Was bewegt, was fordert uns heraus?

 

 

 

Lieber Besucher

Wir leben bekannterweise nicht als Einzelwesen, sondern gehören als Individuen auch zu einem Kollektiv, zur Gesellschaft. Und in dieser Welt, in der wir leben, gibt es Tag für Tag Ereignisse, die uns alle, als Individuum, aber auch als Gruppe, in der wir uns bewegen, betreffen!  Tagtäglich passieren Sachen, die uns - je danach - herausfordern, uns zur Stellungnahme zwingen, oder über die wir uns ganz einfach ärgern und auch freuen, aber auch erschrecken und belasten.

Aber sind es manchmal nicht auch so kleine Episoden und Skuriles, denen wir begegnen, die uns zum Schmunzeln bewegen und die unser Leben nicht selten  erfreuen? 

Hier auf dieser Seite möchte ich von Zeit zu Zeit  aktuelle Themen aufgreifen, denen ich begegne, die ich mit Ihnen teilen möchte!

2024 

Im Moment brodelt es auf der ganzen Welt: Der Ukrainekrieg, von Russland am 24. Februar 2022 begonnen, geht weiter. Ein Ende ist nicht abzusehen. Nach dem brutalen und blutigen HAMAS-Überfall auf unschuldige Israelis reagierte Israel mit einer Attacke auf die fanatischen Terroristen. Extreme Zahlen von Toten und Verletzten - herausgegeben von der Terrororganisation HAMAS - versuchen die ganze Welt gegen Israel aufzubringen. Weltweit gibt es riesige Kundgebungen zu Gunsten der Palästinenser ("Free Palestine, from the River to the Sea!"), die dem jüdischen Staat vorwerfen, einen "Genozid" an den Palästinensern zu vollbringen und im Land selber eine Apartheid-Politik zu betreiben. Der "Antisemitismus" hat unmittelbar nach dem fürchterlichen Pogrom an Israelis explosionsartig zugenommen. Man bekommt den Eindruck, dass ein Grossteil der Welt sich gegen Israel stellt. Aber nicht nur das: mehr und mehr jüdische "Nestbeschmutzer" legen sich für die Israelhasser ins Zeug und vertreten ihre Position.

So eine Person ist die (jüdische) Amerikanerin  Judith Butler. Thomas Ribi versucht in seinem NZZ Feuilleton-Artikel vom 22.3.2024 diese Frau zu porträtieren:

Neue Zürcher Zeitung – 22. März 2024 Seite: 35
Feuilleton
Die Philosophin der Gewalt
Frauen sind keine Frauen, der Hamas-Terror ist legitimer Widerstand – Judith Butler
verfängt sich in ihren Theorien. Von Thomas Ribi


Wer Judith Butler kritisiert, hat sie nicht richtig verstanden. Das sagt sie selbst manchmal.
Vor allem aber sagen es die, die sie verteidigen. Dann, wenn eines ihrer öffentlichen
Statements für Empörung sorgt. Und das kommt immer wieder vor. Das Massaker der
Hamas vom 7. Oktober sei kein Terrorismus, sagte sie vor kurzem an einer
Podiumsdiskussion in Paris. «Historisch korrekter» sei es, das als Akt des «bewaffneten
Widerstands» zu verstehen. Es sei kein antisemitisch motivierter Angriff. Sondern ein
Aufstand gegen den «gewalttätigen Staatsapparat» Israels.
Das klingt wirr. Aber verwundern kann es niemanden. Judith Butler sagt es seit Jahren.
Hizbullah und Hamas als Terrororganisationen zu bezeichnen, greift ihrer Ansicht nach zu
kurz. Es sei «sehr wichtig», sie als «soziale Bewegungen» und Teil der internationalen
Linken zu begreifen. Als Genossen im Kampf gegen Imperialismus und Unterdrückung. Die
Äusserung führte 2012 zu einer erregten Debatte darüber, ob es richtig sei, ihr den AdornoPreis der Stadt Frankfurt zu verleihen. Einer «bekennenden Israel-Hasserin», wie der Zentralrat der deutschen Juden sie nannte.


Moral – wozu?
Butler relativierte. Ein bisschen. Und widerrief trotzdem keine einzige ihrer Aussagen. So,
wie sie es heute noch tut. Wenige Tage nach dem Anschlag der Hamas vom vergangenen
Herbst veröffentlichte sie in der «London Review of Books» einen Essay, in dem sie den
Angriff zunächst pflichtschuldigst verurteilte, um ihn dann so wortreich wie gewunden als
Reaktion auf jahrzehntelange Unterdrückung der Palästinenser durch Israel zu erklären. Das
Morden sei «fürchterlich und abstossend», schrieb sie. Aber begreiflich.
Auch da wurde Judith Butler nicht richtig verstanden. Es gehe ihr darum, zu erklären, wie es
zu dieser Gewalt gekommen sei, sagte sie später. Die Geschichte der Gewalt zu
rekonstruieren. Das bedeute nicht, sie zu billigen, betont sie. Das bleibt freilich Behauptung,
auch wenn sie es dauernd wiederholt. Entscheidend ist die Begrifflichkeit. Indem sie als
Widerstand bezeichnet werden, sind die Greueltaten legitimiert. Und wichtig ist für Butler,
dass man sich entscheiden müsse: Entweder fälle man ein moralisches Urteil und
berücksichtige die Geschichte nicht. Oder man bemühe sich, die Dinge wirklich zu
verstehen.


Wer ein moralisches Urteil fällen wolle, habe sich für «Unwissenheit und Slogans»
entschieden. Auf der anderen, auf der richtigen Seite stünden die, die sich um «historische
Untersuchungen» und «klare moralische Argumente» bemühten. So sagte es Butler Ende
des vergangenen Jahres der «Frankfurter Rundschau» in einem der seltenen Interviews, die
sie deutschsprachigen Medien gibt: «Wenn wir nur daran interessiert sind, zu klären, wer für
die Anschläge am 7. Oktober verantwortlich ist, dann beginnen wir die Geschichte an diesem
Tag. Wenn wir aber verstehen wollen, wie es zu diesen Anschlägen kam, dann müssen wir
viel früher mit der historischen Erklärung beginnen.»
«Nur» sagt Butler. Nur um die Verantwortung für den Tod von Tausenden von Menschen und
die Folterung von Geiseln dürfe es nicht gehen. Was soll Moral, wenn grosse historische
Zusammenhänge im Spiel sind? Und die Verantwortung liegt am Ende nicht bei den Mördern
22.03.24, 11:00 Swissdox_document
https://pro.swissdox.ch/View/view/document/text?documentid=53079359&sortorder=score desc&SEARCH_query=Israel Palästina&SEARCH_pu… 2/3
und Vergewaltigern der Hamas. Sondern in politischen Entscheidungen der Vergangenheit.
Judith Butler würde das Differenzierung nennen. Und ihre internationale Fangemeinde nimmt
es begeistert auf, als willkommene Bestätigung der politischen Logik, mit der sie die eigenen
Vorurteile aufrechterhält. Denn Judith Butler ist ein Star. Die achtundsechzigjährige
Professorin für Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaft an der University of
California in Berkeley ist eine intellektuelle Ikone der neuen Linken. «Die grosse Denkerin»
nennt sie die «Süddeutsche Zeitung», «eine der berühmtesten Intellektuellen der Welt». Die
«WoZ» spricht von der «Ikone des differenzierten Denkens», und im linksintellektuellen
Milieu gilt sie sowieso als Diva des Genderismus. Als die Frau, die gezeigt hat, wie die Dinge
wirklich sind: nicht so einfach, wie man denken würde.


Die Sache mit dem Geschlecht
Zum Beispiel, wenn es um das geht, was wir Geschlecht nennen. Mit dem Buch «Gender
Trouble» hat Butler Anfang der neunziger Jahre das Verständnis der Geschlechterordnung
auf den Kopf gestellt. Das «Unbehagen der Geschlechter», das Butler meint, entsteht ihrer
Theorie nach dadurch, dass die Kategorie Geschlecht weniger biologisch, sondern kulturell
bestimmt sei. Unsere Identität als Mann oder Frau, sagt sie, beruhe auf Zuschreibungen.
Männer seien Männer und Frauen Frauen, weil sie von ihrer Umgebung als solche definiert
würden. Und sie sich selbst aufgrund dieser Prägung als Mann oder Frau empfänden.
Sex, das biologische Geschlecht, und Gender, das soziale Geschlecht, seien zwei
verschiedene Dinge, sagt Butler. Gender sei so etwas wie eine Rolle, die sich aus dem
gesellschaftlichen Umgang der Menschen untereinander ergebe. Und deshalb nicht
unveränderlich. Butlers Buch gehört bis heute zu den meistgelesenen Titeln der
Genderliteratur, ihre Thesen sind Teil der Allgemeinbildung geworden, und Papst Benedikt
XVI. fühlte sich mehrmals verpflichtet, vor der gefährlichen Ideologie zu warnen, die die
Familie zerstöre. Butler bestreitet nicht, dass es biologische Unterschiede zwischen den
Geschlechtern gibt. Aber beharrt darauf, dass es auf einem Entscheid beruht, wie und wie
streng eine Gesellschaft ihre Mitglieder nach den biologischen Merkmalen ordnet.


Bohrende Fragen
Das erste Mal sei ihr das bewusst geworden, als sie vierzehn gewesen sei, sagte Judith
Butler einmal. Ihr Sportlehrer erlaubte ihr nicht, mit der American-Football-Mannschaft zu
trainieren. Und zwar nicht, weil sie zu wenig kräftig gewesen wäre, sondern mit der
Begründung, sie sei ein Mädchen. Das wollte sie nicht akzeptieren. Zur gleichen Zeit soll sie
vom Rabbiner der jüdischen Schule in Cleveland, die sie besuchte, zu einem Ethikkurs
verknurrt worden sein, weil sie bohrende Fragen stellte.
Das war anscheinend als Strafe gedacht. Bei Judith, deren Eltern praktizierende Juden
waren – die Mutter Ökonomin, der Vater Zahnarzt –, weckte es die Lust auf Philosophie. Und
das heisst: auf weitere Fragen. Sie begann Spinoza, Martin Buber, John Locke und
Montesquieu zu lesen. Mit sechzehn hatte sie ihr Coming-out. Nach der Schule studierte sie
Philosophie in Yale und Heidelberg und promovierte mit einer Arbeit über den Begriff der
Begierde bei Hegel. Seit 1993 ist sie Professorin in Berkeley und lebt mit der Politologin
Wendy Brown und dem gemeinsamen Sohn in Kalifornien.


