as a whole, and given that the virus is more virulent among the old than the young, Jews may be disproportionately affected.”

But, he added, Jews are also healthier than average — 5% have bad or very bad health compared to a national average of 5.6%.

That may sound like splitting hairs, but it’s “not an insignificant difference, particularly bearing in mind our age profile,” Boyd wrote.

“[I]t’s due both to cultural factors and our socioeconomic status, both of which have commonly protected us against ill-health,” he continued.

Purim and community life

Boyd and several other commentators have noted the proximity of the Jewish holiday of Purim, which fell on March 9, to the outbreak of the coronavirus in Europe.

At St. John’s Wood Synagogue in London, with 1,300 seats one of the city’s largest Jewish places of worship, a rabbi contracted the virus shortly after returning from a Purim celebration in Morocco. He spent many hours interacting with dozens of congregants before he developed symptoms and self-quarantined.

Festivals like Purim “bring even more people together than usual,” helping the virus spread, Boyd wrote.

More broadly, there may be “something about the way in which Jews organize their lives that might inadvertently cause the virus to spread between us,” he added. A quarter of Jewish adults attend synagogue most weeks, whereas the equivalent proportion for church attendance among British Christians is about 10%, Boyd noted.

“These are all perfect environments for a virus to multiply,” he wrote. “So physical social interaction – typically the essential, even obligatory lubricant which underpins Jewish life – now poses a mortal threat.”

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First Person

The Netherlands is OK with citizens being exposed to the coronavirus. That’s both reassuring and terrifying to me.

 

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31. März 2020

Jüdische und nicht jüdische selbsternannte „Gutmenschen“ melden sich bezüglich der Bevölkerung des Gazastreifens rund um die Bedrohung des Coronan-Virus lauthals zu Wort: Israel sei verantwortlich, dass die Zivilbevölkerung im Gazastreifen rund um die Corona-Virus-Pandemie geschützt werden müsse! Und diese Verantwortung werde von Seiten Israels nicht wahrgenommen, so behaupten diese Kreise. Das stimmt nicht. Von diesen Kreisen höre ich aber dann andererseits überhaupt kein Wort über die wirkliche Verantwortung der Beherrscher im Gazastreifen! Das sind die Schergen der Hamas-Terrororganisation. Diese Fanatiker schicken übrigens gerade jetzt, während der Corona-Virus-Krise, täglich tödliche Raketen auf israelische Zivilisten. Da muss ich staunen, dass darüber weder von diesen „Gutmenschen“ noch generell von den Medien praktisch nichts berichtet wird.

Die israelische Botschaft informiert über die aktuellen israelischen Tätigkeiten zu Gunsten der Gaza-Bevölkerung.

 24.03.2020

Zusammenarbeit zwischen Israel und den Palästinensern im Kampf gegen das Coronavirus

Coronavirus unterscheidet weder zwischen Völkern noch zwischen Grenzen. Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde arbeiten eng zusammen und koordinieren politische Massnahmen, um die Ausbreitung des Coronavirus in Judäa und Samaria zu minimieren und seinen Ausbruch im Gazastreifen zu verhindern. Zur Koordinierung der Aktivitäten zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde ein gemeinsamer Arbeitsraum eingerichtet. Israel unterstützt die Palästinensische Autonomiebehörde durch die Bereitstellung wichtiger Coronavirus-Hilfsgüter, einschliesslich Schutzkits (wie Masken und Anzüge), Testkits und Schulungsworkshops für palästinensische medizinische Teams. Im Rahmen der Zusammenarbeit haben Israel und Jordanien der Palästinensischen Autonomiebehörde über tausend Abstriche, Masken und Tests geliefert. Darüber hinaus wurden weitere medizinische Geräte, Schutz- und Hygieneausrüstungen an die medizinischen Teams und Krankenwagen übergeben.  Die Palästinenser entschieden sich dafür, alle Grenzübergänge im Gazastreifen zu schliessen, einschliesslich des Grenzübergangs Rafah zu Ägypten. Nur in schweren humanitären Fällen gestatten sie die Ein- oder Ausreise. Die Palästinenser haben auch jeden, der in den Gazastreifen einreist, angewiesen, sofort nach der Ankunft 14 Tage lang Quarantäne zu Hause zu halten. Die Handelsübergänge nach Gaza bleiben für den Transfer von Waren und Hilfe offen. In der vergangenen Woche sind 206 Tonnen medizinische Hilfsgüter, 12 Tonnen Lebensmittel und 50 Tonnen Baumaterial in den Gazastreifen gelangt. Abstriche und Schutzausrüstungen wurden von palästinensischen Händlern, die privat gekauft haben, nach Gaza gebracht, und am Übergang Erez wurden Schulungen für medizinische Teams durchgeführt. Mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation wurden Testkits nach Gaza eingeführt. Es gibt zwei Labors in Gaza, in denen das Virus getestet wird. Israel ist bereit, bei den Laboruntersuchungen zu helfen, und wird dies in Abstimmung mit der PA und der WHO tun. Die Koordination mit dem Gazastreifen erfolgt zwischen dem palästinensischen Gesundheitsministerium und der Weltgesundheitsorganisation.

Zusätzliche Details zur israelischen Hilfe: In den letzten Tagen hat Israel etwa 1000 Schutzsets und 100 Liter Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis an die Palästinensische Autonomiebehörde in Judäa und Samaria geliefert. Israel hat den Gazastreifen mit Hunderten von Test- und Schutzausrüstungen (einschliesslich Masken und Anzüge) sowie mit Workshops für die Ausbildung seiner medizinischen Teams (einschliesslich des Transports von Teams aus dem Gazastreifen zur Ausbildung in Israel) versorgt.

30. März 2020

Überall, querbeet durch die Religionen, aber v.a. in fundamentalistischen Kreisen, wird nun die Corona-Virus-Pandemie für das Ausleben von virulentem Antisemitismus missbraucht. Das Beispiel eines protestantischen Pastors zeigt dies drastisch. Solche Ideen gehörten eigentlich ins dunkelste Mittelalter.

Conservative pastor says spread of coronavirus in synagogues is punishment from God

March 29, 2020 2:21 pm JEWISH TELEGRAPH AGENCY

Rick Wiles, a Florida pastor known for his anti-Semitic conspiracy theories, is the founder of TruNews. (Screenshot from Vimeo)

(JTA) — Rick Wiles, the Florida pastor who claimed that the effort to impeach President Trump was a “Jew coup,” said the spread of coronavirus in synagogues is a punishment of the Jewish people for opposing Jesus.

Wiles made the claim Wednesday on his TruNews broadcast.

“The people who are going in to the synagogue are coming out of the synagogue with the virus,” Wiles said. “It’s spreading in Israel through the synagogues. God is spreading it in your synagogues! You are under judgment because you oppose his son, Jesus Christ. That is why you have a plague in your synagogues. Repent and believe on the name of Jesus Christ, and the plague will stop.”

Wiles also claimed that the U.S. outbreak started at the American Israel Public Affairs Committee policy conference in Washington, D.C., in early March. In fact, the first case and the first outbreak were both reported in Washington state.

In November, Wiles called the impeachment effort a “Jew coup,” and said that Jews will also “kill millions of Christians.” Wiles’ TruNews website regularly releases anti-Semitic, Islamophobic and homophobic videos.

In February, TruNews was permanently banned from YouTube, but it continues to receive media credentials from the White House.

By Marcy Oster 

30. März 2020

Der Corona-Virus wütet weltweit. Tausende von Opfern sind bisher zu beklagen. Besonders hart schlägt diese Pandemie in den USA zu. Ein Bericht von TACHLES über die Situation in New York: Covid-19 29. Mär 2020

Augenzeugen-Berichte vom «Hotspot» New York, TACHLES berichtet:

 

Manhattan menschenleer am Sonntagnachmittag. 

Bewohner der Metropole berichten über ihren Alltag unter der seit 22. März geltenden, weitgehenden Ausgangssperre in New York City. Darunter sind ein Zuwanderer aus Zürich, eine chinesische Familie, prominente Mode-Designer und eine Gesundheits-Reporterin bei ABC News.

Bis zu 200'000 Amerikaner könnten an Covid-19 sterben. Dies hat am Sonntagvormittag Dr. Anthony Fauci am US-Fernsehen erklärt. Der prominente Epidemologe gehört dem Team der US-Regierung zur Bekämpfung des Virus an. So stehen die schlimmsten Tage der Epidemie Amerika erst noch bevor (Link). Praktisch gesehen, rechnen Experten wie Dr. Fauci mit einer Ausbreitung von Covid-19 von bisherigen Brennpunkten auf das ganze Land. Momentan nehmen die Erkrankungen um 20 Prozent täglich zu. Sonntagmittag lag die Zahl bei 125.000 und über 2000 Todesfällen. Die USA haben bei den Fällen China um 50 Prozent übertroffen.
Dabei sind New York City und Region momentan der absolute «Hotspot». Hier ist der Grossteil der rund 55.000 Erkrankten im Gliedstaat New York zuhause. Fast 700 Menschen in der City sind Covid-19 zum Opfer gefallen. New York hat aber auch mit dem Demokraten Andrew Cuomo einen Gouverneur, der die von Covid-19 drohende Gefahr frühzeitig erkannt hat und als Modell an Tatkraft erscheint. Dennoch droht speziell New York City von der Pandemie überwältigt zu werden. In Spitälern sind die Intensivstationen bereits überbelegt. Wie überall im Land fehlt es dank der konfusen Reaktion der Trump-Regierung in Washington von Test-Geräten über Gesichtsmasken und Schutzkittel bis hin zu Atemgeräten an notwendigsten Mitteln zur Bekämpfung von Covid-19. An etlichen Spitälern sind bereits die Leichenkammern überfüllt von Virus-Opfern. Seit Mittwoch nehmen Gefrier-Laster die weiterhin dramatisch steigende Zahl der Verstorbenen auf. Wie sieht das Leben in dem Virus-Hotspot aus? Wir haben mit New Yorkern gesprochen, die seit über zehn Tagen unter einer Ausgangssperre leben, die Wirtschaft und Handel weitgehend stillgelegt hat. Die acht Millionen Bewohner haben sich weitgehend in ihre Wohnungen zurück gezogen und üben «social distancing».

Sonja Rubin und Kip Chapelle, Mode-Designer
Sonja Rubin und Kip Chapelle leben an der 8. Avenue im Stadtteil Chelsea im Südwesten von Manhattan unweit der «High Line». Dort liegt das Studio des international bekannten Designer-Paars. Das Quartier ist ansonsten ein Magnet für Besucher aus der ganzen Welt. Aber nun herrscht auf der 8th Avenue eine gespenstische Stille. Rubin sagt: «Wir haben vor zehn Tagen unser Studio und die Boutique im kalifornischen Malibu geschlossen. Wir gehen alle paar Tage zum Einkaufen von Nahrungsmitteln aus und ich laufe jeden Morgen hinüber an den Hudson und jogge hinunter zum Battery Park. Aber es sind nur wenig Leute unterwegs. Jeder hält Distanz. Jogger, die ich seit vielen Jahren kenne, halten nicht mehr an. Vor wenigen Wochen hätten wir einander noch freundlich in den Arm genommen. Es fällt schwer, das nicht mehr zu tun. Aber wir gehen einander aus dem Weg.»
Chappelle: «Ja, wir nehmen das social distancing sehr ernst. Nach und nach geht uns auf, wie lebensgefährlich die Epidemie wirklich ist. Ich habe zwar schon die ersten Nachrichten dazu aus China im Januar ernstgenommen. Aber selbst als die Erkrankungen in Iran und Europa begannen, war Covid-19 noch weit weg. Jetzt ist der Virus hier und jeden Tag sieht die Lage anders aus. Wir versuchen uns so gut als möglich anzupassen.» Chappelle ist dankbar für die strikten Auflagen von Stadtpräsident Bill de Blasio und Gouverneur Andrew Cuomo: «Ohne extreme Massnahmen würden wir eine furchtbare Katastrophe erleben!» Allerdings hat er deutlich früher auf die ersten Nachrichten über den Virus reagiert, als die meisten Amerikaner. Chapelles Vater in Dayton, Ohio, benötigt Dialyse. Chapelle hat deshalb bereits im Januar einen Vorrat von Gesichtsmasken für ihn gekauft.
War Chapelle zunächst mit praktischen Fragen und der Sorge über die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems beschäftigt, denkt er in den eigenen vier Wänden über die Zukunft nach: «Keiner von uns hat je eine solche Krise erlebt. Die Epidemie stellt jeden Aspekt unseres Lebens langfristig zur Disposition: unsere Jobs, das soziale Miteinander, Sportveranstaltungen oder auch nur der Betrieb der U-Bahn. Wie wird unsere Zukunft aussehen? Für dieses Jahr haben wir uns jedenfalls von sämtlichen Plänen verabschiedet.» Beide treten inzwischen mit dem Medien-Konsum kürzer. Da werde soviel Desinformation gestreut: «Das macht die Leute erst richtig panisch», sagt Chapelle.
Dabei sind beide gesund und verbringen viel Zeit auf FaceTime und Social Media im Kontakt mit Verwandten und Freunden. Das Paar verfügt über Reserven genug, die fünf Angestellten im Studio und der Boutique noch weiter zu bezahlen. Aber auch das ist eine täglich neue Kalkulation. Chapelle erwartet, dass Banken längerfristig zurückhaltend auf die Krise reagieren werden und lieber dem Staat die Initiative bei Krediten zu überlassen, als selbst Risiken einzugehen.
Auch Rubin spricht über die Schwierigkeit, die totale Veränderung des Alltags gedanklich zu verarbeiten, die so rasch über Amerika hereingebrochen ist. Sie waren noch Anfang Februar Skifahren in den Dolomiten und nahmen dann an einer Museums-Eröffnung in Wien teil, wo ihre Design ausgestellt worden sind. Nun ist sie dankbar, dass der Supermarkt «Whole Foods» Kunden nurmehr einzeln ins Geschäft lässt und dort Angestellte auf den Abstand von sechs Fuss oder knapp zwei Metern zwischen Kunden achten: «Zum Glück sind die Panikkäufe der ersten März-Wochen abgeklungen!» Schwer verständlich findet Rubin, dass ihr eine Freundin in Köln erzählt hat, sie sei gerade beim Zahnarzt gewesen: «Das ist hier unvorstellbar. Hier geht Niemand mehr freiwillig in die U-Bahn. Mein Zahnarzt hat schon vor zwei Wochen einen Termin abgesagt.» Auch Friseure sind schon länger dicht.
Humor hat das Paar indes nicht verloren. Rubin erwartet, dass am Ende der Epidemie die langen Haartrachten der 1970er zurück gekehrt sein werden. Und sie zitiert einen Freund, der seine Zeit mit dem Kochen von Rezepten aus der «New York Times» und anschliessend einer guten Flasche Wein verbringt: «Wenn du die Epidemie überlebst, bist du entweder ein Meisterkoch – oder ein Alkoholiker.»