Philosophin, Feministin, queere Aktivistin, Jüdin und immer für eine Provokation gut: Judith
Butler ist es gewohnt, viele Rollen zu spielen. Sie weiss, dass sie aneckt, und sie tut es gern.
«I will get in trouble for this», hört man sie am Ende des Videomitschnitts aus Paris sagen,
nachdem sie die Attacke der Hamas legitimiert hat: «Dafür werde ich Ärger bekommen.» Sie
lächelt schüchtern. Um sie herum Jubel und Applaus. Sie weiss, was ihre Fans von ihr hören
wollen.


Das Problem mit Deutschland
Der Ärger, den sie sich einhandelt, bestätigt sie nur in ihren Ansichten. Sie zelebriert ihn.
Nach Deutschland wolle sie nicht mehr reisen, verriet sie kürzlich einer Journalistin der
«Zeit». Weil sie die Berichterstattung über sich als «aggressiv, sogar antisemitisch»
empfinde. Sie selbst lässt allerdings keine Gelegenheit aus, Israel fundamental zu
kritisieren. Als selbsterklärte Antizionistin spricht sie dem Staat das Existenzrecht ab und
unterstützt die Boykottkampagne BDS («Boykott, Divestment and Sanctions»), die in
Deutschland offiziell als antisemitisch gilt.


Doch genau da liegt für Butler das Problem mit Deutschland. Viele Deutsche fühlten sich
dazu verpflichtet, Israel bedingungslos zu unterstützen, sagt sie – weil sie ja nicht als
antisemitisch gelten wollten. Wer Gerechtigkeit für Palästina fordere, werde angegriffen, und
eine jüdische Antizionistin wie sie werde zum Freiwild. «Ich bin eine Jüdin, die sich die
Deutschen erlauben anzugreifen oder sogar zu hassen», liess sie in der «Zeit» verlauten.
Was Israels Krieg gegen die Hamas betrifft, ist der Fall für Butler selbstverständlich klar: Das
ist Genozid. Man muss das wohl als intellektuelle Kapitulation einer Denkerin verstehen, die
sich in ihren eigenen Theorien verfängt. Als Notsignal einer Philosophin, in deren
Arbeitszimmer sich Hass, Gewalt, Elend und Tod in reine Begriffe aufgelöst haben, denen
keine physische Realität mehr entspricht. Das Sprechen, heisst es in einem ihrer Bücher,
entziehe sich «stets in gewissem Sinn unserer Kontrolle». Dem wird man nicht
widersprechen.


Was Israels Krieg gegen die Hamas betrifft, ist der Fall für Butler klar: Das ist Genozid.
Sie weiss, dass sie aneckt, und man hat den Eindruck, sie tut es gern: die GenderTheoretikerin und selbsterklärte Antizionistin Judith Butler.

 

Februar 2024 

Die Engländer haben das Monster "Jack the Ripper", und die Österreicher haben "Jack the Writer". Zwei Verrückte, über die noch lange geredet und geschrieben wird! 

Er ermordete Frauen und schrieb darüber: Weil Jack Unterweger sich im Prostituierten-Milieu auskannte, liess ihn der ORF Reportagen verfassen über Morde, die er selber begangen hatte

Kollegen glaubten, der Schriftsteller Jack Unterweger sei geläutert. Doch er tötete weiter.

Paul Jandl04.02.2024, 05.30 Uhr6 min


Der letzte Auftritt des Serienmörders vor grossem Publikum: Am 20.April begann am Grazer Geschworenengericht der Prozess gegen Jack Unterweger.

Leopold Nekula / Sygma / Getty


Sein Ruhm sollte sich als flüchtig erweisen, aber fliehen konnte der Berühmte erst einmal nicht. Jack Unterweger sass wegen Mordes an einer Prostituierten in der Justizanstalt Stein, als ihn am 30.September 1983 eine illustre Delegation besuchte. Eigens angereiste Wiener Ministerialbeamte, Schriftsteller und Journalisten wollten hören, was das literarische Wunderkind zu bieten hatte. Und Unterweger legte los: Er las aus seinem Lyrikband «Tobendes Ich» und aus dem autobiografischen Roman «Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus». Poesie und Prosa über ein verpfuschtes Leben, denen das Publikum ergriffen lauschte.

Unterweger war als vaterloses Kind einer Kärntner Kellnerin beim trunksüchtigen und brutalen Grossvater aufgewachsen. Der weitere Weg war vorgezeichnet. Eine Erziehungsanstalt. Diebstahl, Betrügereien, Vergewaltigungen. Im Dezember 1974 dann der erste Mord. Margret Schäfer aus dem hessischen Dillenburg wird von Jack Unterweger brutal misshandelt und schliesslich in einem Waldstück umgebracht. Der Täter wird gefasst, das Urteil: lebenslänglich.

Was sich in den nächsten Jahren abspielt, ist ein Rührstück der Sozialromantik. An vorderster Front stehen Schriftsteller mit grossen Namen. Erich Fried, Ernst Jandl, Günter Grass, Elfriede Jelinek und einige hundert mehr haben eine Petition zur vorzeitigen Freilassung Jack Unterwegers unterzeichnet. Weil sie an das Gute im Menschen ganz generell und in diesem besonders glaubten.


1990 kommt der vermeintlich geläuterte und zum Autor avancierte Mörder tatsächlich frei. Der Mann, der bei Haftantritt kaum lesen und schreiben konnte, hat die schiefe Bahn verlassen und ist in der High Society der Kunst gelandet. Er ist der Star einer linksliberalen Literatenszene, wird hofiert und fährt wie ein Zuhälter im weissen Ford Mustang durch Wien. Bis wieder tote Prostituierte gefunden werden.


Nicht alle Menschen sind schuldig

Das Österreich der siebziger und achtziger Jahre funktioniert als politisches Paralleluniversum. Der Musil-Leser Bruno Kreisky ist Kanzler. Die Verbindungen zwischen Kunst und Politik sind eng, und es gibt mit Christian Broda einen Justizminister, der vom «gefängnislosen Staat» träumt.

Das Mantra von der universell möglichen Resozialisierung und der Glaube daran, dass nicht die Menschen schuldig sind, sondern die Umstände, schaffen einen blinden Fleck, in dem sich jemand wie Jack Unterweger verstecken kann. Nicht einmal das Gutachten des Gerichtspsychiaters wird wirklich ernst genommen. Der schätzt Unterweger als «gefühlsarmen, explosiven, aggressiven Psychopathen» ein. Rückfälle seien «mit Sicherheit zu erwarten».

Und die Rückfälle, sie kommen. England hat Jack the Ripper, Österreich Jack the Writer. Nach wenigen Monaten in Freiheit hat Jack Unterweger nicht nur ein Theaterstück am Burgtheater untergebracht und munter an seinem Werk weitergeschrieben, sondern, wie sich später herausstellen wird, auch eine Spur der Verbrechen durch Österreich gezogen. Nach immer ähnlichem Muster werden in Österreich und in der Tschechoslowakei Frauen ermordet. Meistens stranguliert der Täter sie mit ihrem eigenen Slip.


Die Realität dieser kruden Geschichte wird medial aufs Absurdeste überhöht. Weil der Gefängnisliterat die Szene der Prostituierten gut kennt, wird er vom Österreichischen Rundfunk ausgeschickt, Reportagen zu den Mordfällen machen. Zum ORF hat Jack Unterweger seit seinen Gefängniszeiten guten Kontakt. Seine Gedichte wurden im Radio vorgetragen. Sogar für die Kinder-Gute-Nacht-Sendung «Das Traummännlein kommt» hat der Frauenmörder Texte geliefert.

Das Verführerische an Jack Unterweger, der schon in seiner Zelle Verehrerpost von Burgschauspielerinnen, Unternehmersgattinnen, Nonnen und zuletzt auch von Grass, Fried und Co. bekommen hatte: Er war selbst wie Literatur. Die Geschichte von der schlimmen Kindheit hat er sich an entscheidenden Punkten selbst zusammengezimmert. Eine seiner Legenden handelt davon, wie er einmal Peter Handkes «Linkshändige Frau» Satz für Satz abgeschrieben hat und dann zur Einsicht kam: Das kann ich auch!


Freudig hat die berühmte Literaturzeitschrift «manuskripte» die Texte des ungeschliffenen Diamanten abgedruckt, der wohl nicht einmal echt war. Eine gewisse Sonja von Eisenstein soll dem Dichter mehr als nur unter die Arme gegriffen haben. Sie war selbst Literatin und dazu auch noch eine Art Trauma-Traum-Forscherin.


Einer von uns!

Die Geschichte von Jack Unterweger ist deshalb so speziell, weil sie tief in die Seelen einer intellektuell gehobenen Gesellschaft ragt. Ergreift die Feministin Elfriede Jelinek für einen Frauenmörder Partei, weil er Gedichtbücher wie «Tobendes Ich» und einen autobiografischen oder eher: autopornografischen Roman geschrieben hat? Ganz wohl scheint der Literaturnobelpreisträgerin heute damit auch nicht mehr zu sein.

Der Journalist Malte Herwig hat zu Unterweger gerade eine Art Roman geschrieben, der «Austrian Psycho» heisst und soeben erschienen ist. Was das Buch als Roman nicht kann, macht es mit Material zur Causa wett. Auch Elfriede Jelinek wird um eine Stellungnahme gebeten: «Ich habe es satt, in den Foren immer als Komplizin eines Frauenmörders und Psychopathen bezeichnet zu werden», sagt Jelinek. Und dass sie eigentlich schon immer daran gezweifelt habe, dass Jack Unterweger der tatsächliche Autor einer immerhin ziemlich grossen Menge von Romanen, Gedichtbänden und Stücken sei.