Anita Lei und ihre Familie
Menschenleer ist es auch in Midtown Manhattan. Hier führt Anita Lei seit vielen Jahren im «Garment District» nördlich der 34. Strasse eine Schneiderei. Inzwischen hat der Vermieter das Gebäude geschlossen. Miete muss Lei jedoch weiter zahlen. Und wie ihr Mann, der ein kleines Dim Sum-Lokal betreibt, war sie gezwungen die Angestellten entlassen: «Aber die bekommen jetzt staatliche Hilfen». Das Paar hat sich mit Leis Eltern in das Haus der Familie in Brooklyn zurückgezogen. Dorthin sind auch die beiden Söhne heimgekehrt, nachdem ihre Universitäten geschlossen haben. Brendan, der Ältere, sagt im Telefon-Interview: «Hier ist Jedermann enorm angespannt. Die Menschen haben Angst vor dem Virus. Da bleibt man schon freiwillig zuhause. Es gibt draussen auch Nichts zu tun – von Lebensmittelgeschäften abgesehen, sind praktisch sämtliche Läden geschlossen.» Die Leis haben sich rechtzeitig mit Essen eingedeckt. Nun unternehmen sie alle zwei, drei Tage eine schnelle Expedition dafür in einen Supermarkt.
Brendan sagt, es sei schon etwas eng mit drei Generationen und sechs Personen unter einem Dach. Aber er und sein Bruder würden die Zeit mit Online-Unterricht verbringen, den die meisten Unis und viele Schulen inzwischen eingerichtet haben: «Daneben sitzen wir am Computer beim Gaming – so wie früher.» Wie die meisten Amerikaner halten die Leis über FaceTime oder Social Media Kontakt mit Freunden und Verwandten. Die Mutter arbeitet weiter an der Nähmaschine: «Und wir spielen zusammen Mahjong.»
Die Leis sind sparsam und haben Rücklagen, um noch etwas länger durchzuhalten. Aber neben der Sorge um den Virus macht ihnen der von Konservativen geschürte Hass auf Asiaten zu schaffen. Brendan sagt: «Das ist schon ziemlich schlimm. Weil die Epidemie in China ausgebrochen ist, wird das jetzt `Chinesischer Virus´ genannt.» Dabei sei das doch ein Problem, das die ganze Welt betreffe. In New York gäbe es zwar keine offenen Attacken auf Asiaten: «Die Leute hier sind das Leben in einer diversen Metropole gewöhnt. Aber wenn man sich schon leicht räuspert, gibt es giftige Blicke. Menschen wenden sich ab und halten die Hand vors Gesicht.» Jedenfalls sei die Epidemie nicht wie 9-11. Die Tragödie habe die New Yorker enger zusammen gebracht, Fremde hätten einander mit einer neuen Freundschaftlichkeit behandelt: «Covid-19 bringt dagegen Furcht, Misstrauen und Unsicherheit unter das Volk. Das ist besonders schlimm im Internet. Aber selbst Kommilitonen gehen zu mir auf Distanz, weil ich Chinese bin», sagt Brendan. Aber die Familie kann sich nicht vorstellen, New York zukünftig zu verlassen. Anita Lei setzt hinzu, die chinesische Regierung habe die Epidemie durch rasches und entschlossenes Durchgreifen sehr viel schneller unter Kontrolle gebracht, als die USA. Hierzulande gehe immer noch die Legende um, für jüngere Menschen sei der Virus ungefährlich: «Dabei liegen hier auch viele 20- bis 40-Jährige auf Intensiv-Stationen.»

Markus Huemer, Zürcher in New York
Markus Huemer erlebt die Epidemie anders. Der gebürtige Zürcher sagt: «Man muss aufpassen, dass man nicht panisch ist. Das ist noch gefährlicher als die Epidemie.» Die Panik komme von überall her, vor allem aber von den sensationelle Berichterstattung fixierten Medien in Amerika. Der Lehrer an der renommierten «Parsons School of Design» in Manhattan hat seinen Medienkonsum deshalb drastisch reduziert: «Die Berichterstattung hier ist grässlich. Wenn ich mit Studenten telefoniere, höre ich unheimlich viel Misinformation, die sie aus den Medien aufgesogen haben.» Huemer kritisiert, dass gleichzeitig viel zu wenig etwa über die Schliessung der Stabsabteilung für die Bekämpfung von Epidemien im Nationalen Sicherheit durch die Trump-Regierung vor zwei Jahren berichtet werde.
Er schaltet aber jeden Vormittag zu, wenn Gouverneur Andrew Cuomo seine Pressekonferenz gibt: «Der gibt als Einziger klare Informationen über die Lage hier. Darauf kann man sich stützen. Er drückt sich nicht kompliziert aus und wirkt vertrauenswürdig. Ich nehme ihm ab, dass er solidarisch mit uns Bürgern, den Helfern und dem medizinischen Personal ist, dass gegen den Virus kämpft. Ich hätte das nie gedacht. Ich war nie ein Fan von Cuomo. Er hat immer etwas arrogant gewirkt und fast gelangweilt. Aber jetzt zeigt er sein Format bei dieser enormen Herausforderung. Cuomo ist jetzt eigentlich unser Präsident.» Innerlich panisch sei er aber nicht, sagt Huemer. Ihn sorgt nur, den neuen Erwartungen an ihn im Beruf gerecht zu werden: «Wir stellen momentan den gesamten Lehrbetrieb auf «Zoom» um. Das ist recht kompliziert und mir liegt der persönliche Unterricht mehr.» Im Gegensatz zu den Leis fühlt sich Huemer heute an die Tage nach 9-11 erinnert: «Die Nachbarn hier in unserem grossen Apartment-Komplex in Long Island City im Stadtteil Queens sind jetzt extrem nett – wenn auch natürlich aus der jetzt vorgeschriebenen Distanz heraus.» Die Hausverwaltung sei exemplarisch: «Die putzen die Wohnanlage mit hunderten Apartments unentwegt von unten bis oben.» Neben freundlichen Gesten und Gesichtern in der näheren Umgebung ist Huemer für die Disziplin dankbar, mit der New Yorker jetzt generell die neuen Regeln beachten und auf Abstand halten: «Das ist sehr beruhigend. Ich hoffe nur, dass es dabei bleibt und keine Massen-Panik einsetzt. Dann müssen die Behörden wohl eine totale Ausgangssperre verhängen». Froh ist er auch, dass er mit seinem Partner Jorge zusammenlebt, einem für Justizbehörden landesweit tätigen Rechtsexperten: «Alleine kann ich mir die jetzige Situation nicht vorstellen. Wir sind sehr vorsichtig und gehen nur alle paar Tage zum Essen kaufen. Dabei wechseln wir uns ab. In den Läden geht es jetzt nicht mehr so panisch zu, wie vor acht Tagen. Und die haben Leute, die auf die Distanz zwischen den Käufern achten. Auch auf der Strasse gehen Alle einander aus dem Weg. Das sehe ich täglich beim Joggen. Aber viele Leute sind nicht mehr unterwegs. Und wir haben auch Glück, dass wir hier im siebten Stock einen Balkon haben. Sobald die Sonne herauskommt, setze ich mich hinaus, tanke Vitamine und schaue den Singvögeln an unserer Futterkrippe zu.» Aber viel Zeit verbringt er am Computer. Nicht allein bei der Arbeit, sondern auch beim Skypen oder Texten mit Freunden und Verwandten. Seine Schwester in der Schweiz ruft Huemer alle zwei Tage an: «Jorge arbeitet jede Nacht mindestens bis 22 Uhr. Seine Arbeitstage könnten dreimal so lange sein. Die Tage verfliegen schneller als je. Das hat sicher mit der Nervosität zu tun. Dabei versuche ich, Multi Tasking zu vermeiden. Ich will mich nicht ablenken zu lassen und konzentriert bleiben.»

Susan Schwartz, Gesundheitsreporterin bei ABC News
Susan Schwartz hat die Katastrophe kommen sehen. Die Journalistin hat an der Yale University öffentliche Gesundheit studiert und arbeitet seit Jahrzehnten bei der populären Nachrichtensendung «World News Tonight» auf dem Sender ABC. Wir erreichen sie Donnerstag nach Feierabend gegen 22 Uhr auf dem Heimweg von ihrem Studio nahe dem Lincoln Center an der 66. Strasse an ihre Wohnung an der Upper East Side: «Es ist schon unheimlich. Die Stadt ist so leer. Immerhin kann ich jetzt auf der Strasse laufen, da ist das Licht besser. Die halbe Stunde Fussmarsch tut meinen Nerven gut.» Schwartz hat im Januar rasch auf die ersten Meldungen aus Wuhan reagiert: «Mir wurde klar, dass da auch auf Amerika eine ganz neue Bedrohung zukommen wird. Wir haben dann viele Experten interviewt und das Thema in die Öffentlichkeit gebracht. Aber um wirklich etwas gegen Covid-19 zu erreichen, braucht es politische Führungskraft.»
Die sieht Schwartz bei dem New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo: «Der verkörpert das Beste an uns New Yorkern: Er ist hart, direkt, hellwach, aggressiv und zeigt Stärke. Aber das Weisse Haus unterstützt Gouverneure wie ihn immer noch viel zu wenig. Dazu kommt die enorme Bevölkerungsdichte in der City. So stösst auch Cuomo jetzt an seine Grenzen.» Schwartz mag daher keine Prognosen über den Verlauf der Epidemie stellen: «Ich habe nur gelernt, dass wir trotz einer imponierenden Flut neuer Studien viel zu wenig über Covid-19 wissen. Das fängt damit an, dass immer noch viel zu wenige Tests gemacht werden.» Die Epidemie sei schneller gerade über New York herein gebrochen, als von Experten erwartet: «Da bleibt nur, energisch am Ball und beweglich zu bleiben.» Sie bewundert deshalb auch die Flexibilität, die sie allerorten in der City sieht: «So haben sich die Stände am `Farmers Market´ bei uns nahe der Columbia University an der Upper West Side schnell angepasst und verkaufen nurmehr fertig abgepackte Tüten mit Obst oder Gemüse – Niemand kann die Waren mehr anfassen und bezahlt wird strikt ohne Cash.»
Ihr eigenes Leben hat sich jedenfalls radikal verändert. Ihr Mann und einer zwei der erwachsenen Söhne sind in den Bungalow ihrer verstorbenen Eltern in New London, Connecticut, gezogen und arbeiten von dort aus Online. Schwartz vermisst die Familie. Auch die Redaktion von ABC News arbeitet weitgehend auf Distanz: «Aber ich gehe drei, vier Tage die Woche in unser Studio, um mit meinem leitenden Redakteur über Bild- und Video-Material zu entscheiden und Beiträge zu schneiden.» Die Redaktion habe sich frühzeitig auf Covid-19 eingestellt, sagt Schwartz: «Wir hatten trotzdem schon ein paar Fälle – aber die waren glücklicherweise leicht.»
Wie unsere anderen Gesprächspartner ist die Journalistin froh über die Disziplin, mit der New Yorker generell auf das «social distancing» achten: «Das gilt sogar für die Obdachlosen, die jetzt viel sichtbarer in der Öffentlichkeit sind.» Aber gerade hier sieht Schwartz auch einen tragischen Unterschied zu den Tagen nach 9-11: «Auch heute sind New Yorker angefangen von den Handwerkern in unserem Apartmenthaus oder Laden-Verkäufern so freundlich und hilfsbereit. Sie haben auch früh mit dem Tragen von Gesichtsmasken begonnen. Aber nach den Attacken auf das World Trade Center fanden wir hier den grössten Trost in der menschlichen Nähe. Heute verbietet uns diese unheimliche Gefahr, dass wir einander nahe kommen und in die Arme nehmen.» Andreas Mink

MONTAG, 30. MÄRZ 2020

07.00 Uhr 
Dramatische Zeugenberichte aus London
Die Redaktion erreichen dramatische Berichte von Zeugen und Korrespondenten aus verschiedenen Teilen der Welt. Dramatisch ist im Moment die Situation in England. Nachdem die Regierung von Premier Boris Johnson die Situation rund um das Coronavirus negierte, schlägt die Epidemie im ohnehin desolaten Gesundheitssystem von England gandenlos zu. So auch in der jüdischen Gemeinde von London. Täglich werden dort Tote in Absenz der Familien beerdigt. Eine seit 20 Jahren in London lebende Schweizerin berichtet gegenüber tachles: «Leider ist in England die Situation rund um Corona momentan schrecklich. Praktisch jede jüdische Familie bei uns in London hat den Virus. Jeden, den wir kennen, hat in der Familie jemanden. Leider sind letzte Woche schon die Väter von zwei Freundinnen gestorben, zwei gute Freundinnen. Sie konnten die sterbenden Väter nicht mehr besuchen und nur noch per Video verabschieden. Sie mussten die ganze Beerdigung auf dem Internet mitverfolgen. Es ist hier schrecklich, die Intensivstationen sind überfüllt, die Menschen warten im Warteraum, mit Kranken, nicht Kranken mit dem Virus. Es ist eine Riesenwelle im Gang, und es ist wirklich, wirklich schlimm. Jeden Tag warten wir auf schlechte Neuigkeiten von jemand anderem, der wieder gestorben oder im Spital ist.» Andere berichten darüber, dass sich weite Teile der orthodox-jüdischen Bevölkerung kaum oder gar nicht um die Minimalvorgaben von Trennung der Bevölkerung halten. Gebete in Gemeinschaft und andere Versammlungen finden statt. Die Schulen waren noch bis letzte Woche geöffnet.«Die Charedim scheren sich einen Deut um alles. Die neuen Hygienevorschriften werden nicht eingehalten. Die meisten Koschergeschäfte bergen Ansammlungen von Menschen», sagt der praktizierende Jude aus London gegenüber tachles online. Gemäss einem Arzt in London sei die Zahl von Infizierten überproportional hoch unter der jüdischen und darunter der charedischen Bevölkerung. Bereits vorige Woche berichtete tachles online über Problemen mit dem Versammlungsverbot in Zürichs orthodoxen Gemeinden. Die Kantonspolizei intervenierte. In Gruppen sozialer Medien debattierten orthodoxe Mitglieder der jüdischen Gemeinde über anti-charedische Berichterstattung. Inzwischen allerdings haben die Rabbiner orthodoxer jüdischer Gemeinden ihre Mitglieder nochmals aufgerufen, Vorgaben von Behörden zu respektieren und strikte einzuhalten. Gemäss Recherchen von tachles finden immer noch gemeinsame Gebete statt. TACHLES Redaktion  

26. März 2020

Die Corona-Virus-Pandemie breitet sich weiter aus – weltweit. Auf den (Schweizer) Strassen sieht man von Tag zu Tag weniger Autos und Menschen. Man hört, dass die Bevölkerung sich mehr und mehr an die Verhaltensvorschriften des BAG halten würden. – Ich persönlich erlebe hingegen in meinem kleinen Umfeld auch Negatives. Regelmässig gehe ich meiner Frau im nahen Wald spazieren. Das tut gut und wird zudem auch empfohlen. Auf diesen Waldstrassen begegnen wir von Zeit zu Zeit (jungen) Joggern, die jeweils zu zweit die ganze Strasse für sich beanspruchen. Wenn ich in solchen Fällen darum bitte, doch auf Abstand zu achten, erlebe ich nicht selten sehr abschätzige Reaktionen: „Leute wie du, gehören zu Hause eingesperrt!“, „Ich mache, was ich will…“ usw.  Ich empfinde solche bizarren Bemerkungen als nichts anderes, als Diskriminierung der „älteren Generation“. Viele stellen sich natürlich die Frage, ob dieser Coronavirus tatsächlich nur für die Senioren über 65 Jahren bedrohlich und nicht auch für jüngere Menschen. Die Süddeutsche Zeitung geht dieser Frage nach.

 

 

Coronavirus: Für wen Covid-19 besonders bedrohlich ist

Von Werner Bartens

vor 1 Std.

• Für Raucher gäbe es wohl keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um ihr Laster aufzugeben. Denn bei einer vorgeschädigten Lunge können Viren wie Sars-CoV-2 leichter eindringen.

• Auch Patienten mit Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Lungenleiden und eingeschränkter Immunantwort wie etwa Krebspatienten sind besonders anfällig.

• Für den Verlauf der Krankheit Covid-19 ist das biologische Alter entscheidend. Daher sollte man sich weiterhin fit halten und bewegen.

Für wen Covid-19 besonders bedrohlich ist

Früher sprachen Ärzte wie Laien davon, dass Patienten chronische Leiden hatten oder schlicht krank waren. Nun aber ist der Begriff "Vorerkrankungen" zum geflügelten Wort geworden. Damit sind jene Krankheiten oder Beeinträchtigungen gemeint, von denen Menschen schon geplagt wurden, bevor die Welt lernen musste, wie man das Wort Coronavirus ausspricht.