Die Frühwarnsysteme springen sehr unterschiedlich an. Heute würde man vielleicht dem Sprachgebrauch eines Menschen misstrauen, der Morde nicht als das bezeichnet, was sie sind. Unterweger nennt sie auf feige beschönigende Weise Verbrechen, die «den rein materiellen Wert übersteigen». Wäre der damalige österreichische Literaturbetrieb erst skeptisch geworden, wenn sich herausgestellt hätte, dass Unterweger gar nicht schreiben kann? Es galt die Formel: Er ist einer von uns! Die Faszination des Dämonischen war ein emotionaler Bonustrack.


Lange genug hat die moralische Gewaltenteilung funktioniert. Auf der einen Seite die Normalsterblichen, auf der anderen die Künstler. Die Künstler durften die biedere Trivialität des Lebens nicht nur transzendieren, sie sollten sogar. Dem Volk zur Unterhaltung und auch zur Mahnung. Für den Renaissance-Rabauken und Mörder Benvenuto Cellini macht sich Papst PaulIII. stark. Gian Lorenzo Bernini versucht, seiner Geliebten das Gesicht zu zerschneiden. Nach diesem Kollateralschaden künstlerischer Energien rühmt ihn Papst UrbanVIII. als «seltenen Menschen».

Noch zwei berühmte Mörder, denen alles verziehen wurde: der Maler Caravaggio und der Bildhauer Leone Leoni. Oscar Wilde begeistert sich für den Mörder und Schriftsteller Thomas Griffiths Wainwright: «Seine Verbrechen scheinen eine wichtige Wirkung auf seine Kunst gehabt zu haben. Sie fügten seinem Stil eine starke Individualität hinzu, eine Qualität, die seinem Frühwerk ohne Zweifel fehlt.» Später hatten die französischen Intellektuellen rund um Jean-Paul Sartre mit Jean Genet ihren Vorzeigeverbrecher. Der konnte allerdings wirklich schreiben.


Der Mörder wird zum Sujet für die Kunst

Früher war nicht alles gut, und vom diesbezüglichen Unterschied zur Gegenwart ist viel die Rede. Aus ihren dunklen exterritorialen Gebieten ist die Kunst ins Scheinwerferlicht eines global-menschlichen Selbstverbesserungswillens gerückt. Was sich auf den Sets der Filmproduktionen abspielt, wird im Fall von Verfehlungen nicht geheim bleiben. Ohnehin nicht geheim bleibt, was zwischen zwei Buchdeckeln steht.

Vorauseilende Selbstzensur und der Shitstorm sind zwei Phänomene der gleichen moralischen Wurzel: Der Künstler will und muss Vorbild sein. Petitionen für Gewaltverbrecher, die beschlossen haben, Gedichte zu schreiben, wird es heute nicht mehr geben. Die Zeiten, als die behauptete und unbedingte Wahrhaftigkeit von Kunst ein Lügengebäude à la Unterweger bemänteln konnte, sind vorbei.


Nicht ohne Grund ist Jack Unterweger ein Sujet für die Kunst selbst geblieben. John Malkovich hat ihn im Theaterstück «The Infernal Comedy – Confessions of a Serial Killer» gespielt. Es gibt den 2015 gedrehten biografischen Kinofilm «Jack – Poet, Liebhaber, Mörder» und jetzt auch etwas, das es so nur in Österreich geben kann. Ernst Geiger, der kriminalpolizeiliche Leiter der damaligen Sonderkommission zu Unterweger, hat mit seinem reichen Wissen einen Krimi geschrieben. Er heisst «Mordsmann».

Für den echten Mordsmann stand am Ende kein petitionseifriges Literatenvolk mehr bereit. Auf sechs Mordfälle in Europa folgten drei in Los Angeles. Um für eine Radioreportage zu recherchieren, hatte sich Jack Unterweger in den Rotlichtvierteln der Stadt herumgetrieben. Alle Spuren führten zu ihm. Nach einer Bonnie-und-Clyde-ähnlichen Flucht mit einer Wiener Schülerin wurde er in Miami festgenommen und am Landesgericht Graz angeklagt.

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Vor den Geschworenen spielte Jack Unterweger zum allerletzten Mal den Showmaster. Er wurde am 29.Juni 1994 wegen neunfachen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In der Nacht darauf nahm er sich in seiner Zelle das Leben. Unterweger strangulierte sich mit dem gleichen Knoten, den er bei seinen Morden geknüpft hatte.

Dennoch wird Jack the Writer bis heute von manchen für unschuldig gehalten. Andere, vor allem Nicht-Linke, hielten die Aufregung um den angeblichen Künstler für Hysterie, sahen mit seinem Tod einen Kulturkampf beendet und fühlten sich zum Zynismus ermächtigt. «Sein Selbstmord war sein bester Mord», sagte der ÖVP-Parlamentsabgeordnete Michael Graff.

Malte Herwig: Austrian Psycho. Jack Unterweger. Molden-Verlag, Graz 2024. 128S., Fr. 33.90.


Januar 2024

Die Frauen Israels, die offenbar nicht ins Weltbild der "linken Feministen" passen: Der weltweite Feminismus bewegt sich seit Jahren in der Regel (politisch) links. Aber wieder einmal muss festgestellt werden, dass bei linken Fanatikern Geschrei und angeblicher Kampf für Gerechtigkeit, letzten Endes in die falsche Richtung zielt. Dies Zeigt das Beispiel der weltweiten Reaktionen auf das furchtbare Massaker der blutrünstigen islamistischen HAMAS, die unzählige Frauen gerade als Frauen ganz besonders schrecklich malträtierten, misshandelten, sexuell missbrauchten, sogar an toten Frauenkörpern! Gab es da von feminister Seite (weltweit) eine Reaktion, eine Solidarität mit ihren Geschlechtsgenossinnen? Oberbar keine, da israelische Frauen - so scheint es - nicht ins Bild dieser linken Feministen passen! 

Der folgende Artikel der WELTWOCHE geht dieser Thematik nach: 

Die Weltwoche – 18. Januar 2024 Ausgaben-Nr. 03, Seite: 30
Diese Woche


Ode an die Israelinnen
Ein Volk, das so aussergewöhnliche Schwestern, Mütter und Soldatinnen hat, wird nie
vernichtet werden.

Julie Burchill


Israelinnen habe ich immer schon bewundert. Bis zu meiner ersten Reise vor zwanzig
Jahren ins Gelobte Land hatte ich nie welche leibhaftig gesehen. Doch schon in der
Sonntagsschule hatte ich die komplexen Frauen aus dem Alten Testament – Deborah, die
Richterin, Jael, die Killerin, Ruth, die erste Philosemitin – lieber gemocht als die reuigen
Nutten und trauernden Mütter aus dem Neuen Testament. Das Buch «Exodus» dreht sich
um die Taten von fünf Frauen. Der Talmud lehrt, das jüdische Volk sei aus Ägypten gerettet
worden dank den Verdiensten rechtschaffener Frauen jener Zeit.


Die Nation Israel wird erstmals auf einer ägyptischen Stele aus dem Jahr 1208 v. Chr.
erwähnt, Palästina dagegen hat erst seit 1964 überhaupt eine eigene Flagge. Im Gespräch
mit dem US-Botschafter in Israel sagte Menachem Begin 1981: «Die Juden haben seit 3700
Jahren ohne eine Absichtserklärung Amerikas über eine strategische Partnerschaft überlebt;
und sie können weitere 3700 Jahre ohne eine solche überleben.» Freilich sind die Juden
durch nicht nachlassende Verfolgung und Invasionen in alle Ecken der Welt vertrieben
worden, wo sie wiederum mit Zwangsbekehrungen und Pogromen empfangen wurden.


Siebzehn Stunden allein gegen die Hamas
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichte die Verfolgung der Juden Osteuropas ein solch
mörderisches Ausmass, dass Theodor Herzls kühner Traum, dass die Juden in ihre Heimat
zurückkehren könnten, in die Tat umgesetzt wurde: Viele junge Angehörige der Diaspora
gingen den umgekehrten Weg ihrer Vorfahren und kehrten nach Judäa zurück.


Jahrzehntelang machten Kibbuzim das Land wieder fruchtbar, das während der Abwesenheit
der Juden verödet war. Dem Kibbuz-Projekt lagen nicht nur agrarische, sondern auch
moderne sozialistische und bis zu einem gewissen Grad feministische Ideen zugrunde: Von
Frauen wurde erwartet, dass sie genauso hart arbeiteten wie die Männer, ob sie wollten oder
nicht. Eine Freundin sagte mir: «Meine Grossmutter kam 1922 aus der Sowjetunion, schloss
sich einem Kibbuz an und half, Ackerland zu schaffen, indem sie Steine auflas. Im ersten
Jahr hat sie jeden Tag geweint.» Um das Projekt verwirklichen zu können, wurden Kinder in
der Regel vom Kollektiv erzogen und sahen ihre Eltern nur ein paar Stunden täglich; das
fand jedoch ein Ende, weil die Mehrheit der Frauen aus unerklärlichen Gründen lieber als
Sklavinnen von Kleinkindern leben wollten als zusammen mit Wesen, die sich geistig auf
derselben Entwicklungsstufe befanden wie sie selbst.


Was mit dem Hacken einer Heimat aus dem Wüstensand begann, wurde durch die
militärische Ausbildung gefestigt. Die Frauen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF)
sind ebenso bekannt geworden für ihr gutes Aussehen wie für ihre Kampffähigkeiten. Ihr
Kampf ist immer ein existenzieller gewesen, seit die Briten das Feld geräumt und gleich fünf
arabische Nationen dem winzigen jüdischen Staat den Krieg erklärt haben. Frauen waren
bereits in den Untergrundbewegungen aktiv gewesen; mit der Staatsgründung entstanden
auch die IDF, in denen jüdische, drusische und tscherkessische Israelinnen ab achtzehn
Jahren zu einem zweijährigen Dienst verpflichtet sind (Mitglieder anderer Gruppierungen
können sich freiwillig melden). Wie Israels erster Premierminister David Ben-Gurion sagte:
«Die Armee ist das höchste Symbol der Pflicht, und solange die Frauen den Männern nicht
gleich sind im Erfüllen dieser Pflicht, haben sie nicht wirkliche Gleichberechtigung erreicht.
Sind die Töchter Israels nicht Bestandteil der Armee, wird der Charakter unseres Lands
dadurch verzerrt.»


Trotzdem wurden die Frauen nach dem siegreichen Krieg um die Staatsgründung im
Wesentlichen von der Front zurückgerufen und Hilfsdiensten zugeteilt; die Begründung dafür
war, dass Soldatinnen von Feinden sexuell attackiert werden könnten. Das entbehrt im Licht
der Geschehnisse vom 7. Oktober 2023 nicht der Ironie: Da kämpfte eine siebenköpfige
Gruppe zwanzigjähriger Panzersoldatinnen siebzehn Stunden lang gegen die Hamas und
tötete fünfzig von deren Mitgliedern, wohingegen Zivilistinnen in Massen vergewaltigt und
abgeschlachtet wurden.


Es gibt so viele Heldinnen in diesem winzigen nahöstlichen Land: Grossmütter, die Böses
dieses Ausmasses zum zweiten Mal erleben; Mütter, die ihre Kinder in den Kampf ziehen
sehen; Witwen, die ihre Kinder allein erziehen müssen; kleine Mädchen, die aus der
Geiselhaft in Gaza befreit worden sind und wieder zur Schule gehen; und was besonders
herzzerreissend ist: die Mütter israelischer Geiseln, die von den IDF versehentlich
umgebracht wurden. Iris Haim, Mutter von Yotam, schickte eine Botschaft an die Soldaten,
die für den Tod ihres Sohns verantwortlich waren: «Ich bin Yotams Mutter. Ich wollte euch
sagen, dass ich euch sehr liebe und aus der Ferne umarme. Ich weiss, dass alles, was
passiert ist, absolut nicht eure Schuld war, ja niemandes Schuld, ausser die der Hamas. Wir
möchten euch Auge in Auge gegenübertreten und euch sagen, dass das, was ihr getan habt
– so schwer und traurig es auch ist, dies zu sagen –, offenbar in jenem Augenblick das
Richtige war. Niemand wird euch verurteilen oder wütend sein. Wir lieben euch sehr. Das ist
alles.»


«Ich habe mich nicht gefürchtet»
Es gibt so viele namenlose Heldinnen, aber auch die bekannt gewordenen,
leidenschaftlichen und erfolgreichen Rimons, Noas, Ayelets, Assitas, Cochavs und Tzipis.
Ganz besonders bewundere ich die 85-jährige Yaffa Adar, deren Entführung von der Hamas
live gestreamt wurde und die dabei ruhig lächelte, was von manchen als Anzeichen von
Demenz missdeutet wurde. Doch sie sagte später: «Sie haben mich angespuckt und
verflucht, das war nicht schön. Aber ich sass da und sagte mir: ‹Ich lasse mich von denen
nicht brechen. Ich verhalte mich so, dass meine Kinder auf mich stolz sein werden.› Ich habe
mich nicht gefürchtet. Ich wollte denen nicht die Freude gönnen, zu sehen, dass ich Angst
habe.»


Der 7. Oktober hat alles verändert: Israel, Nahost, die Welt. Ja, sogar den Feminismus:
Scharen von Frauen, die sich als Feministinnen bezeichnen, haben sich jetzt als nichts
anderes erwiesen als Groupies gewalttätiger Männer. Drei Monate nach diesem
schrecklichen Tag versuchen Israelinnen immer noch fertig zu werden mit der Herzlosigkeit,
die ihnen von Organisationen und Individuen entgegenschlug, die fast ein Jahrzehnt lang mit
Parolen wie hMetoo und hBelievewomen (Glaubt Frauen) um sich geworfen hatten.
Unterdessen gibt es hMetooausserdubistjüdin und hGlaubtfrauenausserjüdinnen, und die
Israelinnen versuchen zu verstehen, warum die Welt sie so sehr dafür hasst, dass sie
unfreiwillig aufgedeckt haben, wie todesverliebt der Islamismus ist.
Wer hätte gedacht, dass linke Frauen sich als die schlimmsten Handlangerinnen erweisen
würden, die ergebensten Schwestern und Ehefrauen, die sich am kriecherischsten einer
Ideologie unterwerfen würden? Viele westliche Feministinnen scheinen einer
neomarxistischen Machtdynamik-Theorie anzuhängen, laut der Männer im Gazastreifen
unterdrückt wurden dadurch, dass in einigen Kilometern Entfernung Israelinnen ein freies
Leben führten. Das führte zu so unverzeihlichen Reaktionen wie der von Rivkah Brown, die
in Novara Media von einem «Freudentag» schwafelte. Als Islamisten Israelinnen
abschlachteten, griffen sie damit nicht nur Israel an, sondern die Freiheit der Frauen
überhaupt, weshalb es umso seltsamer ist, dass westliche Feministinnen nicht zu ihnen
hielten. Aber irgendwer muss all die Exemplare von «Fifty Shades of Grey» ja gekauft
haben.


Aus dem Grauen herausgehauen
Israel ist ein Land, in dem Frauen – jüdische, christliche und muslimische – ihre Talente und
Fähigkeiten frei entfalten können; es ist ein Leuchtturm der Freiheit in einer Region, die von
Frauenhass durchtränkt ist, und wird bis aufs Blut gehasst von Nationen, in denen nur
Männer etwas gelten. Doch die Freiheit der Israelinnen wurde aus dem Grauen
herausgehauen, weshalb sie sie sich von niemandem entreissen lassen. Die Errichtung des
modernen Israel hat die historische Vorstellung davon, was ein Jude ist und was einem
Juden ungestraft angetan werden kann, unwiderruflich verändert.
Die sexuellen Gräueltaten, die an Israelinnen verübt, zu Unterhaltungszwecken gefilmt und
als Pornografie verwendet wurden, sollten Jüdinnen wieder so erniedrigen, wie das JeanPaul Sartre in seinem Essay «Überlegungen zur Judenfrage» beschrieben hat: «Im Ausdruck ‹eine schöne Jüdin› steckt eine ganz besondere sexuelle Bedeutung, die ganz
anders ist als beispielsweise die von ‹schöne Rumänin›, ‹schöne Griechin› oder ‹schöne
Amerikanerin›. Diesen Ausdruck umgibt eine Aura von Vergewaltigung und Massaker. Die
‹schöne Jüdin› wurde von Kosaken des Zaren an den Haaren durch das in Flammen
stehende Dorf geschleift. [. . .] Sie wurde oft vergewaltigt und geschlagen.»


Was am 7. Oktober geschah, war zweifelsohne die schlimmste gegen Jüdinnen und Juden
verübte Gräueltat seit denen der Nazis vor fast achtzig Jahren. Doch Israel wird aus diesem
schrecklichen Kampf gestärkt hervorgehen. Ohne meine eigene oder irgendeine andere
ethnische Gruppe von Frauen diskreditieren zu wollen, möchte ich meiner rückhaltlosen
Bewunderung Ausdruck verleihen und sagen: Ein Volk, das so aussergewöhnliche
Schwestern, Mütter, Soldatinnen und Anführerinnen sein Eigen nennt, kann nie vernichtet
werden, egal, wie heftig sich Legionen linker wie rechter, vergangener wie gegenwärtiger
Faschisten auch darum bemühen.


Aus dem Englischen von Thomas Bodmer


Der Talmud lehrt, das jüdische Volk sei aus Ägypten gerettet worden dank den
rechtschaffenen Frauen.


Israel ist ein Land, in dem Frauen – jüdische, christliche, muslimische – ihre Talente frei
entfalten können.


Heldinnen einer Region, die voller Frauenhass ist

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2023

Am 24. Februar 2022 begann Russland bekanntlich seinen blutigen Krieg in der Ukraine, der weiter andauert. Die friedlichen Zeiten in Europa kamen dadurch zu einem Ende. Dieser furchtbare Krieg dauert weiter an und wird uns auch in diesem Jahr weiter beschäftigen.


2022 

17. November 2022 

Naht das Ende unserer Zeit, unserer Welt? Droht eine Apokalypse? Die extreme Linke scheint es mit der extremen Rechten diesbezüglich ähnlich zu sehen. Stimmt diese Sicht? Die NZZ geht im heutigen Feuilleton darauf ein. Lesen Sie selber!

NZZ Feuilleton, 17. November 2022

Linke Aktivisten und rechte Agitatoren sind sich näher, als man denken würde: Hüben wie drüben glaubt man, dass das Ende der Zivilisation bevorsteht

Unsere Gesellschaft ist noch immer vom christlichen Denken geprägt. Wie sonst ist zu erklären, dass in der Politik, aber auch im Kulturschaffen ein apokalyptischer Endzeitdiskurs dominiert`?

Felix E. Müller17.11.2022, 05.30 Uhr

Auch in Kunst und Kultur dreht sich viel um das Ende der Welt: «Unbearable», Skulputur des dänischen Bildhauers Jens Galschiot.

Gerhard Leber / Imago

Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Klimajugend und Donald Trump? Keine, mit einer einzigen Ausnahme: Beide erwarten von der Zukunft nur das Schlimmste. 

Wenn sich Klimaaktivisten am Asphalt festkleben, tun sie es mit der Rechtfertigung, die Welt stehe am Abgrund. Zeige nicht die Wissenschaft, dass zunehmende Hitze, abschmelzende Gletscher und sich ausbreitende Dürren den Globus bald zu einem unbewohnbaren Ort machen würden? Rasch nähere sich die Erderwärmung dem «tipping point», dem Kipppunkt, der eine nicht mehr zu stoppende ökologische Abwärtsspirale einleite. Die Klimaforschung glaubt sogar, eine Jahreszahl benennen zu können, wann dieser Moment erreicht ist. Er ist nahe! Und danach? Kommt der Weltuntergang und damit das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen.