Während es viele Gesunde beruhigt, wenn es heißt, dass schwere Verläufe oder gar Todesfälle durch das neuartige Coronavirus hauptsächlich Menschen mit Vorerkrankungen betreffen, fragen sich chronisch Kranke, was dies für sie bedeutet. Schließlich sind chronische Rückenschmerzen, ein Leberschaden und Neurodermitis auch Vorerkrankungen. Nach bisherigen Auswertungen der Covid-19-Krankheitsfälle zeigt sich aber, dass es Erkrankungen und Lebensumstände gibt, die mit einem deutlich höheren Risiko für einen schweren Verlauf einhergehen als andere.

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So gäbe es für Raucher wohl keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um ihr Laster aufzugeben. Denn Raucher fügen ihrer Lunge schweren Schaden zu. Zellen sterben ab, Gewebe vernarbt, Flüssigkeit sammelt sich an, es kommt zur dauerhaften Entzündung. Zudem bleibt die Wand der Zellen in den Lungenbläschen nicht so lange stabil wie bei Nichtrauchern - Viren wie Sars-CoV-2 können leichter eindringen. Forscher vermuten zudem, dass Hypoxie, also die lokale Unterversorgung mit Sauerstoff, die Bildung von ACE2-Rezeptoren an der Oberfläche von Lungenzellen anregt. Diese Andockstellen gelten als Eintrittspforten für das neuartige Coronavirus - Raucher machen ihnen gleichsam die Tür auf.

Auch Patienten mit Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Lungenleiden und eingeschränkter Immunantwort wie etwa Krebspatienten sind besonders gefährdet. Den genannten Krankheiten ist gemeinsam, dass sie im Alter häufiger vorkommen. Darum ist nicht immer klar, was mehr zur ungünstigen Prognose beiträgt; die mit den Jahren schwindenden Widerstandskräfte oder Einschränkungen durch die Vorerkrankung. Spezifische Gründe gibt es jedoch außerdem.

"Viele Tumor-Patienten sind durch die Krankheit geschwächt und ihre Abwehrkräfte oft schon in Mitleidenschaft gezogen", sagt Wolf-Dieter Ludwig, lange Jahre Chefarzt für Krebsmedizin in Berlin-Buch und zudem Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Das macht sie auch anfälliger für Infektionen." Ludwig hat in den vergangenen Tagen wiederholt darauf hingewiesen, dass chronisch Kranke auf keinen Fall ihre Medikamente absetzen sollten. Hinweise auf Wechselwirkungen mit dem neuartigen Coronavirus seien nicht belegt.

 

17. März 2020

Ein erster Höhepunkt rund um die gegenwärtige Corona-Pandemie-Krise ist erreicht: die Schweizer Regierung (Bundesrat) hat den entsprechenden  Notstand ausgerufen! Ich persönlich denke, dass die Folgen unglaubliche Ausmasse auf ökonomischer und sozialer Ebene haben werden!

 

Coronavirus – wie gehen wir mit den Einschränkungen um?

Nicolai Morawitz und Josua Widmer (auf Bluewin)

17.3.2020 - 00:00

Aus Sorge vor den Auswirkungen des Coronavirus zieht der Bund die Daumenschrauben an. Unser Alltag wird dadurch immer ungemütlicher. Und wie geht es Ihnen dabei?

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie kommt das öffentliche Leben fast zum Erliegen. Plötzlich müssen wir mit Einschränkungen klarkommen, die noch vor ein paar Tagen undenkbar gewesen wären. Mit «Social Distancing» fing es an, mittlerweile sind auch die Schulen geschlossen, der Kunst- und Gastro-Betrieb ist massiv eingeschränkt.

Wir wollten von den Menschen in Bern wissen: Wie gehen Sie ganz persönlich mit diesen Einschränkungen um, und wie verändern Sie ihren Alltag?

In unserem neuen Video-Format «Die Frage der Woche» stellen wir ab jetzt Woche für Woche die dringlichste Frage, die die Schweizer aktuell beschäftigt. Dabei beschränken wir uns nicht auf unseren Standort in Zürich, sondern fangen für Sie Meinungen aus der ganzen Schweiz ein.

Halten Sie sich an die Weisungen des Bundes?

Formularbeginn

Ja, aber ich finde die Weisungen zu wenig streng.

Ich befolge die Richtlinien des Bundes sehr exakt.

Ich halte mich nur an das, was ich sinnvoll finde.

Formularende

 

Notstand seit Mitternacht – «Ernstfall wird Milliarden kosten»

Agenturen/red/phi - 17.3.2020 - 08:40

Corona-Krise könnte Monate dauern

US-Präsident Donald Trump sagte, es könne aber auch anders kommen, wenn die Amerikaner die neuen Richtlinien befolgten.

17.03.2020

Um Mitternacht ist in der Schweiz der vom Bundesrat ausgerufene Notstand in Kraft getreten. Geschäfte und Lokale müssen geschlossen bleiben. An den Grenzen herrscht Einreiseverbot.

Die Ereignisse der letzten Stunden in Kürze

13. März 2020

Der CORONA VIRUS scheint die ganze Welt mehr und mehr zu beherrschen. Diese Pandemie ist Thema auf allen News-Seiten. Was ist das Neueste rund um die Corona-Pandemie? Wie steht es mit Hochrechnungen bezüglich Ansteckungen, wieviele Menschen, die das Corona-Virus tragen, müssen hospitalisiert werden? Wieviele müssen mit dem Tod rechnen? Diese Fragen können im Moment natürlich (noch) nicht genau beantwortet werden! Es gibt zu viele unbekannte Faktoren.

Ohne Gegenmassnahmen kommen auch die Schweizer Spitäler bei der Behandlung von Corona-Erkrankten schnell an ihre Grenzen

Eine Aufstellung zeigt, dass das Coronavirus zum Stresstest für das Schweizer Gesundheitssystem werden könnte. Die Spitäler verfügen über total 1500 Plätze in der Intensivpflege. Viel hängt davon ab, wie massiv die epidemische Welle sein wird.

NZZ Christof Forster, Bern 13.03.2020, 05.30 Uhr

Rund 5 Prozent der Corona-Patienten sind auf Intensivpflege angewiesen.  Ärzte ziehen ihre Schutzkleidung in der Isolationsabklärungsstation des Universitätsspitals Zürich an.

Karin Hofer / NZZ

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte diese Woche, solange kein Impfstoff und keine Therapiemöglichkeiten vorlägen, würden in Deutschland voraussichtlich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert. Daraus lässt sich ableiten, welche Belastungen auf die Gesundheitswesen der vom Coronavirus betroffenen Länder zukommen werden. In Norditalien sind die Spitäler überfordert. Weil der Andrang derart gross ist, können nicht mehr alle Schwerkranken angemessen gepflegt werden. Die Spitäler hatten wenig Zeit, um sich auf die rasche Zunahme an Erkrankten vorzubereiten.

Einige Zahlen zeigen, wofür sich die Schweizer Spitäler wappnen müssen. Hier geht es nicht um eine Prognose; jeder Wert ist nur eine Annahme. Die Aufstellung soll vielmehr eine Vorstellung über die Welle geben, die auf das Schweizer Gesundheitswesen zukommen könnte.

Über 215 000 Patienten auf der Intensivstation

Die Schätzungen über die Ansteckungsrate reichen von 20 bis 70 Prozent. Ein angenommener Wert von 50 Prozent würde bedeuten, dass in der Schweiz früher oder später über 4 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert werden. Die Erfahrungen in China zeigen, dass bei 80 Prozent der Infizierten die Krankheit mild bis moderat verläuft oder sie nicht einmal etwas merken. Bei 15 bis 20 Prozent ist der Verlauf ernsthafter. Vorsichtig gerechnet müssen 10 Prozent der Infizierten im Spital behandelt werden. Die Hälfte davon dürfte aufgrund des schweren Verlaufs auf die Intensivstation kommen. Das bedeutet, dass in diesem Szenario über 200 000 Patienten (5 Prozent von 4 Millionen) auf Intensivpflege angewiesen sein werden, um zu überleben. Um abzuschätzen, ob in der Schweiz dafür genügend Kapazitäten vorhanden sind, muss man die Verweildauer der Patienten auf der Intensivstation kennen. Erfahrungen zeigen, dass Patienten mit schweren Verläufen zwei Wochen oder länger Intensivpflege benötigen. In dieser Aufstellung wird vorsichtig mit einer Woche gerechnet. 

Nun sei angenommen, die Hälfte der Bevölkerung stecke sich gleichmässig innerhalb eines Jahres mit dem Coronavirus an. Dies wird in der Realität so nicht geschehen, denn Epidemien laufen in Wellen ab. Doch selbst unter dieser unrealistisch optimistischen Annahme wären über 4000 Betten auf Intensivstationen in Schweizer Spitälern notwendig, um die Patienten zu versorgen. 

Eine Pflegefachperson kümmert sich um ein bis zwei Patienten

Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) liefert aktuelle Zahlen zu den Kapazitäten. In der Schweiz gibt es 82 Intensivstationen. Dort stehen gegenwärtig total 1000 Betten zur Verfügung. Davon sind 850 mit Beatmungsgeräten ausgerüstet. Bei Covid-19-Patienten mit schweren Verläufen kommt es häufig zu Atemproblemen. An einigen Standorten könnten laut SGI die Kapazitäten aufgestockt werden. Es sei angenommen, dass kurzfristig kaum mehr als 30 Prozent Betten dazukommen. Das Potenzial ist beschränkt, weil es neben der Infrastruktur vor allem qualifiziertes Personal braucht. Auf der Intensivstation kümmern sich Pflegefachpersonen in der Regel um ein bis zwei Patienten. 

Neben den Intensivstationen verfügen Spitäler über insgesamt 450 Betten mit eingeschränkter Intensivpflege. Diese sind im Spitalalltag für jene Patienten gedacht, die nicht auf lebenserhaltende Massnahmen angewiesen sind, deren Zustand aber keine Verlegung auf die Allgemeinstation erlaubt. Der Einfachheit halber werden diese Betten hier der Intensivstation zugerechnet. Dies ergibt, inklusive der Aufstockung um 30 Prozent, rund 1750 verfügbare Betten mit Intensivpflege. 

Nicht alle Patienten könnten versorgt werden

Ein Teil davon wird jedoch durch Patienten belegt sein, die nach Unfällen oder aufgrund schwerer Erkrankungen Intensivpflege benötigen. Um Kapazitäten freizuschaufeln, verschieben die Spitäler Eingriffe, die nicht dringlich sind. Es scheint eine optimistische Annahme, dass dadurch die Hälfte der Betten (875) für Corona-Patienten frei werden. Doch auch dann bleibt eine grosse Lücke: Notwendig wären rund 4000 Betten. Mit der heutigen Infrastruktur könnte also höchstens ein Fünftel der Patienten mit schweren Verläufen versorgt werden. Mit einer Ansteckungsrate von 20 statt 50 Prozent wäre es immerhin die Hälfte der Patienten. Die Zahlen zeigen, wie wichtig es ist, die Zahl der Ansteckungen zu bremsen. 

Allerdings werden die geschätzten 4000 Patienten nicht gleichmässig auf die Spitäler zukommen. Weil die Pandemie wellenartig verläuft, wird auch der Zustrom der Erkrankten auf die Spitäler auf diese Art erfolgen. Deshalb betonen Epidemiologen unablässig, dass Massnahmen zur Eindämmung des Virus zentral seien. Der Basler Spitalhygieniker Andreas Widmer sagt im NZZ-Interview: «Wir müssen die Welle von Covid-19-Patienten brechen, sonst geraten wir in einen Tsunami.» Viel sei schon gewonnen, wenn die Ansteckungen langsamer und damit für die Spitäler besser verkraftbar seien. Sonst drohten Szenarien wie in Italien, wo Spitäler nicht mehr alle schwer erkrankten Patienten intensivmedizinisch betreuen können.

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Infektionsspezialist: «Wir müssen die Welle von Coronavirus-Infektionen brechen, sonst geraten wir in einen Tsunami»

 

Der Basler Infektionsspezialist und Spitalhygieniker Andreas Widmer warnt: Nur wenn sich jeder Einzelne an die vom Bund ausgegebenen Weisungen halte, werde das Schweizer Gesundheitssystem nicht zusammenbrechen.

Erich Aschwanden 12.03.2020

8. März 2020

Die CORONA-VIRUS Pandemie macht die ganze Welt «verrückt». News in den Printmedien, am Fernsehen, praktisch überall, werden von der Thematik «Corona-Virus» dominiert.

Rund um das Corona-Virus gibt es aber auch juristische Probleme, die auftauchen können. Der BEOBACHTER versucht einige davon zu beantworten:

Rechtliche Fragen zum Coronavirus

Darf der Chef meine Italienreise verbieten? Wer bezahlt meine stornierte Asienreise? Sollte ich Medikamente auf Vorrat kaufen? Wir klären auf.

 

Kommentare

Viele Unternehmen führen Massnahmen ein, um Angestellte vor einer Ansteckung zu schützen. 

 

Von Jasmine Helbling, Nicole Müller, Dana Martelli und Chantal Hebeisen
Veröffentlicht am 3. März 2020,
aktualisiert am 5. März 2020

Überblick: Rechtliche Fragen rund um das Corona-Virus

Mein Chef verlangt, dass ich bei der Arbeit eine Atemschutzmaske trage. Darf er mich dazu zwingen?

Ein Arbeitgeber muss die Gesundheit seiner Angestellten schützen und die Empfehlungen der Behörden umsetzen. Bisher hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) noch keine Massnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus angeordnet. Betriebe können deshalb selber entscheiden, welche Schutzmassnahmen sie treffen. Diese müssen allerdings verhältnismässig sein: Nicht in allen Betrieben sind Schutzmasken möglich oder nötig. Er kann Sie also nicht einfach so zwingen. 

 

Ich huste seit einigen Tagen, fühle mich sonst aber fit. Darf mich der Chef zur Ärztin schicken?

Nein, er kann Sie nicht zu einem Arzttermin zwingen. Er darf Ihnen aber verbieten zu arbeiten oder Sie ins Home Office Home-Office Tipps für das Büro zu Hause schicken, wenn das vertraglich so geregelt wurde oder wenn sie sich darauf einigen. Ihren Lohn muss er weiterhin bezahlen. Sie sollten sich jedoch vorsorglich auf das Coronavirus testen lassen.

 

Ich habe Angst, mich im Zug mit dem Coronavirus anzustecken. Darf ich im Home Office arbeiten?

Wenn Ihr Chef kein Home Office erlaubt, dürfen Sie aus Angst vor einer möglichen Ansteckung nicht zu Hause bleiben. Gerechtfertigt wäre das nur, wenn es unter den Arbeitskollegen einen konkreten Verdacht auf eine Corona-Ansteckung gibt. Dann dürfen Sie die Arbeit verweigern, bekommen aber trotzdem Lohn.

 

Ich habe Ferien in Thailand gebucht. Nach der Rückkehr soll ich wegen des Coronavirus zwei Wochen im Home Office arbeiten. Ich habe aber keine Möglichkeit dazu. Was jetzt?

Ein Arbeitgeber darf Home Office nur dann anordnen, wenn dieser Punkt im Arbeitsvertrag geregelt ist. Und wenn er Ihnen die Arbeit zu Hause ermöglichen kann. So muss er zum Beispiel einen Laptop zur Verfügung stellen, wenn Sie für die Büroarbeit keinen eigenen haben. Falls das nicht möglich ist oder Sie zu Hause kein Internet haben, muss der Arbeitgeber den Lohn zahlen – auch wenn Sie nicht arbeiten.

 

Meine Chefin will, dass ich für die Arbeit nach Italien reise. Kann ich mich wehren?

Wenn das Bundesamt für Gesundheit von einer Reise nach Italien abrät, weil das Risiko sich mit Corona anzustecken hoch ist, kann Ihre Chefin Sie nicht zwingen. Das widerspräche ihrer Fürsorgepflicht.

 

Geschäftsreisen, in von dem Coronavirus betroffene Länder, hat mein Arbeitgeber bereits gestrichen. Jetzt will er mir auch meinen privaten Urlaub verbieten. Darf er das?