Doch wer meint, bei der Endzeitstimmung handle es sich um ein Phänomen im links-grünen Lager, der täuscht sich. In seiner Inaugurationsrede zeichnete Donald Trump 2017 ein düsteres Bild von der Zukunft der USA, befinde sich das Land doch im Niedergang, habe seine Seele verloren und sei vom Verlust seiner Stärke und Grösse bedroht. Der Einfluss seines damaligen Beraters Steve Bannon, der ein Verehrer des rechtsextremen französischen Publizisten Renaud Camus ist, war mit Händen zu greifen.

Camus warnte in einem 2010 erschienenen Buch vor dem «grossen Bevölkerungsaustausch» und behauptete, alle Register von Verschwörungstheorien ziehend, eine Elite von Globalisten, Uno-Funktionären, Multikulturalisten, Topmanagern und Juden befördere die Einwanderung aus Entwicklungsländern mit dem Ziel, die Weissen in Europa zu verdrängen und damit die Kultur des Abendlands auszumerzen. Die Rechtspopulisten griffen dieses Untergangsszenario dankbar auf, denn zu ihrem Geschäftsmodell gehört es, die Zukunft in düsteren Farben zu zeichnen und ebenfalls den Untergang der Welt, wie wir sie kennen, zu beschwören.

Die Kultur arbeitet kräftig mit

So stimmen Linksaktivisten und Rechtsagitatoren in diesem einen Punkt überein: Die Welt sieht sich von einer Apokalypse bedroht. Sie dürfen sich in dieser Auffassung durch das gegenwärtige Kulturschaffen bestätigt sehen.

In Büchern, Filmen, TV-Serien oder Videogames wimmelt es von Inhalten jeder Schattierung von Düsternis. TV-Serien wie «Hunger Games» oder «The Handmaid’s Tale» nach dem gleichnamigen Roman von Margaret Atwood, die eine finstere, kaputte, totalitäre Welt zeigen, waren internationale Grosserfolge. In der Literatur hat sich mit der «Cli-Fi» – Climate Fiction – eine spezielle Kategorie von Romanen etabliert, welche die kommende ökologische Katastrophe und den Klima-Weltuntergang in allen möglichen Varianten schildern. Filme wie «Don’t Look Up», in dem sich bornierte Politiker als unfähig erweisen, Massnahmen gegen den drohenden Zusammenprall eines Meteoriten mit der Erde zu treffen, wurden von der Kritik verrissen und fanden dennoch ein Millionenpublikum.

In den USA boomt keine Buchkategorie mehr als die für «young adults», eine Altersgruppe zwischen – sehr ungefähr! – 12 und 18 Jahren. Hier häufen sich dystopische Erzählungen von Seuchen, Dürren, Diktatoren, vom Schrecken technologischer Überwachungsregime, was offensichtlich bei den jungen Leserinnen und Lesern auf grosses Interesse stösst. Und wer meint, dass es sich hier um typisch amerikanische Übertreibung handle, der lese doch die «Weltwoche», diese Zeitschrift für «old adults», in der täglich der Untergang der Schweiz, Europas, Amerikas, der EU, der Ukraine beschworen wird, immer mit dem atemlosen Subtext erzählt, dass überall das Ende nahe sei.

Nur die Umkehr kann helfen

Apokalypse ist natürlich ein religiös konnotierter Begriff. Verbunden wird damit die Erzählung einer Endzeit, eines letzten Gerichts, einer Zeitenwende und der Anbruch einer neuen Welt, des Reichs Gottes, das allen Gerechten Rettung bringt, aber allem Bösen die ewige Verdammnis. Besonders ausgeprägt ist, dank der Offenbarung (Apokalypse) des Johannes im Neuen Testament, dieses Narrativ im Christentum.

Was in Predigten, in erbaulichen Büchern, was in mittelalterlichen Wandgemälden und klösterlichen Andachten in den letzten 2000 Jahren millionenfach wiederholt und beschworen wurde, kann innert zwei Generationen nicht einfach verlorengehen. Unser Zeitalter ist nicht weniger religiös als die vorangehenden, obwohl wir das alle meinen. Das religiöse Bedürfnis sucht sich nur andere Ausdrucksformen als früher. Der Endzeitdiskurs in der heutigen Politik, das apokalyptisch gefärbte heutige Kulturschaffen verraten dies.

So dröhnt es heute von der Kanzel der veröffentlichten Meinung: Wenn die Welt demnächst den Klima-Untergang erleide, so sei dies der Fall, weil wir uns alle verschuldet hätten – zu viel mit dem Flugzeug unterwegs, zu viel konsumiert, zu viele Dieselkilometer gefahren. Nicht visionäre wissenschaftliche Erfindungen könnten die Welt noch retten, nicht etwa die experimentelle Technologie, die es erlaubt, CO2 der Atmosphäre zu entziehen. Nur noch die Umkehr vermag das Schlimmste abzuwenden, was jeder Bussprediger während Jahrhunderten verkündet hat. Wir sind alle Sünder! 

So gesehen handelt es sich auch beim strukturellen Rassismus, den alle Weissen unabhängig von einem individuellen Verschulden in sich tragen sollen, um nichts anderes als die alte Erbsünde im neuen Gewand.

Die Politik als Gerichtshof

Dieser penetrante Endzeitdiskurs führt zu einer religiösen Aufladung der Politik. Diese ist heute nicht mehr dazu da, Sachprobleme sachlich zu lösen. Vielmehr bildet sie einen öffentlichen Gerichtshof zur Verhandlung moralischer Fragen: Wodurch zeichnet sich die richtige Gesinnung aus, und wer gehört zu den Erlösten? Rassismus, Flüchtlingspolitik, Klima: Immer geht es um Gut oder Böse, also letztlich um die Frage, wer zu den Auserwählten gehört und wer in der Verdammnis enden wird.

Wenn unsere Zeit, wenn die gegenwärtige Politik zunehmend als Streit konkurrenzierender Modelle von Weltuntergang geführt wird, beschädigt dies das Gespräch unter Andersdenkenden. Wer von apokalyptischen Ängsten erfüllt ist, der hat keine Zeit mehr für langwierige Debatten. Er klebt sich auf die Autobahnen und fordert: 1,5 Milliarden für Gebäudesanierungen, und zwar sofort! Der wahrhaft Gläubige duldet keine Kompromisse, das war schon im alten christlichen Zeitalter so und ist es im heutigen kryptochristlichen immer noch. In besonders ausgeprägter Weise zeigt sich diese Transformation der Politik in den USA, was mit ein Grund dafür ist, dass die Politik sich zunehmend als unfähig erweist, bestehende Probleme tatsächlich auch zu lösen.

Muss man folglich für die Zukunft düstere Prognosen abgeben, weil die Politik immer schlechter funktioniert? Wer diese Auffassung vertritt, erweist sich zumindest als Kind seiner Zeit – der heutigen. 

Seine Gedanken zum Thema hat Felix E. Müller in einem Buch vertieft: «Abschied von der Zukunft. Die Endzeitstimmung der jungen Generation und was sie bedeutet» ist diese Woche im Verlag NZZ Libro erschienen. Am 28. November findet im Kulturpark Zürich eine Podiumsdiskussion zum Buch statt, neben dem Autor werden die Astrophysikerin Simone Weinmann und der grüne Gemeinderat Dominik Waser teilnehmen.

7. Oktober 2022 

"Inklusion" und die ganze Genderdiskussion verwirren mich! Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Welt "verrückt" spielt und nicht realisiert, dass es viel grössere und viel wichtigere Probleme unserer Zeit gibt, die zu lösen sind. 

Der folgende Artikel über "Inklusion" spricht mir aus dem Herzen!

KOMMENTAR

Inklusion als neues Dogma – Gleichberechtigung heisst noch lange nicht Gleichmacherei

Überall will man heute mitgemeint sein und dazugehören, von der Gendersprache über die Frauenbadi bis zur Zunft: Alle sollen alles dürfen, sonst fühlen sie sich diskriminiert. Doch es gibt auch ein Recht auf Abgrenzung. 

Birgit Schmid196 Kommentare06.10.2022, 05.30 Uhr

Je mehr Unterschiede wir betonen, desto gleicher wollen wir sein. Im Sommer forderte eine Person Einlass in die Zürcher Frauenbadi, sie trug Bart und hatte eine tiefe Stimme, weshalb ihr die Leitung des Bads den Zutritt verwehrte. Diese hielt den Gast für einen Mann. Das f im Pass wies ihn aber als Frau aus. Es war eine Transfrau, die Anspruch auf den Ort erhob, an dem sich Frauen aufhalten. Exklusiv. 

26. Juli 2022

Wie konnte das geschehen, was wir heute rund um den Krieg in der Ukraine erfahren? Was passierte mit dem russischen Präsidenten Putin, der doch im Jahr 2001 vor dem Deutschen Bundestag eine Rede von friedlicher Einbindung Russlands in ein Gesamteuropa so eindrucksvoll vorbrachte, dass er tosenden Beifall des ganzen Hauses erntete? 

Die NZZ vom 26.7.2022 geht dem Phänomen Putin nach und versucht zu analysieren, wie und wann sich dieser Despot zu dem entwickelte, was er heute ist:

Putins Weg der Radikalisierung

Reuters

Vor 20 Jahren sah es so aus, als ob sich der russische Präsident Putin dem Westen annähern würde. Was geschah dann? Eine Analyse seiner wichtigsten Reden liefert Antworten.

Katrin Büchenbacher, Cian Jochem 26.07.2022, 05.30 Uhr 

«Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel», sagt der russische Präsident Wladimir Putin. Es ist der 25. September 2001, wenige Wochen nach den Terroranschlägen des 11. Septembers. Putin spricht vor den über 650 Abgeordneten des Bundestags in Berlin. 

Er fängt auf Russisch an und geht dann in einwandfreies Deutsch über, wickelt sein Politikerpublikum um den Finger, kokettiert, erntet Applaus. Er nennt die Abgeordneten seine «lieben Freunde», spricht davon, die deutsch-russische Partnerschaft zu einem gemeinsamen «europäischen Haus» auszubauen, erklärt: «Der Kalte Krieg ist vorbei.» Seine Rede mündet in minutenlangem Beifall. Der ganze Bundestag hat sich für den knapp 50-jährigen Putin aus den Sesseln gehievt.

Zwei Jahrzehnte später greift Putin die Ukraine an und zerstört die Hoffnungen, die er damals in seiner Rede in Berlin geweckt hatte, endgültig. Statt auf Zusammenarbeit setzt er auf volle Konfrontation mit dem Westen. Wie konnte es so weit kommen?

Putins Reden zur Lage der Nation verraten viel

Hätte man Putin doch bloss über die Jahre besser zugehört, mahnten Russlandkenner nach dem Tag des Angriffs auf die Ukraine. Sie forderten, Diktatoren wie Putin ernster zu nehmen und auch Propagandareden an ein heimisches Publikum genauer zu studieren: Denn sie verraten viel über Haltung, Pläne und Absichten der Machthaber.

Wir haben uns Wladimir Putins wichtigste Reden genauer angeschaut. Einmal jährlich hält der russische Präsident eine umfassende Ansprache zur Lage der Nation vor dem Parlament. In Putins vier Amtszeiten als Präsident von 2000 bis 2008 und von 2012 bis heute hat er insgesamt 17 solcher Reden gehalten. Sie geben die grundsätzliche Richtung der russischen Innen- und Aussenpolitik für die nächsten Jahre und Jahrzehnte vor.

Schon alleine die Häufigkeiten einzelner Begriffe in diesen Reden liefern Hinweise dafür, wie sehr Putin Russland über die Jahre isoliert, sich selbst radikalisiert und das Land unfreier gemacht hat. Die Analyse seiner Reden macht klar, wie rasch und wie stark sich seine politischen Prioritäten verschoben haben. Sie zeigt auf, wie sich Putins Misstrauen gegenüber dem Westen letztlich vollends durchgesetzt hat.

So oft verwendet Putin ein bestimmtes Wort

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

Die Grafik zeigt die Häufigkeit bestimmter Begriffe in Putins jährlichen Reden zur Lage der Nation als Präsident, mit Unterbrechung von 2008 bis 2012, als Dmitri Medwedew Präsident war. Berechnet haben wir den Wortanteil pro 10 000 Wörter, was einer durchschnittlichen Redelänge entspricht. 

«international»

«international»

«Terrorismus»

«Terrorismus»

Freiheit

«Freiheit»

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Putins versöhnliche Anfänge – alles nur Täuschung?

Putin wird im März 2000 zum Staatspräsidenten gewählt. Drei Monate später hält er seine erste Rede zur Lage der Nation. Darin stellt er seine Vision von einem starken, friedfertigen, integrierten Russland vor: «Stark nicht gegen die internationale Staatengemeinschaft, nicht gegen andere starke Nationen, sondern gemeinsam mit ihnen.»

Bei seiner ersten Kreml-Pressekonferenz als Präsident im Juli 2001 schlägt Putin wie sein Vorgänger Boris Jelzin den Beitritt Russlands zur Nato vor – jener Verteidigungsorganisation, die 1949 gegen die sowjetische Bedrohung gegründet wurde.

Die USA gehen nicht direkt auf Putins Vorschlag ein, doch ein Jahr später wird der Nato-Russland-Rat gegründet. Der damalige amerikanische Präsident George W. Bush hatte Putin im Juni 2001 «in die Augen geblickt» und sagte: «Ich empfand ihn als sehr direkt und vertrauenswürdig. (. . .) Ich konnte ein Gefühl für seine Seele bekommen; ein Mann, der sich seinem Land und den besten Interessen seines Landes zutiefst verpflichtet fühlt.»

Bei Putin klang es damals anders – er sah die warmen Worte Bushs in starkem Kontrast zur Ausdehnung der Nato: «Sie ist eine militärische Organisation. Ja, sie ist militärisch . . . Ja, sie bewegt sich auf unsere Grenze zu. Aber warum?»

Das Bild von Putin als friedfertigem Demokraten, der dem Westen die Hand reicht, war möglicherweise von Anfang an von Wunschdenken geprägt gewesen.

Die nuller Jahre: Putin versinkt in der Furcht vor Einkreisung

Das Bild, dass der Westen Russland umzingeln und destabilisieren wolle, festigt sich im Kreml bereits während Putins erster Amtszeit. Die «Rosenrevolution» in Georgien endet 2003 auch dank dem Beistand Washingtons in einem friedlichen Machtwechsel, doch für Russland stellt die neue, westeuropäisch orientierte Regierung Georgiens einen Affront dar.

Zusammen mit der «orangen Revolution» 2004 in der Ukraine und der «Tulpenrevolution» 2005 in Kirgistan entsteht im Kreml der Eindruck, der Westen säe Unrast in Russlands Umgebung mit dem eigentlichen Ziel, einen Umsturz in Russland herbeizuführen.

2004 treten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei der Nato bei. Fünf Jahre zuvor war bereits der Beitritt Ungarns, Polens und Tschechiens erfolgt. Der Kreml sieht darin einen Versuch, den Einfluss Russlands in seinem Vorhof zu schmälern. Im Kreml ist die Idee eines von Moskau dominierten Machtbereichs noch immer tief verwurzelt. In dieser Weltsicht ist die Auflösung der Sowjetunion eine historische Katastrophe und gehören die Länder des ehemaligen Ostblocks weiterhin zur Einflusssphäre Russlands.

Kurz vor dem Ende von Putins ersten beiden Amtszeiten zeichnet sich ein Wendepunkt ab in Russlands Beziehungen mit dem Westen. Anfang 2007 anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz spricht Putin Klartext – und kritisiert den Westen so offen wie nie zuvor. Die USA strebten die «monopolare Weltherrschaft» an und überstülpten ihre Normen anderen Staaten mit Gewalt, sagt er. Die Nato-Osterweiterung nennt Putin eine Provokation, die das gegenseitige Vertrauen schwäche. Streitkräfte rückten immer näher an die russischen Staatsgrenzen heran, während sich Russland in Zurückhaltung übe, sagt er. Es ist eine Warnung: Bis hierhin und keinen Schritt weiter.

Die Abwendung Russlands vom Westen ist auch in Putins Reden zur Lage der Nation ersichtlich: Das Wort «international» ist bis 2006 verhältnismässig stark präsent, bis zu 24 Mal verwendet er es pro Rede. Nach der Rückkehr Putins in den Kreml im Jahr 2012 schwindet es nach und nach aus seinem Wortschatz.

«International»

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

In den Jahren 2008 bis Anfang 2012 war Dmitri Medwedew russischer Präsident. 2017 fand keine Jahresrede statt.

Gesammelte Reden zur Lage der Nation Wladimir Putins

Putins Veränderung ist auch im Westen spürbar. Seine Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz schockiert. Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer fragt: Wie könne man sich denn sorgen, «wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die Grenzen rücken?»

Das Verhältnis zur Nato wird frostig

Beim Nato-Gipfel im April 2008 drängen die USA dazu, der Ukraine und Georgien den Status von Beitrittskandidaten zu geben. Frankreich und Deutschland sind dagegen. Das Communiqué ist schliesslich ein Kompromiss: Die Ukraine und Georgien würden eines Tages Mitglieder der Nato werden, lautet die vage Formulierung. Aus Moskauer Sicht ist damit aber eine rote Linie überschritten. Die russische Politik setzt sich fortan zum Ziel, einen Beitritt sowohl Georgiens wie auch der Ukraine zur Nato zu verunmöglichen.

Gegenüber Georgien gelingt dies dem Kreml bereits im Sommer 2008. Inzwischen war Dmitri Medwedew Präsident und Putin sein Ministerpräsident. Unter dem Vorwand, in der Region Südossetien sei ein Genozid im Gange und die Bevölkerung Abchasiens sei Gewaltakten ausgesetzt, marschiert die russische Armee in Georgien ein. Zuvor hatte die russische Regierung in den beiden Regionen bereits Pässe verteilt und «Friedenstruppen» stationiert mit der Begründung, russische Bürger schützen zu müssen.

Der Krieg endet nach nur fünf Tagen mit einem Sieg für Russland, das Südossetien und Abchasien zu unabhängigen Staaten erklärt. International gelten sie weiterhin als Teil Georgiens.

Im Dezember 2011, kurz bevor Putin erneut zum Präsidenten gewählt wird, brechen Proteste aus in russischen Städten wegen Wahlbetrugs bei den Parlamentswahlen. Doch die Menschen gehen auch wegen des Zynismus auf die Strasse, mit dem Putin in einem Ämtertausch mit Medwedew seine Rückkehr in den Kreml eingefädelt hat. Medwedew war trotz seinen Schwächen ein Hoffnungsträger für die städtischen Eliten.

Die russische Regierung lässt die Proteste brutal niederschlagen. Dass die Repressalien unter Putin in den kommenden zwei Amtszeiten zunehmen und die Freiheit schwindet, zeigt auch die Analyse seiner Reden. Immer seltener nimmt er die Wörter «frei» oder «Freiheit» in den Mund – in den vergangenen Jahren zwei Jahren gar nicht mehr.

«Frei»/«Freiheit»

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

In den Jahren 2008 bis Anfang 2012 war Dmitri Medwedew russischer Präsident. 2017 fand keine Jahresrede statt.

Gesammelte Reden zur Lage der Nation Wladimir Putins

Der endgültige Wendepunkt: die Krim-Krise 2014

In der Ukraine versucht Moskau zunächst, den Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu kontrollieren und von einer Annäherung an den Westen abzuhalten. Trotzdem will Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen, zieht sich davon aber überraschend zurück, nachdem Putin ihn mit einem Gas-Lieferstopp erpresst hat. Die folgenden Proteste auf dem Maidan enden blutig und mit der Flucht Janukowitschs.

Dass amerikanische Diplomaten sich auf dem Maidan zeigten, wird in Moskau als Verschwörung gegen Russland gedeutet. Der Kreml verbreitet zudem das Gerücht, dass Nato-Schiffe kurz davor stünden, in Sewastopol und anderen Häfen am Schwarzen Meer anzudocken.

Auf der Halbinsel Krim gibt es Kritik an den Maidan-Protesten. Russland nutzt die Anti-Kiew-Stimmung dort aus, dringt mit seinen Soldaten ein und lässt eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit durchführen. Daraufhin bittet die Krim um Anschluss an Russland. In der Folge steigen die Zustimmungsraten für Putin in Russland.