Nein, so weit reicht sein WeisungsrechtWeisungsrecht Was darf der Arbeitgeber verlangen? nicht.

 

Ich sitze in den Ferien fest, weil der Flugverkehr vorübergehend eingestellt wurde. Bekomme ich trotzdem Lohn?

Wenn Sie selber nicht am CoronavirusCovid-19  Fragen wie:  Was Sie über das Coronavirus wissen müssen erkrankt sind, muss Ihnen der Chef für den Ausfall keinen Lohn zahlen.

 

Bin ich haftbar, wenn ich mit Husten und Fieber ins Büro komme und meine Kollegen mit dem Coronavirus anstecke?

Das wäre zwar unverantwortlich, die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dafür haftbar gemacht werden, ist aber gering. Dafür müsste man nachweisen können, dass tatsächlich Sie die Kolleginnen mit dem Coronavirus angesteckt haben.

 

Mein Chef hat angekündigt, unser KMU wegen des Coronavirus für einige Wochen zu schliessen. Bekomme ich weiterhin einen Lohn?

Ja, das wäre ein sogenannter Arbeitgeberverzug: Wenn der Arbeitgeber keine Arbeit anbieten kann, muss der Arbeitnehmer nicht darunter leiden. Der Lohn muss deshalb bezahlt werden. Vor ein paar Jahren gab es einen ähnlichen Fall: Nachdem der isländische Vulkan Eyjafjallajökull ausgebrochen war, kam es zu Betriebsschliessungen, weil Rohstoffe nicht nachgeliefert werden konnten. Die Löhne wurden trotzdem bezahlt. 

 

Ich arbeite in der Tourismusbranche und habe gerade viel weniger zu tun. Meine Chefin will, dass ich das Pensum reduziere, ich bin aber auf den vollen Lohn angewiesen. Was kann ich tun?

Sie sind nicht verpflichtet, Ihr Pensum zu reduzieren. Das wirtschaftliche Risiko liegt beim Arbeitgeber – er darf es nicht auf seine Angestellten abwälzen. Ihr Chef kann aber KurzarbeitKurzarbeit Ihre Rechte bei reduzierter Arbeitszeit anordnen. In diesem Fall wird die Arbeit vorübergehend reduziert oder sogar eingestellt. Sie erhalten eine Entschädigung von 80 Prozent Ihres Lohns. Zwar dürfen Sie die Kurzarbeit auch ablehnen, das ist allerdings nicht empfehlenswert: Der Chef könnte Ihnen aus wirtschaftlichen Gründen kündigen.

 

Ich betreibe eine Kita, die kurzfristig geschlossen werden muss. Mit welchem Geld bezahle ich die Miete und das Personal, wenn die Elternbeiträge fehlen?

Es gehört zum wirtschaftlichen Risiko eines Arbeitgebers, den Lohn und Mietzins weiterhin bezahlen zu können. Vielleicht hat er dieses Risiko versichert.

Ich sollte am Genfer Auto-Salon als Hostesse arbeiten. Nun wurde die Veranstaltung wegen des Coronavirus abgesagt. Bekomme ich eine Entschädigung?

Bei derart kurzen Einsätzen wird selten eine Kündigungsfrist vereinbart. Ohne eine solche ist ein befristeter Arbeitsvertrag nicht kündbar. Falls Ihnen die Firma keinen vergleichbaren Job anbieten kann, muss sie den vollen Lohn zahlen. Wenn sich nur ein Job mit schlechterer Bezahlung finden lässt, schuldet Ihnen die Firma wenigstens die Differenz.

 

29. Februar 2020

Die Ausbreitung des CORONA-VIRUS wirft weltweit riesige Wellen. Ich beobachte in meinem engeren Umfeld eine grosse Unruhe, ja sogar eine Art von Hysterie. Dass so ein Virus die ganze Welt derart in Aufruhr stürzen könnte, hätte ich mir noch vor einigen wenigen Wochen nicht vorstellen können.

 Wer hat Angst vor dem Coronavirus?

Das Tessin nicht. Eine NZZ Reportage.

Sascha Britsko (Text) und Christoph Ruckstuhl (Bilder) 29.02.2020, 05.30 Uhr

«Politisch war das die richtige Entscheidung», schreit mir der Vize-Bürgermeister Alessandro Fontana ins Ohr, während aus den Boxen «Wie heisst die Mutter von Niki Lauda?» dröhnt. Er meint das Verbot der Fasnacht in seinem Dorf Tesserete, das am Tag zuvor von der Regierung verhängt wurde.

Etwa 30 Leute haben sich an diesem Donnerstagnachmittag in der Bar getroffen. Sie widersetzen sich nicht etwa der kantonalen Weisung. Sie sind Mitglieder des Fasnachtskomitees und der Dorfvereine, sie hätten sich so oder so zu einem Mittagessen getroffen, sagt Fontana. Wieso also nicht verkleidet?

Fontana trägt einen Anzug mit farbigen Totenköpfen und Afro-Perücke. Er sagt, er habe sich als «Farbe» verkleidet. Sein Atem riecht nach Tequila. «Aber Sie wissen nicht, was diese Fasnacht für unsere Stadt bedeutet», schreit er weiter. «Das ist die grösste Veranstaltung unseres Dorfes. Ohne die Fasnacht würden viele Vereine hier nicht überleben.»

Einige Stunden zuvor. Das Wetter an diesem Donnerstagmorgen widerspiegelt die momentane Gefühlslage des Tessins wohl ziemlich gut: Die Sonne scheint, aber der Wind ist eisig. Vor zwei Tagen wurde der erste Corona-Fall hier bestätigt. Das Fazit: Ja, die Italiener sind schuld. Ein Mann kehrte vor etwas mehr als einer Woche aus Mailand zurück und schleppte das bereits erwartete Virus ein.

Sechs Verdachtsfälle sind an diesem Tag im Tessin noch in Abklärung, die Medien melden im Minutentakt neue bestätigte Fälle, verstreut über die ganze Schweiz. Zurzeit gibt es keinen Impfstoff und keine Behandlungsmöglichkeiten bei Corona, auch Covid-19 genannt. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat über Twitter Wissenschafter dazu aufgerufen, sich zu melden, falls sie sich an der Entwicklung eines Gegenmittels beteiligen möchten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Doch während die Regierung Massnahme an Massnahme reiht, bleibt der Durchschnittsbürger vergleichsweise stumm. Was denken die Menschen eigentlich über das Coronavirus? 

Eine Push-Nachricht leuchtet auf dem Bildschirm meines Telefons auf: «Zwei Corona-Fälle in Graubünden bestätigt.» Ich gehe los.

Das Telefon läuft heiss

Ich starte meine Suche dort, wo alles begonnen hat: bei den Zöllnern in Chiasso. An der Strada San Gottardo sitze ich drei freundlichen Gesichtern gegenüber. Eines davon gehört Roberto Arrondo, dem Postenchef der Zollstelle. 10 000 Menschen passieren hier täglich die Grenze. Pendler, Touristen, Migranten. Und mit ihnen auch das Coronavirus.

Diesen Morgen hat Roberto Arrondo die Informationsplakate des BAG aufgehängt. Drei Vorsichtsmassnahmen werden genannt: Hände waschen, in den Ellbogen niesen, Abstand halten. Und das sei genau das, was die Zöllner auch täten, versichert er mir. Man halte die Hygienemassnahmen strikt ein, nicht nur in Corona-Zeiten. «Nach wie vor tragen wir Handschuhe, aber wir waschen vielleicht ein wenig öfter unsere Hände», sagt Arrondo lächelnd. 

Vor einer Ansteckung fürchtet sich in der Zollstelle niemand, sagt mir Arrondo. Die Zöllner seien auch sonst allen möglichen Krankheiten ausgesetzt: Krätze, Tuberkulose. Alltag. «Das gehört zu unserem Job.»

Nur die Telefone würden seit einigen Tagen heisslaufen. «Alle paar Minuten ruft jemand an und fragt: ‹Darf ich nach Italien einkaufen gehen und wieder zurückkommen?› oder ‹Darf ich von Italien her einreisen?›. Das beschäftigt die Leute.» Auf der Website des Kantons sind zwar alle Informationen aufgeschaltet, und es gibt auch eine kostenlose Corona-Hotline, aber «die Leute gehen hier über die Grenze, also wollen sie es auch von uns hören».

In der Bevölkerung spüren die Zöllner keine Panik. Einige Grenzgänger würden Masken tragen, aber nicht mehr als sonst auch. Andere würden der Schweiz gar mehr vertrauen als einem Mundschutz. Am Tag zuvor sei ein Mann mit Mundschutz über die Grenze gefahren. Sobald er auf Schweizer Boden gewesen sei, habe er die Maske abgenommen. «Für so sicher hält man die Schweiz.»

Mein iPhone vibriert: «Der Engadiner Skimarathon wird abgesagt.» Ich eile weiter.

Grenzen dicht?

Jemand, der nichts mehr von «Grenzen überqueren» hören will, ist Lorenzo Quadri. Der Lega-Nationalrat rief als einer der Ersten via Twitter dazu auf, die Grenzen dichtzumachen. Aber das ist leichter gesagt als getan: Einerseits arbeiten 3800 Pendler im Gesundheitssektor des Kantons. Andererseits kommen die Viren, die diese Menschen bekämpfen, unter anderem mit ihnen über die Grenze. Was also tun? Genau das frage ich Quadri in seinem Büro in Lugano.

Lorenzo Quadri ist schmächtig und trägt Jeanshemd mit Turnschuhen. Seine langen blonden Haare hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, seine schmale Statur erinnert an den Elben Legolas aus dem Film «Herr der Ringe». Ein kleiner blauer Glitzer klebt in seinem Gesicht.

Herr Quadri, wieso ist die Grenze noch offen?

Weil die Schweiz versäumt hat, diese Massnahme zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Der Bundesrat ist offensichtlich der Meinung, Schengen sei wichtiger als die Tessiner Bevölkerung. Insbesondere während der ersten, chaotischen Phase in der Lombardei wäre die Schliessung der Grenzen nötig und sinnvoll gewesen.

Aber das Gesundheitssystem würde ohne diese Grenzgänger doch nicht funktionieren.

Das stimmt nicht. Schon jetzt fallen Leute wegen Krankheit oder Ferien aus. Hinzu kommt, dass viele Leuten im Gesundheitssystem nicht Vollzeit arbeiten. Die Tessiner hätten vielleicht mehr arbeiten müssen. Wir hätten den Arbeitsplan für eine Zeit anpassen müssen, ja, aber das wäre für geraume Zeit möglich gewesen. Man kann ja auch nicht ausschliessen, dass die Lombardei noch andere Massnahmen ergreift und viele Grenzgänger dann nicht zur Arbeit kommen können.

Und nun ist das Virus da. Wer ist schuld daran?

Man kann nicht sagen, dass jemand Schuld daran hat. Man hätte einfach früher Massnahmen ergreifen sollen. Italien hat ganze Dörfer unter Quarantäne gestellt, und wir machen gar nichts. Ich meine, ich habe gelesen, dass es bereits zwei neue Fälle in Graubünden gibt. Ich weiss nicht, ob diese auch in Verbindung mit Italien stehen.

In beiden Fällen kamen die betroffenen Menschen aus Mailand zurück.

Nun ja, eben. Ich bin kein Facharzt oder Epidemiologe, aber eine Grenzschliessung hätte die Verbreitung eindämmen können und den Behörden mehr Zeit verschafft. Das wäre natürlich nach wie vor eine Möglichkeit. Es ist zwar spät, aber nicht zu spät.

In der Tat ist es schon halb eins an diesem Donnerstag. Quadri hat eine Verabredung zum Mittagessen. Wir verabschieden uns trotz Virusgefahr mit Händeschütteln. Ob er jetzt Angst vor dem Virus hat, will ich noch wissen. Quadri lacht. «Nein, ich bin ja noch jung», sagt der 46-Jährige.

Palim, palim: «Erster Corona-Fall in Genf bestätigt.»

«Es geht nicht um links oder rechts»

Jemand, der ebenfalls die Grenzen schliessen wollte, von dem man es aber nicht erwarten würde, ist der Leiter der Tessiner Ärztekammer Franco Denti.

Denti hat in diesen Tagen nicht viel zu lachen. Nicht als Mediziner und schon gar nicht als FC-Lugano-Ultra: Wegen des Virus konnte er am Sonntag nicht ins Stadion, um sich das Spiel Sion gegen Lugano anzusehen. Vielleicht besser so, hat Lugano doch unentschieden gespielt. Das sei sehr schlimm für ihn gewesen, wird er später zugeben

Denti kommt zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit, ganz in Schwarz, in Slippers und ohne Socken.

Dottore Denti, wie einige rechte Politiker forderten auch Sie die Schliessung der Grenzen. Welche Partei wählen Sie?

Bei dieser Massnahme geht es nicht um links oder rechts. Es geht um die Gesundheit der Bevölkerung.

Aber es ist illusorisch, dass sich das Virus mit einer Grenzschliessung hätte aufhalten lassen.

Natürlich. Früher oder später wäre das Coronavirus auch in der Schweiz angekommen. Aber mit dieser Massnahme hätten wir die schnelle Verbreitung ein wenig eindämmen können. Sie müssen sich das Virus als Murmelspiel vorstellen: Eine Murmel wird geworfen und berührt zwei weitere. Diese wiederum berühren wieder zwei weitere und so weiter. Die einzige Möglichkeit, die Verbreitung zu unterbinden, ist, die Murmel dort zu lassen, wo sie ist.

Gut, die Murmel ist nun aber in der Schweiz. Was machen wir jetzt? Spielabbruch?

Was wir gerade in der Schweiz beobachten können, ist der normale Verlauf einer Epidemie: Am Anfang steigt die Anzahl der infizierten Personen rasant an. Irgendwann ist der Peak erreicht, und die Kurve flacht ab, die Zahl der Infizierten geht zurück. Das ist das, was wir gerade in China beobachten können. Von daher sind die Schliessung der Grenzen und das Verbot von grösseren Veranstaltungen – also die Eindämmung der Verbreitung – nach wie vor die einzig wirksamen Massnahmen.

Gibt es denn gar nichts anderes, was man tun könnte? Das BAG hat heute Plakate aufgehängt.

Aus medizinischer Sicht nicht. Die Informationskampagne des Bundes ist zwar richtig und wichtig, aber sie kommt ein bisschen zu spät. Und das ist der Kern des Problems: Die Leute wissen zwar, was sie tun oder nicht tun sollen, aber sie wissen nicht, was dieses Coronavirus eigentlich ist.

Und was ist dieses Coronavirus?

Es ist eine Infektionskrankheit, die sich mit einer rasanten Geschwindigkeit verbreitet. Viel aggressiver als irgendeine Grippe. Aber im Gegensatz zur Grippe trifft sie nicht alle gleich stark. Die Zielgruppe, die davon am stärksten betroffen ist, sind Männer über 60, die gesundheitlich vorbelastet sind. So wie ich.

Also haben Sie Angst vor dem Coronavirus?

Nein. Aber meine Frau macht sich Sorgen um mich.

Franco Denti, der keine Angst hat, hat vor kurzem einen Essensvorrat für 14 Tage eingelagert.

 Schon wieder das iPhone: «Genfer Uhrensalon wird abgesagt.» 

Ein bisschen Fasnacht

Die Fasnacht im 1500-Seelen-Dorf Tesserete ist die zweitgrösste Fasnacht im Kanton Tessin. An diesem Donnerstag würde sie ihr 120-Jahr-Jubiläum feiern. Doch statt Guggen und Schlager herrscht gähnende Leere in den Strassen von Tesserete. Verlassene Festzelte schmücken das Dorf.

Irgendwo, in der Nähe des Bahnhofs, räumt der 43-jährige Fabio mit ein paar Kollegen des Skiclubs San Bernardo sein Festzelt aus. Fünf Tage lang hatten sie alles aufgebaut. Tags zuvor kam die Weisung der Regierung: Alle grösseren Veranstaltungen sind bis auf weiteres abgesagt. Also auch die Fasnacht.

Fabio versteht, dass die Regierung so handeln musste. «Aber wir müssen nun schauen, wie unser Verein dieses Jahr überleben soll», sagt er und lächelt verlegen. Mit den Einnahmen der Fasnacht finanziert sich ihr Skiclub das ganze Jahr über. Vergünstigte Ski-Tickets für Kinder, wie sie der Verein normalerweise anbietet, werden dieses Jahr wahrscheinlich nicht drinliegen. «Ausser, wir bekommen finanzielle Unterstützung vom Kanton.»

Finanzielle Unterstützung hin oder her, 8000 Franken, die sie bereits für Essen, Getränke, die Sicherheit und das Zelt ausgegeben haben, sind verloren. Zählt man die geplanten Einnahmen hinzu, ergibt sich ein Verlust von etwa 60 000 Franken.

«No Corona – solo party»

Nicht alle nehmen das so schwer. Oder tun zumindest so. Ein paar hundert Meter die Strasse hinauf dröhnt aus einer unscheinbar wirkenden Tür feinster Schlager. Hinter der Tür versteckt sich eine Bar, und in dieser Bar treffe ich auf den Vize-Bürgermeister Alessandro Fontana.

Seine Perücke ist verrutscht, aber seine Worte sind klar: «Je nach Verein muss man mit Einbussen von 20 000 bis 30 000 Franken rechnen.» Dazu kämen noch Umsatzeinbussen von rund 800 000 Franken, die das Dorf verkraften muss. «Politisch verstehe ich das ja», wiederholt sich Fontana. «Aber denen fällt es natürlich leicht, die Veranstaltung einfach abzusagen. Dass unsere Region von dieser Fasnacht lebt, interessiert sie nicht.»

Ein Schotte mit lila Haaren torkelt in meine Richtung und erklärt mir: «Wir haben freigenommen, um zu arbeiten. Jetzt dürfen wir nicht arbeiten, also müssen wir feiern.» Einige tragen Strahlenschutzanzüge und Masken. Heisst das, dass wenigstens hier die Leute Angst haben vor dem Coronavirus? Der Schotte winkt ab. «Alkohol tötet alle Viren», belehrt er mich. «No Corona – solo party.»

Mehr zum Thema: 

Wie sich die Spitäler für das Coronavirus rüsten

 

Angesichts der wachsenden Zahl von Coronavirus-Fällen haben grosse Spitäler eigene Abklärungsstationen aufgebaut. In vielen Krankenhäusern stehen Isolationszimmer zur Verfügung. Der Kanton Bern hat zusätzliche Quarantäneplätze in einem ehemaligen Jugendheim eingerichtet.

Christof Forster, Bern 28.02.2020

Kommentar

Der Bundesrat übernimmt konsequent die Führung

Um die Verbreitung des Coronavirus wirksam zu bekämpfen, braucht es kohärente Massnahmen. Es ist deshalb richtig, dass der Bund die besondere Lage ausruft und damit Kompetenzen von den Kantonen übernehmen kann.

Georg Häsler Sansano, Bern 28.02.2020

 

2019

 

25. Oktober 2019

Eine Frage, dich ich mir immer wieder stelle (und ich denke, dass ich da überhaupt nicht der einzige bin!) ist: Was war eigentlich vor dem "Urknall"? Diese Frage stellt sich mir natürlich auch auf religiöser Ebene: gab es für (die Auslösung des/) den Urknall eine entsprechende Energie (oder was auch immer), die man auf "göttlicher" Ebene sehen könnte? 

Ich habe soeben einen Artikel von Stefanie Kemmer über diese Thematik, resp. über die diesbezüglichen Gedanken des berühmten (bereits verstorbenen) Astrophysikers Stephen Hawking gelesen: 

Stephen Hawking hatte eine absolut erstaunliche Theorie darüber, was vor dem Urknall war

Stefanie Kemmner 25.10.2019

vor 3 Std. 

© Bereitgestellt von Business Insider Inc Die meisten Wissenschaftler sind sich einig:

Das Universum und alles, was sich darin befindet, entstand mit dem Urknall vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Für viele Menschen ist eine Frage jedoch viel interessanter: Was existierte vor dem Urknall? Diese Frage stellte der US-amerikanische Physiker Neil deGrasse Tyson Anfang März dem Physiker Stephen Hawking in seiner Talkshow „StarTalk“. Es war eines der letzten Interviews, die Hawking vor seinem Tod am 14. März 2018 gab. 

Hawkings Antwort lautete: Nichts. Seiner Ansicht nach gab es vor dem Urknall so etwas wie Zeit gar nicht. 

Vor dem großen Urknall existierte nichts“,

erklärt Hawking im Gespräch mit Tyson.

Was vor dem Beginn des Universums existierte, hat keine Bedeutung

Für Hawking gab es keinen genauen Punkt, an dem das Universum und die Zeit begannen. „Die Grenzbedingung des Universums ist, dass es keine Grenze hat“, erklärte Hawking. „Die Euklidische Raum-Zeit ist eine geschlossene Oberfläche ohne Ende, wie die Oberfläche der Erde. Man kann imaginäre und reale Zeit so sehen, dass sie ihren Beginn am Südpol hat. Das ist ein ebener Punkt der Raum-Zeit, an dem die normalen Gesetze der Physik bestehen. Es gibt nichts südlich vom Südpol, also existierte nichts vor dem Urknall.“

Falls euch das zu kompliziert war: Rachel Feltman erklärt Hawkings Antwort für „Popular Science“ noch einmal mit anderen Worten. 

Lest auch: „Laut Stephen Hawking gibt es einen erschreckend logischen Hinweis auf das Schicksal der Menschheit

„Physiker wie Stephen Hawking haben versucht, eine Art Zeitlosigkeit wieder herzustellen, indem man den Startpunkt beseitigt, man stellt sich ein Universum ohne einen eindeutigen ,Knall‘ vor“, erklärt Feltman. „Man kann die Uhr bis an die Ränder dieser ersten Momente der Existenz zurückdrehen. Aber zu fragen, was davor kam, wäre, als würde man fragen, warum man weiter nach Norden laufen kann, wenn man am Nordpol angekommen ist. Die Zeit, wie wir sie definieren, verliert ihre Bedeutung, während das Universum zusammenschrumpft.“

Hawkings komplette Antwort auf die Frage könnt ihr euch hier anschauen:

https://www.msn.com/de-ch/lifestyle/leben/stephen-hawking-hatte-eine-absolut-erstaunliche-theorie-darüber-was-vor-dem-urknall-war/ar-AAJkgK7?ocid=spartandhp

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24. März 2019

Die Geschwistersituation – psychologische Tatsachen.

Jeder von uns wird während seiner Frühkindheit (der Periode der ersten 5-6 Jahren) fürs ganze Leben geprägt. Eine ganz besondere Prägung erfahren wir Menschen aber durch die Geschwistersituation, die wir innerhalb unserer Kernfamilie  erleben.

Der nachfolgende NZZ-Artikel geht  diesem Thema  auf interessante Art nach:

NZZ      Geschwister begleiten uns ein Leben lang – ob wir wollen oder nicht

Es ist die längste Beziehung, die wir uns denken können. Schwestern oder Brüder können wir nicht abwählen wie Freunde. Sie sind unser Familienarchiv und unser Schicksal.

Andrea Köhler25.3.2019 https://www.nzz.ch/feuilleton/geschwister-und-familie-verbunden-auf-lebenszeit-ld.1468344

 2018

  1. Oktober 2018  

Man hört  immer wieder Unglaubliches aus Drittweltstaaten. Dass aber neuerdings auch bei uns in der Schweiz makabre Informationen über Kremationsreste von Goldkronen, Implantaten usw. vom Krematorium Nordheim in Zürich auftauchen, ist  fast nicht zu fassen. Offenbar  - so behauptet bluewin in den Tagesnachrichten vom 1. Oktober 2018 – werden diese Metalle an Reclylingfirmen weiterverkauft, ohne Wissen der Angehörigen. 

Krematorium schnappt sich Kronen, Implantate und Goldzähne 

      1. - 06:43, sob – bluewin News 

https://www.bluewin.ch/de/news/vermischtes/krematorium-schnappt-sich-kronen-implantate-und-goldzaehne-154187.html

 

 

 

 

12. Juli 2018 

Donald Trump, der US Präsident, hat erreicht, was er versprochen hatte: Jeden Tag wird in den Welt-Medien von ihm berichtet!

Die Frage ist nur, in welchem Sinn!

7. Januar 2018

Gibt es "Gott", gibt es ihn nicht? Die Frage nach Gott ist wohl eine ewige Frage der Menschheit. Und die Antwort darauf fällt sehr vielfältig aus, kann es nur so sein. Was der einzelne Mensch unter diesem Begriff versteht, verstehen kann, muss "individuell" ausfallen:

Der nachstehende Artikel, den ich auf der Homepage von SRF gefungen habe, geht dieser Thematik nach. Ich empfehle ihn, zu lesen!

Gibt es Gott? Gott kann man nicht beweisen – aber auch nicht widerlegen

 

Warum entstand die Welt? Der kosmologische Gottesbeweis ist uralt – behält aber auch in Zeiten der Quantenphysik seinen Charme.

Bildlegende: Es ist unmöglich, die Existenz Gottes zu beweisen. Es ist aber auch unmöglich, sie zu widerlegen. Getty Images

Wie schön wäre es, wenn man Gott beweisen könnte. Dann gäbe es Gewissheit darüber, dass Religion vielleicht nicht einfach nur Tradition und Kontingenzbewältigung ist. Dass es sich lohnt, weiter über Gott nachzudenken.

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«Story of God» 

Was macht Glauben mit den Menschen? In der dreiteiligen Doku «Story of God» besucht der Schauspieler Morgan Freeman heilige Stätten weltweit und trifft Gläubige, Schamanen, Priester, Rabbis und Imame.

Gott ist nicht wie das Matterhorn

Doch man kann Gott nicht beweisen. Wenn gläubige Menschen von Gotteserfahrungen berichten, dann sind das individuelle Glaubenszeugnisse. Die können mitunter sehr beeindruckend wirken. Sie werden aber keinen Atheisten überzeugen. Denn eine subjektive Gotteserfahrung ist noch lange kein Beweis.

Der Schweizer Theologe Hans Küng hat einmal gesagt, man könne Gott nicht so beweisen wie das Matterhorn oder den Genfer See. Gottesbeweise sind nichts Handfestes, sondern intellektuelle Strategien, um Glauben und Vernunft in Einklang zu bringen.

Gott sprengt menschliche Kategorien

Den alten Griechen, aber auch den Vertretern einer rationalen Theologie im Mittelalter und in der Neuzeit war völlig klar, dass Gottesbeweise ein heikles Unternehmen sind. Denn sie wollten nach menschlichem Ermessen etwas beweisen, was eigentlich alle menschlichen Kategorien sprengt. Sonst wäre Gott ja nicht Gott.

Trotzdem sind viele Gelehrte der Frage nachgegangen: Können wir mit Hilfe der Vernunft Gott beweisen? Heraus kamen Überlegungen wie etwa der kosmologische Gottesbeweis. Und der hat selbst heute noch einen gewissen Charme.

Morgan Freeman über Glauben

«Gott ist die Begegnung mit dem grossen Unbekannten» – Morgan Freeman im Interview

Von nichts kommt nichts

Der kosmologische Gottesbeweis geht von der Annahme aus: Von nichts kommt nichts. So wie eine Reihe von Dominosteinen nicht einfach so umfällt, sondern jemand den ersten Klotz anschubsen muss – genauso muss es sich mit dem Universum verhalten haben.

Versucht man, die Entstehungsgeschichte des Universums zu rekonstruieren, dann gelangt man immer an einen Punkt, an dem die Wissenschaft nicht mehr weiterkommt.

Wo beginnt das Spiel der Welt?

Der Physiker Ben Moore spricht in einem Interview mit SRF etwa das Beispiel der Quantenfluktuation an. Nach dieser Hypothese stand am Anfang des Universums ein Vakuum, das «spontan in Materie und Antimaterie» zerfiel, und «aus diesem Zerfall ergab sich dann das Spiel der Welt».

Physik und Metaphysik

«Sind Zufälle der Natur nicht die Spuren Gottes?» – Ben Moore im Interview

Nur auf den ersten Blick widerspricht diese Hypothese Gott. Denn, wie Moore ausführt: «Ein Quantenvakuum, das die Fähigkeit hat, in Materie und Antimaterie zu zerfallen, ist nicht nichts.» Will heissen: Die Idee eines Urknalls ist damit vielleicht entkräftet, nicht aber Gott.

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Beiträge zu Wissen und Glauben

Auch Atheismus ist eine Glaubensfrage

Bewiesen im umgangssprachlichen Sinne ist Gott mit dem kosmologischen Gottesbeweis nicht. Auch kann er Zweifel nicht aufheben. Aber er kann zeigen, wie man mit ihnen umgehen kann – und dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse ein Glaubenssystem nicht zwingend ins Wanken bringen.

Auch das gehört zur Auseinandersetzung mit Gottesbeweisen: So schwer bis unmöglich es auch ist, Gott zu beweisen – genauso schwer bis unmöglich ist es, seine Nicht-Existenz zu beweisen. Denn nicht an Gott zu glauben, ist genauso eine Glaubensfrage, wie an ihn zu glauben.

Sendungen zu diesem Artikel

Sternstunde Religion
Gespräch zum Film «Story of God, Teil 3»: Der Gottesbeweis

31.12.2017, 10:50 Uhr

Philosophen und Theologen versuchen seit Jahrtausenden, Gewissheit über das göttliche Wesen zu erlangen. Doch kann man Gott fassen und seine Existenz beweisen?

Video noch 23 Tage verfügbar

Sternstunde Religion
Story of God 3/3: Der Gottesbeweis

31.12.2017, 10:00 Uhr

In einer dreiteiligen Dokumentation besucht der Schauspieler Morgan Freeman heilige Stätten weltweit und trifft Gläubige, Schamanen, Priester, Rabbis und Imame. Ihn treibt die Frage um, wie Religion und Glauben die Menschen prägen und wie sie ihre religiösen Vorstellungen im Alltag leben.

Sternstunde Religion
Gespräch zum Film «Story of God, Teil 2»: Himmel und Hölle

25.12.2017, 10:50 Uhr

In den Weltreligionen gibt es verschiedene Vorstellungen von einem Jenseits. Zum Teil gleichen sie sich, manchmal sind sie einzigartig. Warum ist es für die Menschen so wichtig, zu wissen, was nach dem Tod kommt?

Video noch 17 Tage verfügbar

Sternstunde Religion
Story of God 2/3: Himmel und Hölle

25.12.2017, 10:00 Uhr

In einer dreiteiligen Dokumentation besucht der Schauspieler Morgan Freeman heilige Stätten weltweit und trifft Gläubige, Schamanen, Priester, Rabbis und Imame. Ihn treibt die Frage um, wie Religion und Glauben die Menschen prägen und wie sie ihre religiösen Vorstellungen im Alltag leben.

Sternstunde Religion
Gespräch zum Film «Story of God, Teil 1»: Der Auserwählte

24.12.2017, 10:50 Uhr

In vielen Religionen gibt es Auserwählte, die ihren Glauben gegen alle Widerstände aufrechterhalten. Was aber macht sie so einzigartig, dass sie für andere zum Wegweiser und Sinngeber werden?

Video noch 16 Tage verfügbar

Sternstunde Religion
Story of God 1/3: Der Auserwählte

24.12.2017, 10:00 Uhr

In einer dreiteiligen Dokumentation besucht der Schauspieler Morgan Freeman heilige Stätten weltweit und trifft Gläubige, Schamanen, Priester, Rabbis und Imame. Ihn treibt die Frage um, wie Religion und Glauben die Menschen prägen und wie sie ihre religiösen Vorstellungen im Alltag leben.