Die Annexion der Krim liess die Zustimmungsraten für Putin steigen

Zustimmungsraten in Prozent

Zustimmung

Ablehnung

Keine Angabe

2000202202040608012

1

Annexion der Krim

2

Russischer Angriff auf die Ukraine

Umfrage des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada

NZZ / cia.

Im Donbass hat Russland die Unzufriedenheit mit Kiew bereits über Jahre genährt, so dass Separatistengruppen entstanden sind. Russland unterstützt sie nach 2014 auch militärisch in der Konfrontation mit Kiew, um die Ukraine permanent zu destabilisieren. Dies dient nicht zuletzt dem Ziel, die Ukraine auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft zu behindern.

Putins Rede zur Lage der Nation im Jahr 2014 macht deutlich, wie tief das Misstrauen und der Groll gegenüber dem Westen mittlerweile sitzen. Das Ziel der USA sei, durch Unterstützung von Separatismus und mit dem «Export von Revolutionen» Russland wie Ex-Jugoslawien «zerfallen und zerstückelt» zu sehen, sagt er.

Putin stärkt Russlands Position gegenüber den USA

Im Jahr 2015 füllt Russland die Lücke, welche die USA im Nahen Osten hinterlassen haben. Putin verlegt Truppen nach Syrien, um das Asad-Regime zu retten. Zu Hause beschreibt er den Einsatz als Kampf gegen den Terrorismus.

Es ist eine Erzählung, die Putin während seiner ersten Amtszeit vor allem in Verbindung mit Anschlägen von tschetschenischen Separatisten verwendet hatte. Nach dem Höhepunkt von 2015 spricht er aber in seinen jährlichen Ansprachen kaum noch vom Kampf gegen den Terrorismus. Diese Legitimationsgrundlage für seinen Militäreinsatz in Syrien ist ihm mit schwindender Bedrohung durch die Terrororganisation Islamischer Staat abhandengekommen.

«Terrorismus»

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

In den Jahren 2008 bis Anfang 2012 war Dmitri Medwedew russischer Präsident. 2017 fand keine Jahresrede statt.

Gesammelte Reden zur Lage der Nation Wladimir Putins

Das wahre politische Ziel der russischen Regierung ist es ohnehin, sich aus der internationalen Isolation nach der Krim-Annexion zu befreien und ihre Handlungsposition zu verbessern – der Militäreinsatz in Syrien soll die eigene Bedeutung gegenüber den USA stärken und deren Rolle in der Region schwächen.

2016 kommt in den USA der Populist Donald Trump an die Macht. Unter ihm leiden die Beziehungen der USA zu ihren traditionellen Verbündeten. Europa steckt in der Flüchtlingskrise. Der Westen befindet sich im Niedergang, so deutet man die Ereignisse im Kreml.

Putins Militär-Rhetorik spitzt sich zu

Die Krisen im Westen förderten Putins Selbstvertrauen. Also demonstriert er Stärke. Seine Rede zur Lage der Nation von 2018 ist so aggressiv und antiwestlich wie keine zuvor.

Es ist nicht die erste Rede, in der militärische Begriffe auffallend oft vorkommen. Die Analyse zeigt, dass bereits im Jahr 2006 besonders häufig Wörter fallen wie «Militär», «Raketen», «bewaffnet», «Waffe», «nuklear» und «Verteidigung». Doch der Kontext dieser Begriffe hat sich radikal verändert. Am Beispiel des Begriffs «nuklear» lässt sich das gut zeigen.

Wörter mit militärischem Zusammenhang häufen sich in den Jahren 2006 und 2018

Anzahl Wortnennungen, pro 10 000 Wörter

In den Jahren 2008 bis Anfang 2012 war Dmitri Medwedew russischer Präsident. 2017 fand keine Jahresrede statt.

Gesammelte Reden zur Lage der Nation Wladimir Putins

In seiner Ansprache von 2006 verwendet Putin das Wort «nuklear» in drei verschiedenen Kontexten. Putin spricht zunächst von der Kernenergie als vielversprechendem Sektor. Er fordert etwa: «Wir müssen Massnahmen zur Entwicklung von Kernenergie ergreifen.» Dann kommen Atomwaffen im Kontext von Terrorismus und Abrüstung ins Spiel. Zuletzt betont er die Wichtigkeit einer modernen russischen Armee inklusive nuklearer Streitkräfte, deren Entwicklung aber nicht zulasten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gehen dürfe.

In Putins Ansprache von 2018 hingegen entfällt der Kontext der Kernenergie und der Abrüstung komplett. Nun zeichnet Putin von Anfang an ein Feind- und Bedrohungsbild der USA und der Nato, die Russland keine andere Wahl liessen, als aufzurüsten – auch atomar. «Die Vereinigten Staaten bauen ein globales Raketenabwehrsystem auf», sagt er und warnt: «Wenn wir nichts unternehmen, wird das russische Atomwaffenpotenzial letztlich wertlos.»

Danach stellt Putin die neusten Atomwaffen der russischen Armee vor und führt die Technologie seinem Publikum auch gleich im Videoformat vor.

Putin schliesst mit einer Warnung an den Westen: «Jeder Einsatz von Atomwaffen gegen Russland oder seine Verbündeten (. . .) wird als nuklearer Angriff gegen dieses Land betrachtet. Die Vergeltung wird sofort erfolgen, mit allen damit verbundenen Konsequenzen.»

Alles gipfelt im Krieg

Der 2020 gewählte amerikanische Präsident Joe Biden wird im Kreml als alt und schwach wahrgenommen. Biden stellt Putin offen als Mörder hin, fordert, er müsse weg.

Der Sturm auf das Capitol in den USA 2021 und der chaotische Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan bestärken den Eindruck Putins, dass der Einfluss des Westens schrumpfe. Zudem erinnert er sich zweifellos daran, dass es weder bei der russischen Anerkennung der georgischen Gebiete 2008 noch bei der Annexion der Krim 2014 zu drastischen Reaktionen des Westens gekommen war.

Ein rascher militärischer Gewinn in der Ukraine, so wie bei Georgien oder der Krim, dürfte Putin attraktiv erscheinen. Seine Zustimmungswerte sind geringer als früher, zu Beginn der Pandemie fallen sie sogar für kurze Zeit unter 60 Prozent.

Zudem befindet sich Russlands Wirtschaft seit knapp zehn Jahren in einer Phase der Stagnation. Dabei hatte alles so gut angefangen. Nach Putins Wahl zum Präsidenten im Jahr 2000 sorgte er dafür, dass Renten und Löhne pünktlich ausbezahlt werden, reformierte das Steuersystem, die Wirtschaft wuchs konstant um etwa 7 Prozent. Auch im Ausland erntete Russland dafür Anerkennung. Der Staat zahlte seine Schulden zurück und baute die dritthöchsten Währungsreserven der Welt auf.

Die Weltfinanzkrise von 2008 und 2009 aber offenbarte die Schwächen der russischen Wirtschaftspolitik, die einseitig auf Exporte von Öl und Gas und staatliche Lenkung aufgebaut ist. Das Wirtschaftswachstum brach ein. Putin ist es nicht mehr gelungen, das Ruder herumzureissen. Mit der Wirtschaftspolitik kann er also sein Vermächtnis nicht stärken.

Das zeigt sich auch in seinen Reden. Noch 2003 hatte er versprochen, in nicht allzu ferner Zukunft werde Russland seinen anerkannten Platz unter den wirtschaftlich fortgeschrittenen Nationen einnehmen. Doch dann spricht er in seinen jährlichen Reden zur Lage der Nation immer seltener von der Wirtschaft. Die Begriffe «ökonomisch» und «Unternehmen» nehmen einen immer geringeren Anteil ein. Besonders frappant ist der Abfall nach der russischen Wirtschaftskrise von 2015.

Gesammelte Reden zur Lage der Nation Wladimir Putins

Weltbank

Sein Vermächtnis und die Stellung Russlands in der Welt glaubt Putin aber mit einem Eroberungskrieg stärken zu können. Er erhofft sich davon seinen Machterhalt und einen patriotischen Schub, der das Land hinter ihm eint. Das hat er erreicht. Erst seit dem Ukraine-Krieg haben seine Zustimmungsraten wieder Werte von über 80 Prozent erreicht wie zu Beginn seiner Präsidentschaft und nach der Annexion der Krim.

Mehr zur Methodik

So haben wir Putins Reden ausgewertet

Website

Im Rahmen der vorliegenden Analyse wurde mit einem Computerprogramm ausgezählt, wie oft Putin bestimmte Begriffe pro Rede verwendete. Für den Jahresvergleich haben wir anschliessend die Anzahl Nennungen pro 10 000 Wörter berechnet. Letzteres entspricht einer durchschnittlichen Redelänge. 

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1. Juli 2022

Leider ist es eine Tatsache, dass nach dem kriegerischen Einfall Russlands in die Ukraine unter der Ägide Putins es immer noch - nach allem was an Scheusslichkeiten von russischer Seite geschehen ist - Putin-Versteher und -Anhänger gibt. Auch bei uns ind er Schweiz. Offenbar auch in der WELTWOCHE. 

Und Henrik M. Broder zieht nun die Konsequenzen und verabschiedet sich von der WELTWOCHE! Da kann ich nur noch sagen: Endlich, es war wirklich an der Zeit!

Henryk M. Broder will nicht mehr für die «Weltwoche» schreiben. Bei «Putinisten» ist seine Schmerzgrenze erreicht

NZZ vom 1. Juli 2022

Der deutsche Publizist pflegt die Provokation und schätzt einen breiten Meinungskorridor. Aber beim Schweizer Wochenmagazin wird’s auch ihm zu abstrus. In der «Weltwoche» veröffentlicht er sein Kündigungsschreiben und distanziert sich von den Russlandverstehern. 

Andreas Scheiner30.06.2022, 15.57 Uhr

Henryk M. Broder während eines Podiumsgesprächs im Gebäude der NZZ in Zürich im Mai 2021.