 

2017

7. Dezember 2017: Was ist (politisch) links, was rechts? (NZZ 7.12.2016)

24. .September 2017: In Indonesien geht man mit den Toten spazieren...

23. Juli 2017: Video der Dampfloki auf das Brienzer Rothorn

5. Juli 2017: Petition an die Türkische Regierung um Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei

14. Mai 2017: weltweite Cyber-Attacke - NZZ am Sonntag

3. April 2017: Auch Terrorattentate in der Schweiz?

14. März .2017: Die Türkei und die Bespitzelung an Schweizer Universitäten...

3. März 2017: Sterbefasten

2. März 2017: ein Bibelmuseum entsteht in Washington

16. Februar 2017: Schwedinnen pilgern nach Teheran und verschleiern sich....

26.1.2016: Kriminalität der Ausländer

19.11.2015: Muslime müssen sich ändern

13./14.11.2015: Terror in Paris

20.10.2015: Flüchtlingsdrama - Terrorwelle  

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7. Dezember 2017

Immer wieder kommt eine Diskussion auf, was politisch links, was politisch rechts zu verstehen sei! Der nachfolgende NZZ-Artikel geht dieser Frage nach!

Welche Parlamentarier links politisieren – und welche rechts 

Wie positionieren sich die Fraktionen im Nationalrat auf der Links-rechts-Skala? Und wie hat sich das politische Spektrum der Parteien verändert? Das zeigt unser Parlamentarierrating 2017.

https://www.nzz.ch/schweiz/parlamentarierrating-2017-der-nationalrat-hat-sich-entlang-der-parteilinien-sortiert-ld.1333867

 

24. September 2017

Indonesisches Volk führt Tote spazieren

Weltweit und seit jeher gehen die Menschen mit ihren Verstorbenen ganz eigene Wege. Eine besonders eigenartige Beziehung scheint ein indonesisches Volk mit seinen Verstorbenen zu pflegen:

Das indonesische Volk Toraja hält nichts von der ewigen Ruhe für die Toten. Alle paar Jahre nehmen sie die Verstorbenen aus den Särgen und veranstalten Schauerliches mit ihnen.

 

https://www.bluewin.ch/de/news/vermischtes/2017/9/21/indonesisches-volk-fuehrt-tote-spazieren.html

 

23. Juli 2017

Gerade bei den aktuellen hohen Sommertemperaturen mit blauem Himmel macht es Freude, nicht in die Ferne zu schweifen (mit dem Flugzeug), sondern die Naturschönheiten im eigenen Land zu entdecken! Wir vergessen immer wieder, dass wir Schweizer in unserem Land eine ganze Menge von wunderbaren Ausflugszielen zur Verfügung haben.

Wie wäre es zum Beispiel einmal, einen Ausflug ins Berner Oberland zu unternehmen, von Brienz aus mit der alten Dampfbahn auf das Brienzer Rothorn zu rattern? So einen Ausflug unternahmen wir vor einigen Jahren und  erfreuten uns wie kleine Kinder während dieser ungewöhnlichen Fahrt auf der Dampfbahn an den wunderschönen Landschaften. Und - was wir bis heute nicht vergessen haben - oben, am Ziel, erwartete uns (noch als Unterstreichung der herrlichen Aussicht über die Bergwelt) ein erstklassiges Restaurant!

Das folgende Video zeigt ein bisschen hinter die Kulisse der Brienzer-Rothornbahn! 

 

5. Juli 2017

Die Türkei ist nicht mehr die frühere Türkei, in der die Menschen sich einigermassen frei bewegen und äussern konnten. Unter dem Regime Erdogan hat sich einiges geändert, die Menschenrechte werden nicht mehr eingehalten. Angst vor Denunziation geht um.

Menschen weltweit versuchen sich für Gefangene in diesem Unrechtssystem einzusetzen. Siehe den folgenden Aufruf:

Petition an die Türkische Regierung um Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei

Sehr geehrte Damen und Herren 

 

Sie erhalten hier das Communiqué vor allem mit der Forderung in unserer Petition an die Türkische Regierung um Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei.

 

Wir bitten Sie dieses - wenn möglich mit dem Bild unten - in Ihrem Medium zu veröffentlichen:

 

 

 

Kürzlich wollte das Komitee «Brückenschlag Zürich - Amed/Diyarbakir» seine Petition zur Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei mit einer friedlichen Kundgebung, dem Generalkonsulat in Zürich übergeben. Dieses lehnte eine Entgegennahme allerdings ab. Deshalb wurde die Petition, die von 1’102 Frauen und Männern unterschrieben und von einem Notar in Bern beglaubigt wurden, an den türkischen Botschafter in Bern zuhanden der Türkischen Regierung gesandt.  In der Petition fordert das Komitee diese Regierung auch auf, dass die politischen Gefangenen endlich vom IKRK besucht werden können. 

Unter den vielen Gefangenen in der Türkei befinden sich die beiden Co-BürgermeisterInnen von Amed /Diyarbaki, Gülten Kisanak und Firat Anli.  Auf Einladung des Komitees «Brückenschlag Zürich - Amed/Diyarbakir» weilten sie anfangs Oktober 2016 während einiger Tage in Zürich und tauschten sich mit der Stadtpräsidentin und verschiedenen Verwaltungsstellen aus. Am 25. Oktober 2016 wurden die beiden in Amed/Diyarbakir verhaftet, angeklagt und befinden sich bis heute in Untersuchungshaft.

Um die Dringlichkeit der Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei zu unterstreichen wurden Kopien der Petition an den Gesamtbundesrat, das EDA, das IKRK und Nils Melzer, UN Spezial Rapporteur gegen Folter gesandt.

Komitee Brückenschlag Zürich - Amed/Diyarbakir

 

 

 

Mit bestem Dank und freundlichen Grüssen
 
Komitee Brückenschlag Zürich - Amed/Diyarbakir
 
 
i.V.Jochi Weil-Goldstein
Goldbrunnenstrasse 131
8055 Zürich
Tel. Privat: 044 462 20 03
Handy: 079 38 34 08

 

 

 

 

14. Mai 2017

Unsere Welt, in der wir leben, unterscheidet sich von derjenigen unser Eltern und Grosseltern und früherer Generationen komplett. Wir "leben" digital, global und das Internet und alles Virtuelle bestimmt unser tägliches Leben! Ist das gut oder ist das schlecht? - Ich denke: weder das eine noch das andere!

Aber eines ist es sicher: es ist auch gefährlich und bietet zahlreiche Angriffsflächen für böse Menschen, Hackern! Und diese Gefährlichkeit erleben wir im Moment ganz besonders eindrücklich: eine weltweite Cyper-Attacke scheint uns Menschen neuerdings auf ganz eindrückliche Weise zu zeigen, dass das heutige moderne Leben auf vielfältigste Arten gefährdet ist. Ist die aktuelle weltweite Cyper-Attacke nur der Beginn einer Art von Weltkrieg auf virtuelle Art? Ist diese aktuelle Cyper-Attacke vielleicht nur der Anfang von noch Schlimmerem?

https://nzzas.nzz.ch/notizen/das-ist-erst-der-anfang-hacker-angriffe-ld.1293062 

Systeme werden nicht aktualisiert und bleiben so monate- bis jahrelang ungesichert - und auf einmal bricht alles zusammen!

 

 

3. April 2017

 

Weltweit, nicht zuletzt in Westeuropa, wüten islamistische Terroristen und setzen unschuldige Menschen in Angst und Schrecken durch ihre fanatischen und blutigen Attentate.

 

Wie sieht es diesbezüglich in der Schweiz aus? Sind hier vor allem jüdische Institutionen besonders gefährdet? Der Genfer Terrorexperte Jean-Paul Rouiller ist der Meinung, dass sich bezüglich der Schweiz nicht die Frage stellt, ob eine Terrorattacke auf unschuldige Menschen stattfinden würde, sondern   W A N N !

 

Das gibt in der Tat zu denken. Und noch mehr gibt zu denken, wie unerklärlich sich die offiziellen Stellen beim Bund, Kanton und Stadt sich bezüglich (finanzieller) Unterstützung der jüdischen Gemeinden bezüglich Sicherheitsprävention zeigen. Die Bundesrätin Somaruga meinte ja vor einigen Wochen, dass die Juden einen Fonds äufnen und ihre Sicherheitsbedürfnisse daraus speisen könnten. Muss ich davon ausgehen, dass Somaruga damit das alte antijüdische Vorurteil "des reichen Juden", der selber für sich schauen soll, aufleben lässt?

 

Lesen Sie das Interview in der NZZ mit Jean-Paul Rouiller über diese Thematik:

 

https://www.nzz.ch/schweiz/genfer-terrorexperte-jean-paul-rouiller-die-terroristen-haben-auch-uns-studiert-ld.154742

 

 

14. März 2017

Es ist eindeutig: Der schrille Donald Trump wird in den täglichen Schlagzeilen der Medien klar vom "schrillen, türkischen Erdogan" verdrängt! Trump scheint auf einmal vielen mit all seinen Lügen und Verdrehungen im Vergleich zum kriegerischen türkischen Herausforderer als "blutiger Anfänger" zu wirken.

Momentan kämpfen die militanten Erdogan-Anhänger mit allen möglichen (und auch unmöglichen) Mitteln für ein gutes Resultat der kommenden Abstimmung. Erdogan will mehr Macht, und er und seine Kumpanen kämpfen militant auch in den türkischen Diaspora-Communities für entsprechenden Stimmenfang. - Soeben wurde bekannt, dass auch (aber nicht nur!) an der Zürcher Universität mit Bespitzelung  vorgegangen wird.

Lesen Sie den entsprechenden Artikel im heutigen Tages-Anzeiger:

Spitzel an der Uni – so wehrt man sich

Die türkische Regierung lässt offenbar auch an der Universität Zürich spionieren. Anwalt Andreas Meili sagt, welche rechtliche Handhabe es gibt.

http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/die-uni-kann-spitzel-wegen-hausfriedensbruch-anzeigen/story/10842996

 

3. März 2017

Was ist zu tun, wenn wir schwer beeinträchtigt sind, zB durch Alzheimer-Erkrankung oder sonst einer schwerwiegenden ausweglosen Erkrankung darnieder liegen und sehen keinen Sinn mehr im Weiterleben? Exit-Freitod-Begleitung mag ein Ausweg sein, aber allerdings ist dies nur möglich, wenn der entsprechende Mensch noch voll bei Sinnen ist. Bei Alzheimer, oder anderen Demenz-Erkrankungen ist dies nicht mehr der Fall.

Ist das Sterbefasten, der Verzicht auf Trinken und Essen ein gangbarer Weg für einen lebensmüden Menschen?

Lesen Sie den Artikel von Simon Hehli in der heutigen NZZ:

 https://www.nzz.ch/schweiz/sterbefasten-ein-ausweg-aus-der-demenz-ld.148715

 

2. März 2017

Es scheint, dass heutzutage die Bibel nicht mehr im Fokus des Lesens steht! Und trotzdem ist aus meiner Sicht, das "Buch der Bücher" nach wie vor eine faszinierende Sache, nicht nur in religiöser, sondern nicht weniger auf kultureller Ebene. Für mich ist die Bibel - ohne frömmlerisch zu werden - das interessanteste Buch, das ich kenne. Und ich entdecke als Jude im T'nach (der hebräischen Bibel) immer wieder ganz Neues, das mich fasziniert und auch herausfordert. Ich entdecke hier eine riesige Welt, die zB das menschliche Leben auf allen Ebenen in in den vielfältigsten Fazetten spiegelt.  

Soeben höre ich, dass in Washington ein "Bibelmuseum" im Entstehen begriffen ist. Die Verantwortlichen für dieses Grossprojekt scheinen auch keine finanziellen Hürden zu gering zu sehen. Es sind beachtliche Kosten von 500 Millionen Dollars dafür geplant! Wer steckt hinter diesem Projekt, was wird damit bezweckt? - Lesen Sie den folgenden Artikel in ref.ch unten!

 

In Washington wächst das grösste Bibelmuseum der Welt

ref.ch 1. März 2017

(Bild: museumofthebible.org) Visualisierung des Bibelmuseums, das im November 2017 seine Tore öffnen soll.

Es soll das grösste Bibelmuseum der Welt werden. Drei Blocks entfernt vom Kapitol in Washington entsteht ein 500 Millionen Dollar teures Projekt rund um das meistgelesene Buch der Welt.

Noch sind die 40’000 Quadratmeter in dem ehemaligen Kühlhaus in Washington eine riesige Baustelle. Trotzdem herrscht Zuversicht, dass das grösste Bibelmuseum der Welt pünktlich im November eröffnet werden kann.

 https://www.ref.ch/kirche-kultur/in-washington-waechst-das-groesste-bibelmuseum-der-welt/

 

16. Februar 2017

Ich staune immer wieder, wie billig sich die Westeuropäer in islamischen Staaten verkaufen, resp. sich für zukünftige lukrative Geschäft einzuschmeicheln versuchen.

Neuestes Beispiel dafür präsentieren schwedische links-grüne Politikerinnen, die sich bei einem offiziellen Besuch in Teheran/Iran mit einem Niqab verschleiern und separat - also nicht gleichwertig - zu ihren männlichen Kollegen zu sitzen hatten. Diese schwedischen Damen - so wurde gesagt - machen sich in ihrer Heimat normalerweise als feministische Emanzen für die Gleichwertigkeit von Mann und Frau stark!  

Der schwedische Verrat

16/02/2017 Audiatur-Online
 Die links-grüne schwedische Regierung, die sich selbst als „feministisch“ bezeichnet, verrät mit ihrem Kotau in Teheran die Werte der freien Welt. von Thomas Eppinger Am 8. März 1979 gingen mehr als 100.000 Frauen in Teheran auf die Strasse. Ganz ohne WhatsApp, Twitter und Facebook versammelten sie sich am Internationalen Frauentag in der iranischen Hauptstadt, um […]

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26. Januar 2016:

Die Kriminalität der Ausländer in der Schweiz

Das Thema der "Ausländer-Kriminalität" wird heiss diskutiert, v.a. nach den vergangenen Sylvester-Zwischenfällen in deutschen Grossstädten (und auch in der Schweiz). Was hat es wirklich auf sich mit der Kriminalität von Ausländern in der Schweiz? - Der nachfolgende Artikel des TAGES-ANZEIGERS befasst sich mit dieser Thematik!

 

 

 

26. Januar 2016: Wie viele von 100 Ausländern sind kriminell?

 Die Ausländerkriminalität steht wegen Köln und der Durchsetzungsinitiative wieder im Fokus von Medien und Politik. Wer da Angst vor Fremden bekommt, sollte sich kurz Zeit für diese interaktive Grafik nehmen. 

 

Stichworte: Ausländer, Interaktiv, Kriminalität:  

Von Marc Brupbacher, Ruedi Lüthi und Marc Fehr

 

Fakt ist: Ausländer sind krimineller als Schweizer. Egal ob Strafgesetzbuch, Strassenverkehrsgesetz oder Betäubungsmittelgesetz, ausländische Personen werden proportional öfters verurteilt und verzeigt als Schweizer – gerade auch für schwere Delikte. Die Strafurteilsstatistik (SUS) und die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) lügen nicht. Aber die Statistik sagt halt nur, was sie misst. Die Realität ist komplexer.  

Von 100 Ausländern und 100 Schweizern: Was glauben Sie, wie viele wurden im Jahr 2014 einer Straftat gemäss Strafgesetzbuch (StGB) beschuldigt?  

Die überwältigende Mehrheit der Ausländer in der Schweiz  – von ordentlich Angemeldeten, Asylbewerbern, Touristen über Kurzaufenthalter bis hin zu Illegalen – verstiess 2014 also nicht gegen das Strafgesetzbuch. Nur 2,2 Prozent von 1,86 Millionen der über zehnjährigen Ausländer wurden einer Straftat gemäss StGB beschuldigt (Schweizer: 0,7 Prozent).   

Wenn wir nur die Gruppe der Ausländer mit Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligung anschauen  – also Kriminaltouristen, Asylbewerber und Illegale ausklammern –, dann beträgt die Referenzbevölkerung 1,69 Millionen (ab 10 Jahren). Die Zahl der Beschuldigten liegt hier gemäss PKS bei 23’604. Die Beschuldigtenquote sinkt so auf 1,3 Prozent.   

Ob es dann tatsächlich auch zu einer Verurteilung kam, sagt die PKS nicht. Dazu hilft ein Blick in die Strafurteilsstatistik. Wird die Referenzgrösse mit allen Ausländerkategorien ins Verhältnis zu den tatsächlich Verurteilen gesetzt, dann kommt es beim StGB zu einem Richterspruch pro 100 Ausländer. Oder anders: Von den 1,86 Millionen über zehnjährigen Ausländern wurden im Jahr 2014 nur 1,15 Prozent wegen einer StGB-Straftat verurteilt. Wenn wir wiederum nur die ständige ausländische Wohnbevölkerung betrachten (1,69 Mio.), dann sinkt die Verurteilungsrate auf 0,6 Prozent (Schweizer: 0,3 Prozent).  

Fakt ist aber auch: Gewisse Nationalitäten haben eine um ein Vielfaches höhere Deliktquote als andere. Deutsche, Österreicher und Franzosen sind kaum auffälliger als Schweizer. Personen aus dem Balkan, aus südamerikanischen und osteuropäischen Ländern sowie aus der Türkei haben eine höhere Beschuldigtenquote. An der Spitze liegen afrikanische und arabische Nationen wie Algerien, Tunesien, Nigeria oder Marokko.   

Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Nationalität und Kriminalität? Soziologe Ben Jann von der Universität Bern ging im Jahr 2013 dieser Frage nach. Sein Fazit: Die Kriminalitätsraten sind viel mehr von sozioökonomischen Faktoren abhängig als von kulturspezifischen. Er sagt: «Ein hochgebildeter Deutscher wird mit tieferer Wahrscheinlichkeit kriminell als ein schlecht ausgebildeter Algerier.» Er fasst die Befunde in seiner Studie so zusammen: 

•Ausländer weisen beim Strafgesetz eine rund doppelt so hohe Beschuldigtenrate auf wie Schweizer. 

•Bis zu 30 Prozent der Differenz sind auf die unterschiedliche Altersstruktur zurückzuführen. Wandern von einer Nationalität vor allem junge Männer ein, fällt die Kriminalitätsrate dieser Ausländergruppe höher aus. 

•Durch Kontrolle von Statusmerkmalen wie Bildung, berufliche Stellung, familiäre Situation verschwinden die Unterschiede zwischen ausländischen Personen und Schweizern weitgehend.  

Dass trotzdem gewisse Effekte kultureller Prägung bestehen, kann nicht ausgeschlossen werden. Jann dazu: «Die Beschuldigtenraten unterscheiden sich je nach Herkunftsland stark. Diese können einerseits zustande kommen, wenn Personen mit besonders hohem oder tiefem kriminellem Potenzial ein Land verlassen. Andererseits können kulturelle Faktoren wie Stellung der Frau, Einstellungen zu Gewalt, Erfahrung mit kriegerischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielen.»  

Bei der Studie gibt es zwei Vorbehalte: 

•Es werden nicht alle Straftaten entdeckt oder aufgeklärt. 

•Racial Profiling: Je öfter eine Gruppe kontrolliert wird, desto öfter werden Straftaten entdeckt.   

Wer mehr über die Analyse erfahren möchte, dem sei dieser Vortrag von Jann empfohlen. Im Januar 2014 gab der Soziologe zu diesem Thema auch der NZZ ein Interview.  

Die Daten für die interaktive Grafik stammen aus der BFS-Statistik der ständigen und nicht ständigen ausländischen Wohnbevölkerung von 2014, dazu zählen auch Kurzaufenthalter und Asylbewerber, nicht jedoch Illegale, Abgetauchte und Kriminaltouristen. Wir berücksichtigen nur über Zehnjährige, da man vorher nicht strafmündig ist. Die Schweiz zählt so 1’859’948 Ausländer und 5’636’481 Schweizer. Diese Referenzbevölkerung setzten wir ins Verhältnis zur polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Diese weist für das Jahr 2014 exakt 41’582 beschuldigte ausländische Straftäter und 37’487 Schweizer aus (Strafgesetzbuch, StGB). Bei der PKS sind aber auch Kriminaltouristen, Touristen, abgewiesene Asylbewerber und Illegale aufgelistet. Diese sind in der Bezugsbevölkerung des BFS nur teilweise berücksichtigt. Die Berechnung für die interaktive Grafik ist also nicht zum Vorteil der Ausländer.   

Das Betäubungsmittelgesetz haben wir ausgeklammert, hier gibt es weniger Unterschiede bezüglich Deliktquote zwischen Ausländern und Schweizern. Auch das Ausländergesetz berücksichtigen wir nicht, weil dort nur Ausländer betroffen sind. Nicht erfasst sind Straftaten, von denen die Polizei keine Kenntnis hat (Dunkelziffer).

 

19. November 2015:

Die kürzlichen blutigen Terrorattentate in Paris haben eine grosse Diskussion bezüglich des religiösen und politischen Hintergrundes der involvierten Terroristen ausgelöst! Umsomehr als seit Jahren die ganze Welt tagtäglich mit den schrecklichsten Attentaten auf zumeist friedliche und unschuldige Menschen konfrontiert wird, stellt sich selbstverständlich immer wieder von neuem die Frage, inwieweit der "islamische HIntergrund" die entscheidende Rolle dabei spielt.

Bis jetzt habe ich von islamischer Seite diesbezüglich eher Zurückhaltung festgestellt. In der NZZ vom 19. November 2015 erschien allerdings in der "Tribüne" ein Gastkommentar von Jasmin El Sonbati, der aufhorchen lässt, der auf einer ehrlichen selbstkritischen Ebene verfasst ist und der wichtige Aussagen enthält. Jasmin El Sonbati ist Mitbegründerin des Forums für einen fortschrittlichen Islam und Autorin von "Moscheen ohne Minarett. Eine Muslimin in der Schweiz".  

 NZZ vom 19. November 2015/Tribüne

Muslime müssen sich verändern

Gastkommentar von Jasmin El Sonbati 

Als in der Schweiz lebende Muslimin bin ich wie meine Glaubensgeschwister geschockt über den Terror von Paris. Terror ist keine Religion, er ist auch nicht im Islam verankert, wie Scharfmacher uns weismachen wollen. Die islamische Welt äussert nach terroristischen Taten, die in Europa ausgetragen wurden, Betroffenheit. Ebenso reflexartig schaltet sich der Selbstverteidigungsmodus ein, wonach der Westen die Retourkutsche erhalte für das Unheil, das er im Orient gestiftet habe. Eine historische Berechtigung hat die  Mitverantwortung des Westens, sie greift jedoch zu kurz. Es ist eine einseitige Sichtweise, die die Eigenverantwortung ausblendet.

Diejenigen unter uns, die aus Kairo, Damaskus, Tunis, Beirut stammen, in den fünfziger, sechsziger Jahren geboren sind, haben eine offenere Gesellschaft kennengelernt, in der es ausser Beten und koran-Lektüre noch andere Freizeitbeschäftigungen gab. Das  hat sich geändert. Seit den siebziger Jahren ist der Islam im Alltag präsenter denn je. Ein Diskurs der Enge entlang klarer Zuschreibungen von Haram (verboten) und Halal (erlaubt) wurde uns auferlegt. Allah ist der absolute Herrscher, wir sind seine willigen Untertanen. Menschen sind von Natur aus frei, sie entscheiden selber, was sie selig macht. Nicht so der Zeitgenössische islamische Mensch, ihm wird der wahre Islam auferlegt. Unsere Lehrerschaft, unsere Rechtsgelehrten verbieten uns, Fragen zu stellen, die berücktigten "roten" Linien zu überschreiten. Eine Grenzüberschreitung ist schnell ausgemacht, davon zeugt der Fall des saudischen Bloggers Raif Badawi. Er wagte es, ohne dem Islam abzuschwören, für GBewissensfreiheit einzustehen. Dafür sitzt er im Gefängnis und wrd einmal pro Woche ausgepeitscht. Saudiarabien, die Wiege des Islams - Badawis Heimat -. brachte im 18. Jahrhundert das  Schlechteste hervor, das der Islam zu bieten hat, den menschenverachtenden Wahhabismus. Ei Kompendium obskurer Islamvorstellungen. Seit Jahrzehnten predigen muslimische Geistliche an Schulen, Universitäten, in der Quartiersmoschee von nebenabn, auf Fernsehkanälen genau das, was am Islam so abstossend ist: Gewalt, Intoleranz, Hass. Gegen Frauen, Andersgläubige, Christen, Juden, den verdorbenen Westen. Diese radikale Lesart ist nach Europa übergeschwappt. In England, Frankreich sind Moschee machmal zu Orten der Hetze mutiert.

Der muslimische Mensch muss ich den Spiegel vorhalten und genau hineinschauen. Er muss lernen, für sich selber zu denken und sich von religiöser Bevormundung zu befreien. Die Beziehung zum Schöpfer oder die Nichtbeziehung zu ihm ist persönlich. Ich treffe in islamischen Ländern regelmässig überzeugte Atheisten, trotz sozialer Kontrolle und religiöser Dauerberieselung. Das  Bedürfnis, frei zu entscheiden, ob mit oder ohne Allah durchs Leben zu gehen, ist universell.

Veränderung kann nur von denen ausgehen, die sich ihre geistige Freiheit erhalten haben. Nicht von Rechtsgelehren, sie wälzen sich im gleichen Sumpf. Die muslimischen Gemeinde in Europa hingegen können, ja müssen diese geistige Lücke schliessen. Es ist an unseren Imamen - hoffentlich bald auch Imaminnen -, die Texte neu zu lesen, den Islam zuu reformieren. Sie haben diese Chance fürs Erste verpasst, hätte sich sonst der europäische Salafismus à la Pierre Vogel und Nicolas Blancho überhaupt etablieren können? Die Moschee als Raum der geistigen Freiheit, wo Jugendliche und Erwachsene tabulos über Gott und die Welt diskutieren. Ich träume von einem Imam, der öffentlich verkündet: "Ab heute kommen in meiner Predigt keine Verse mehr vor, die von Gewalt reden." Wir Musliminnen und Muslime Europas haben die besseren politischen Bedingungen, Änderungen einzufordern und umzusetzen. Tun wr es also! Auch wir müssen über den vererbten Schatten der Unterwerfung springen. Schliesslich müssen wir geschlossen und unmissverständlich gegen islamische Radikalismus zusammenstehen. Der Islam gehört zu Europa, davon bin ich überzeugt. Aber nur, wenn er sich den Spiegel vorhält und sich nicht vor sich selber versteckt.

 

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13./14. November 2015

Eine Terrorwelle erschüttert Paris! Der IS hat zugeschlagen und gegen 200 unschuldige Menschen ins Jenseits befördert! Nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa oder sogar die ganze Welt, ist aufgeschreckt! Der blutige Terror des islamistischen Kampfes gegen die freie Welt erschüttert auch uns Schweizer. Und wie immer bei solchen Ereignissen, fühlt sich die Gesprächsrunde des Interreligösen Runden Tisches im Kanton Zürich und des Zürcher Forums der Religionen herausgefordert, eine Stellungnahme im Namen der angeschlossenen Religionen herauszugeben. Und wie immer, so ist auch diese "Stellungnahme" ein Glanzstück von gesagtem "Nichtgesagtem":  schöne Worte mit eigentlich sehr wenig Inhalt!

Auch bei Debatten in den Medien wird immer wieder auf den Unterschied  zwischen Islamistischen Terrororganisationen  und dem Islam hingewiesen. Islamistisch und islamisch sei nicht das Gleiche, wird betont! Mir scheint bei solchen Spitzfindigkeiten, wie wenn man über einen Alkoholiker sagen würde, er hätte nichts mit Alkohol zu tun!  

Stellungnahme des Interreligiösen Runden Tisches im Kanton Zürich und des Zürcher Forums der Religionen

(Zu den Terrorattentaten vom 13.11.2015 in Paris)

 

Wir Leitungspersonen und weitere Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften des Kantons Zürich sind entsetzt und tief betroffen vom Leid, das die gestrigen Terrorangriffe in Paris angerichtet haben.

 

Wir verneigen uns vor den vielen unschuldigen Opfern und sind allen ihren Angehörigen nahe. Und wir nehmen Anteil am aufgewühlten Denken und Fühlen der ganzen Bevölkerung in Paris. Die politische Entwicklung der letzten Zeit betrifft und beschäftigt uns alle.   

 

Der Terror von gestern war das Werk von verblendeten und gewissenlosen Mördern, denen es darum geht, in Europa und darüber hinaus Angst, Schrecken und Zwietracht zu verbreiten.

 

Jede religiös verbrämte Gewalt belastet das Verhältnis zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften schwer. Und die Anschläge von gestern sind auch Gift für einen menschlichen Umgang mit den vielen Flüchtlingen, die zur Zeit in Europa Zuflucht suchen.

 

Wir bitten darum alle, in diesen schweren Stunden keine pauschalen Schuldzuweisungen zu machen und vor allem auch Impulsen der Rache keinen Raum zu geben. Der erklärte Krieg der Terroristen darf unsere Köpfe und Herzen nicht verbittern und die Religionen nicht gegeneinander aufbringen.

 

Wir wollen heute mit klarem Kopf und offenen Herzen und über alle Religionsgrenzen hinweg zusammen stehen und unsere Grundwerte der Freiheit, der Sicherheit und des religiösen Friedens gemeinsam verteidigen.

 

Lasst uns miteinander und mit allen Menschen guten Willens eine grosse Koalition der Menschlichkeit bilden. Und ein starkes Bündnis gegen die Barbarei.

 

FÜR DEN INTERRELIGIÖSEN RUNDEN TISCH                        FÜR DAS ZÜRCHER FORUM DER RELIGIONEN                         

Pfr. Michel Müller, Kirchenratspräsident Reformierte Kirche (Vorsitz)      Pfr. Dr. Christoph Sigrist, Präsident
Dr. André Bollag, Co-Präsident Israelitische Cultusgemeinde
Dr. Zeno Cavigelli, Synodalrat Katholische Kirche
Alex Dreifuss, Präsident Jüdische Liberale Gemeinde
Dr. Mahmoud El Guindi, Präsident Vereinigung Islamischer Organisationen

Weitere Infos: http://www.rundertisch.ch/content/e131/index_ger.html sowie http://www.forum-der-religionen.ch/neu

Für Rückfragen: Philippe Dätwyler, Sekretär Interreligiöser Runder Tisch, Tel. 079 667 53 64

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20. Oktober 2015

Zum aktuellen Flüchtlingsdrama

In der Schweiz fanden über das Wochenende vom 17./18. Oktober 2015 National- und Ständeratswahlen statt. Ein ganz wichtiges Thema in den Wahlkampagnen (und dann letztlich beim Wahlverhalten) war ohne Zweifel das gegenwärtige Flüchtlingsdrama! Hunderttausende von Menschen (darunter gegen 70% junge Männer unter 30) versuchen schon seit einiger Zeit nach Westeuropa zu gelangen. Die Länder der EU sind mit diesem Ansturm eindeutig überfordert. Früher oder später wird auch die Schweiz direkt mit einer grösseren Flüchtlingswelle konfrontiert werden. Was geschieht dann?  Zwei Extremreaktionen der Bevölkerung sind rund um das aktuelle Flüchtlings-/Immigrationsdrama beobachtbar: auf der einen Seite artikulieren sich viele Schweizer als "Gutmenschen" für die unbegrenzte Aufnahme dieser Menschen in unserem Land; es wird auch hier eine sogenannte"Willkommenskultur" ausgelebt. Mit viel Empathie wird für diese Flüchtlinge geworben und gesammelt. Auf der anderen Seite hört man aber immer mehr sehr kritische Stimmen. Fragen tauchen auf, die berechtigt sind und die auf den Tisch gehören! Wie werden sich diese vielen Menschen, die aus einem fremden Umfeld von Kultur und Religion stammen, integrieren können? Wie werden sich diese Menschen entwickeln (v.a. die jungen Männer, die das Hauptkontingent ausmachen), wie werden sie sich  in unserer Umwelt von Liberalität und Demokratie verhalten? Muss mit einer Radikalisierung dieser meistens muslimischen Immigranten zu rechnen sein, wird sich ein fanatischer und intoleranter Islam  in Zukunft ausbreiten? Werden wir zukünftig mit blutigem Terror überrollt werden aus Kreisen, die sich nicht integrieren wollen oder können? Wird es dann als Reaktion darauf zu starken sozialen Spannungen kommen?

Diesen Fragen geht Peter Neumann, ein Sicherheitsexperte, im nachstehenden Interview nach.

 

«Europa steht am Beginn einer neuen Terrorismuswelle»

Sicherheitsexperte Peter Neumann über die Flüchtlingswelle, den IS und neue Jihadisten, die Gefahren für Europa und bessere Ansätze der Terrorprävention. (Tages-Anzeiger 20.10.2015)

 

Erhöhte Wachsamkeit in Europas Hauptstädten: Soldaten beim Eiffelturm nach den Anschlägen in Paris im letzten Januar. Bild: AFP

Die Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten hat in Europa viele Ängste ausgelöst. Es gibt etwa die Sorge, dass sich IS-Jihadisten unter die Flüchtlinge mischen, um später in Europa Anschläge auszuführen. Ist diese Sorge berechtigt?
Dass der IS aktiv und systematisch Leute nach Europa einschleust, trifft nicht zu. Es gibt bisher einen einzigen dokumentierten Fall aus Deutschland. Der mutmassliche Jihadist wurde von den Flüchtlingen der Polizei gemeldet. Die Flüchtlinge selbst haben kein Interesse, dass Jihadisten den Weg nach Europa finden. Die Hysterie, die teilweise von Politikern geschürt wird, ist nicht gerechtfertigt. Dagegen ist es ein echtes Problem, dass hochradikalisierte Muslime und potenzielle Terroristen längst unter uns leben. Die Anschläge in Paris und Kopenhagen Anfang dieses Jahres waren keine Einzelfälle. Sie sind vielmehr erste Hinweise darauf, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten passieren wird. Europa steht am Beginn einer neuen Terrorismuswelle, die uns noch eine Generation lang beschäftigen wird. Und das ist nicht alles.

Woran denken Sie?
Eine zweite, mindestens genauso grosse Gefahr ist, dass sich die europäischen Gesellschaften weiter polarisieren. Parteien und militante Gruppen am rechten Rand gewinnen bereits an Zulauf. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft wird in Europa noch schwieriger. Mit der zunehmenden Polarisierung entstehen auch neue Bedrohungen für Minderheiten wie Juden und nicht zuletzt Muslime. Letztlich stehen unsere Demokratie und das europäische Gesellschaftsmodell auf dem Spiel. Das ist meine grösste Sorge.

Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière hat die Pegida als «harte Rechtsextremisten» bezeichnet. Ist es nicht irgendwie verständlich, dass diese Leute gegen die Flüchtlingspolitik der Merkel-Regierung protestieren?
Natürlich ist es nachvollziehbar, dass die Menschen Ängste haben und deswegen auf die Strassen gehen. Das Problem ist, dass Organisationen wie Pegida häufig von Rechtsextremen gesteuert werden, die sich die öffentliche Angst zunutze machen und für ihre eigenen, viel radikaleren Zwecke nutzen. Wichtig ist, dass die Politiker die Sorgen der Bürger ernst nehmen, sich aktiv ihren Fragen stellen und das Thema Flüchtlinge nicht aus Feigheit und Angst vor dem Zorn der eigenen Wähler allein den radikalen Kräften überlassen.

Sehen Sie die Gefahr weiterer rechter Terroraktionen nach dem Anschlag auf die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker?
Ja, diese Gefahr besteht. «Einsame Wölfe» gibt es nicht nur bei den Jihadisten, sondern auch bei den extremen Rechten. Und genauso wie bei den Jihadisten droht durch sie eine Polarisierung der Gesellschaft und dass sich die Extreme gegenseitig hochschaukeln.

Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch von neuen Jihadisten, und Sie sehen eine neue Terrorismuswelle auf Europa zukommen. Können Sie diese düstere Prognose begründen?
Der Terrorismus ist ein zyklisches Phänomen. Er kommt in Wellen, die 25 bis 30 Jahre dauern. Gesehen haben wir das zum Beispiel beim linken Terror, etwa durch die RAF in Deutschland, danach auch beim radikalislamischen Terror des Netzwerks al-Qaida. Die al-Qaida entstand in den Wirren des Afghanistankriegs in den 1980ern und verübte ihre Anschläge in den 1990er- und 2000er-Jahren. Jetzt haben wir es mit einer neuen Generation von Jihadisten zu tun. Die Lage ist deshalb so gefährlich, weil die Anzahl der – teilweise sehr jungen – Jihadisten viel höher ist als in der Vergangenheit. Eine solche Mobilisierung von Jihadisten hat es noch nie gegeben. Das, was im Nahen Osten derzeit geschieht, produziert eine ganze Generation von Leuten, die auch in Europa Anschläge verüben werden. Das ist auch im Sinne des IS.

Dass Terroristen wie der IS einen eigenen Staat ausrufen, ist ein ungewöhnliches Phänomen. Welche Rolle spielt der IS für die neuen Jihadisten?
Mit der Eroberung von grösseren Gebieten in Syrien und im Irak ist es dem IS gelungen, Wurzeln zu schlagen und ein sichtbares Zentrum einer neuen, totalitären Bewegung zu werden. Für die neuen Jihadisten ist der IS ein logistischer Dreh- und Angelpunkt, aber auch Utopie und Inspiration. Allein aus Europa sind in den letzten drei Jahren mindestens 5000 Kämpfer nach Syrien und in den Irak gegangen. Nicht jeder europäische IS-Kämpfer, der zurückkehrt, wird ein Terrorist sein, aber einige können gefährlich werden. Ausserdem gibt es zahlreiche Unterstützer und Sympathisanten des IS, die bereits in Europa leben. Auch sie können zu Attentätern werden. Wer nach potenziellen Terroristen sucht, wird bei den Salafisten fündig. Praktisch alle europäischen Jihadisten sind vom Salafismus radikalisiert worden.

Wachsende Salafistenszenen gibt es vor allem in Grossbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Welche Menschen sind anfällig für den Salafismus? Und warum findet diese radikale Form des Islams zunehmend Anhänger?
Attraktiv ist der Salafismus vor allem für die Gestrandeten, Orientierungslosen und Zurückgelassenen. Er richtet sich an Menschen, die sich von der Gesellschaft allein gelassen oder an den Rand gedrängt fühlen und die nach einer neuen Identität suchen. Dazu gehören insbesondere junge Muslime, die nicht wissen, wo sie hingehören, aber auch deutsche Jugendliche aus kaputten Elternhäusern, Kleinkriminelle und Aussenseiter. Der Salafismus bietet diesen Leuten Rebellion gegen alles, wofür westliche Gesellschaften stehen. Er schafft Ordnung, indem er mit klaren Regeln und Verboten für jede Lebenssituation eine Antwort parat hat. Schliesslich bietet der Salafismus seinen Anhängern Gemeinschaft und Akzeptanz – unabhängig vom persönlichen Hintergrund.

Inwiefern können die Salafisten von der aktuellen Flüchtlingswelle nach Europa profitieren? Sicherheitsbehörden wie der deutsche Verfassungsschutz befürchten, dass sie unter den Flüchtlingen neue Anhänger anzuwerben versuchen.
Die Salafisten versuchen dies, ja. Sie werden aber keinen Erfolg haben. Dieser Salafismus ist auf die Verlierer in den europäischen Gesellschaften zugeschnitten. Die Flüchtlinge, die jetzt kommen, sind momentan noch begeistert von Europa, sie wollen sich hier eine gute Zukunft aufbauen. Das Letzte, was etwa Syrien-Flüchtlinge brauchen, ist ein rothaariger deutscher Salafist wie der Prediger Pierre Vogel, der ihnen etwas über den Islam erzählt. In fünf bis zehn Jahren kann sich die Einstellung mancher Flüchtlinge ändern, wenn ihre Integration nicht gelingt und sie Europa nicht mehr als positiv erleben. Dann könnten Frustration und Radikalisierung entstehen. Und dies würde nur dem Jihadismus nützen.

Wie unterscheidet sich der Terror der europäischen Jihadisten vom Terror der al-Qaida?
Im Gegensatz zu al-Qaida haben sie begriffen, dass man auch mit relativ «kleinen Anschlägen» eine grosse, schockierende Wirkung erzielen kann. Dazu kommt, dass «einsame Wölfe» oder Kleinstgruppen, die einfache Aktionen planen, von den Geheimdiensten kaum rechtzeitig entdeckt werden können. Anders ist dies bei den Anschlägen, die eine längere, komplizierte Planung erfordern und an denen viele Leute beteiligt sind. Europa drohen also nicht Anschläge wie in den USA (9/11) oder wie in Madrid (2004) und London (2005), sondern wie in Paris und Kopenhagen in diesem Jahr. In diese Kategorie gehört auch der von Passagieren vereitelte Anschlag im Thalys-Zug von Amsterdam nach Paris im letzten August. Solches Glück werden wir nicht immer haben.

Nach jeder Terroraktion in Europa erfahren wir, dass die Attentäter der Polizei und den Geheimdiensten bekannt gewesen waren. Was läuft schief in der Terrorabwehr?
Die Zahl der Salafisten ist so hoch, dass nicht alle Verdächtigen permanent überwacht werden können. Die Sicherheitsbehörden müssen laufend entscheiden, wer gefährlich ist und wer nicht. Somit besteht das Risiko, dass spätere Attentäter durch den Raster fallen, wenn sie längere Zeit nicht mehr auffällig gewesen waren. Die Bekämpfung des Terrorismus muss neu gedacht werden. Es genügt längst nicht mehr, zusätzliche Polizisten einzustellen und den Geheimdiensten mehr Befugnisse zu geben.

Was schlagen Sie vor?
Jedes Land braucht eine nationale Strategie. Dazu gehört auch ein Konzept mit Prävention, Intervention und Deradikalisierung. Je nach Fall setzen sich Eltern, Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrer oder Theologen zusammen, und sie entscheiden dann, mit welchen Massnahmen die Radikalisierung eines Jugendlichen gestoppt werden kann. Beispiele aus den Niederlanden und Grossbritannien zeigen, dass dieser Ansatz erfolgreich sein kann. Das britische Channel-Programm hat eine Erfolgsquote von 70 Prozent. Um die restlichen 30 Prozent kümmern sich die Sicherheitsbehörden. Es ergibt auch Sinn, dass sich Polizei und Geheimdienste auf die wirklich gefährlichen Personen konzentrieren können. So kann die Terrorabwehr wirksamer werden.

Sie haben die Deradikalisierung als wichtiges Element der Terrorprävention erwähnt. Wie funktioniert das?
Zunächst braucht es das Gespräch über die problematischen Ideen, die eine radikalisierte Person hat. Daneben geht es um die Frage, welche persönlichen Probleme oder Krisen den Salafismus für diese Person attraktiv gemacht haben und welche Lösungen es dafür gibt. Schliesslich muss diese Person aus der salafistischen Szene geholt werden.

Wie kann das gelingen?
Die Szene der Salafisten ist so abgeschottet, dass Radikalisierte nur untereinander Kontakte haben. In manchen Fällen bedeutet dies, dass ein Umzug nötig ist. Exit-Programme helfen beim Aufbau eines neuen sozialen Umfelds und von neuen Kontakten. Das Wichtigste ist zunächst, Zugang zu den radikalisierten Personen zu finden. In vielen Fällen gibt es nur einen Menschen, dem sie zuzuhören bereit sind, beispielsweise ein Fussballtrainer, ein Lehrer, die Mutter oder ein Imam. Auch echte IS-Aussteiger, die desillusioniert aus dem Nahen Osten zurückgekehrt sind, könnten dank ihrer Glaubwürdigkeit eine bedeutende Rolle bei der Präventionsarbeit spielen.

Auch die muslimischen Verbände und Organisationen könnten eine wichtige Rolle einnehmen im Kampf gegen die Radikalisierung. Sie wirken aber hilf- und ahnungslos im Umgang mit den Salafismus-Phänomen. Wie beurteilen Sie das?
Ich nehme die muslimischen Gemeinschaften immer in Schutz, denn 99 Prozent der Muslime haben nichts mit Salafismus zu tun. Aber sie engagieren sich tatsächlich zu wenig. Gerade sie müssten ein grosses Interesse daran haben, dass die Salafisten den Islam nicht für sich in Anspruch nehmen und dass diese nicht alle Muslime in den Dreck ziehen. Sie haben es versäumt, sich um ihre eigene Jugend zu kümmern.

Was machen sie falsch?
Die muslimischen Organisationen sind sehr konservativ und ihre Anführer meist ältere Männer, die kein Gespür dafür haben, was mit den jungen Menschen in ihrer Gemeinschaft los ist. Sie haben nichts zu sagen zu Themen wie Identität, Sex oder Drogen, die die Jugendlichen tatsächlich beschäftigen. In einer traditionellen Moschee erhalten junge Muslime keine Antworten auf ihre Fragen. Gehen sie ins Internet, finden sie den salafistischen Prediger Pierre Vogel, der kumpelhaft und sympathisch wirkt. Vor allem spricht er über alle Themen. So fangen die Salafisten junge Leute ein. Und damit entsteht die Gefahr neuer Jihadisten und IS-Kämpfer.

Im Rahmen Ihrer Forschung haben Sie über Internet und Social Media Kontakte mit IS-Kämpfern aufgenommen und solche Leute im türkisch-syrischen Grenzgebiet auch getroffen. Wie ist deren Kriegsbegeisterung zu erklären?
In Europa gibt es mittlerweile eine Art salafistische Gegenkultur. Da geht es um Rebellion, Stärke, Maskulinität und Abenteuer. Das ist vielen genauso wichtig wie Ideologie oder Religion, mit denen sich die meisten Syrienkämpfer gar nicht so gut auskennen, wie man häufig denkt. Hinzu kommt, dass mit dem Islamischen Staat jetzt ein ganz konkretes Symbol existiert – eine jihadistische Utopie.

Der IS hat sein Kalifat im Juni 2014 ausgerufen. Seit einem Jahr versucht eine internationale Koalition um die USA, den IS zu bekämpfen. Inzwischen kämpfen auch die Russen im Syrienkrieg. Wie lange kann sich der IS noch halten?
Der IS ist konventionell nicht zu besiegen. Was es braucht, ist eine aggressive Strategie der Eindämmung. Der IS darf keine Territorien dazugewinnen, er muss isoliert werden. Dann kann das Kalifat in Syrien und im Irak auf Dauer nicht überleben. Ohne territoriale Expansion kommt die Wirtschaft des IS ins Stocken, die Versorgung der Bevölkerung verschlechtert sich, und es entstehen interne Spannungen. Wenn es gelingt, den IS einzudämmen, wird er in ein paar Jahren implodieren. (Tages-Anzeiger)

Peter Neumann ist Politikwissenschaftler und Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London und leitet das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das weltweit bekannte Forschungsinstitut zum Thema Radikalisierung und Terrorismus. Neumann ist ein gefragter Berater von Regierungen, Geheimdiensten und internationalen Organisationen wie etwa die UNO. Zudem ist er als Publizist aktiv. Sein neuestes Buch heisst «Die neuen Dschihadisten» (Ullstein Buchverlage). (vin)