Joël Hunn / NZZ

Viele Leute haben für die «Weltwoche» geschrieben, viele Leute wollen es nie mehr tun. Neu im Klub ist Henryk M. Broder. Der deutsche Publizist hat laut der Schweizer Mediendatenbank seit den späten neunziger Jahren gut 700 Artikel für die streitlustige Schweizer Wochenzeitschrift geschrieben. In Zukunft will er es unterlassen.

Das ist auch deshalb eine Nachricht wert, weil es sich der 75-Jährige auf seinem Blog «Die Achse des Guten» zur Aufgabe gemacht hat, gegen den Mainstream anzuschreiben und das Meinungsspektrum in Deutschland zu erweitern. In Artikeln der «Welt» pflegt er ebenso die Kunst der höheren Provokation. Umso bemerkenswerter ist, dass für Broder die Schmerzgrenze bei der «Weltwoche» erreicht ist. Was hat ihn getriggert? So einfach wie verständlich: Roger Köppels Russophilie.

Die «Weltwoche» pflegt gerne das Gegenteil dessen zu schreiben, was in andern Medien gefühlt oder tatsächlich steht. Es ist ein publizistisches Konzept, das mal mehr, mal weniger gut funktioniert. Im Ukraine-Krieg funktioniert es schlecht. Das sagt der gesunde Menschenverstand, und das sagt Broder.

Broder braucht nun allerdings etwas länger, um es zu sagen. Der Hinweis «Lesedauer: 9 Minuten» liest sich fast wie eine Warnung über dem Artikel auf «Welt Online», in dem sich der Autor erklärt. Das Kündigungsschreiben (das zuvor in der «Weltwoche» erstveröffentlicht wurde, so viel Sportgeist hat Köppel) ist aber durchaus erhellend. Wobei es gar nicht in erster Linie die «Weltwoche» ins Visier nimmt. Broder und Köppel kennen sich lange, eine persönliche Abrechnung sollte es offenbar nicht werden. Statt am Schweizer Journalisten und SVP-Nationalrat, der am 24. Februar Wladimir Putins Konterfei auf die Titelseite setzte – Schlagzeile: «Der Missverstandene» –, arbeitet sich Broder an den deutschen Russlandverstehern ab.

Der russische Vater überlebte das KZ

Broder holt aus. Er beginnt ungefähr beim Auszug der Juden aus Ägypten. Über «Vorgeschichten» nämlich will er reden. Oder nicht reden. Denn das Argument der «Putinisten», wonach auch der Krieg in der Ukraine eine «Vorgeschichte» habe . . . Dieser Platte ist Broder überdrüssig. Geschichte sei nun einmal «ein Irrgarten, aber eben auch ein ‹Kontinuum›, und zu allem, was heute passiert, gibt es ein Gestern und ein Vorgestern», schreibt der Mann aus der jüdischen Handwerkerfamilie aus Katowice, Polen. Seiner Mutter gelang die Flucht aus Auschwitz; der aus Russland stammende Vater überlebte das KZ Buchenwald. 

Broder zitiert aus unangenehmen, zum Teil auch antisemitischen Zuschriften, die er von Russlandverstehern bekommt. Er beschreibt es als ein Konvolut des Schreckens. Ein Leser habe ihm geschrieben, ob seine «emotionalen Ausfälle» etwas mit der Idee zu tun hätten, die «Schtedels wieder aufleben zu lassen im demnächst polnisch-dominierten W(R)estukraine-Raum». Ein anderer Leser hat «Fragen an den Juden Herrn Broder». Ob er erst Ruhe geben werde, wenn alle Deutschen ihr Leben lang zu Kreuze kriechen würden.

Köppel muss es zu denken geben

Die Verbrechen der Russen in der Ukraine, schliesst Broder, hätten offenbar «die ‹Erinnerung› an die Untaten der Nazis aktiviert. Haben unsere Jungs auch so etwas gemacht? Der Opa, der Vater, der Onkel, der Stiefbruder, der an die Ostfront abkommandiert wurde?» Die Bilder aus der Ukraine provozierten bei manchen Deutschen ein Déjà-vu-Erlebnis. Denn Erinnerung sei ein Fluch, der vererbt werde: «Menschen ‹erinnern› sich auch an Erlebnisse, die sie nicht gehabt haben.»

Broder vermutet einen Zusammenhang zwischen dem «proaktiven Geständniszwang – man habe mit dem Holocaust nichts zu tun, man wolle nicht das ganze Leben lang zu Kreuze kriechen» und der gegenwärtigen Haltung «Dieser Krieg sei nicht unser Krieg, wir sollten uns raushalten». Ein interessanter Gedanke, Broder sollte ihn weiter ausführen.

In der «Weltwoche» wird man von Broder aber nicht mehr lesen. Hier kämen Putinversteher zu Wort, «die Russlands verlorene Ehre wiederherstellen wollen». Wegen solcher Beiträge beende er nun seine Mitarbeit bei der Zeitschrift, schreibt er. «Schade, aber es geht nicht anders. Klarheit vor Einheit!» Roger Köppel muss es zu denken geben, dass die Meinungsfreiheit auch für einen Henryk M. Broder ins Unerträgliche überstrapaziert wurde.

  Henryk M. Broder verzichtet auf den Voss-Preis

17.05.2018

Wladimir Putin, der Missverstandene, und Roger Köppel, der angeblich missverstandene Putin-Versteher – wie die «Weltwoche» im Ukraine-Krieg taumelt

28.02.2022

«Wie soll ich da kritisch sein?» Der Publizist Frank A. Meyer scheint alle Komplizen von Putin zu kennen – nur einen nicht: seinen Freund Gerhard Schröder

29.06.2022

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6. Mai 2022 

Gibt es so etwas wie eine "Mentalität" in den verschiedenen Armeen? Oder anders gefragt: welche Moral- und Ethikvorstellungen gelten in den verschiedenen Armeen? Wenn man zum Beispiel Schilderungen in der Ukraine hört, die von grässlichen Greueltaten russischer Soldaten an der Zivilbevölkerung berichteten, dann muss man davon ausgehen, dass in der russischen Armee entweder keine oder dann nicht zu überprüfende Verhaltensregeln (entsprechend dem Völkerrecht) bestehen. Die NZZ von heute geht dieser Thematik nach: 

NZZ vom 6. Mai 2022

Die russischen Soldaten plündern in der Ukraine, und die Militärführung schaut tatenlos zu

Marodierende Truppen führen schnell einmal zu einem maroden Heer. Ausserdem untersagt das Kriegsvölkerrecht Plünderungen. Trotzdem werden sie immer wieder toleriert. 

Herfried Münkler06.05.2022, 05.30 Uhr

 

In einem Dorf westlich von Kiew haben sich russische Soldaten in einem Haus breit gemacht und ein V-Zeichen hinterlassen (Aufnahme vom 15. April 2022).

David Guttenfelder / NYT / Redux / laif

 

Die Bilder, die wir vom Kriegsgeschehen in der Ukraine und von einer nicht unmittelbar mit Kampfhandlungen verbundenen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu sehen bekommen, irritieren die am Kriegsvölkerrecht orientierten Europäer. Das gilt vor allem für die in Butscha und andernorts ermordeten Zivilisten, aber auch für das hemmungslose Plündern durch russische Soldaten in den verlassenen Wohnungen geflüchteter Ukrainer. Die Bilder zeigen, wie von russischen Soldaten alles zusammengerafft wird, was von einigem Wert und in den Herkunftsgebieten der russischen Soldaten offenbar Mangelware ist. 

 

Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie grosse Pakete mit geplünderten Gegenständen zum Versand aufgegeben werden, ohne dass die russische Militärpolizei dagegen einschreitet. Das spricht dafür, dass die Plünderungen von oben geduldet werden. Man kann dies als schwere Verstösse gegen die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen thematisieren, vor allem aber handelt es sich um aufschlussreiche Hinweise auf den Zustand des russischen Militärs und von Teilen der russischen Gesellschaft. Für die Ukraine heisst das: Je besser man seinen Gegner kennt, desto eher ist man ihm gewachsen.

 

Zunächst sollte man freilich dafür Sorge tragen, nicht in das nach 1945 vorherrschende Narrativ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu verfallen, laut dem «der Iwan gerne plündert», was unter der Hand die Botschaft lancieren sollte, die deutschen Soldaten hätten dies nicht getan. Tatsächlich haben auch sie geplündert. Dass beim Feldzug im Westen die deutsche Militärjustiz das zu unterbinden versuchte, hatte vermutlich weniger damit zu tun, dass es gegen das Kriegsvölkerrecht verstiess, als vielmehr damit, dass es die Disziplin der Truppe untergrub und die Geschwindigkeit des Vormarschs gefährdete: Marodierende Soldaten sind mit anderem beschäftigt, als die gegnerische Front zu durchbrechen und in die Tiefe des Raumes vorzustossen. Mit marodierendem Militär, mit plündernden und vergewaltigenden Soldaten lassen sich nun einmal keine Kesselschlachten schlagen.

 

Zur Stärkung der Motivation

 

Seit je hat deswegen eher die Sorge um die Effektivität der Soldaten als der Respekt vor dem Kriegsvölkerrecht dafür gesorgt, dass die Militärführung gegen Plünderer und Vergewaltiger vorging. Man wusste nur zu gut, dass aus marodierenden Soldaten sehr schnell ein marodes Militär wurde, eines jedenfalls, das für die Kriegführung nach den Vorgaben der Niederwerfungsstrategie nicht brauchbar war.

 

Etwas anders stellt sich das beim Abnutzungskrieg dar, in dem es darum geht, in einem auf lange Zeitstrecken angelegten Material- und Soldatenverbrauch den Gegner zu erschöpfen. Im Allgemeinen wird hier weniger scharf gegen Plünderungen vorgegangen, weil diese die Einsatzfähigkeit der Soldaten auch weniger infrage stellen. Unter Umständen kann hier die Aussicht auf Beute sogar ein Ansporn zu erhöhter Kampfbereitschaft sein. Dafür gibt es viele Beispiele, vor allem im Belagerungskrieg. Und eine ähnliche Art von Krieg wird ja derzeit in der Ukraine geführt. 

 

Das mag einer der Gründe sein, weshalb die russische Militärführung dem Beutemachen ihrer Soldaten tatenlos zusieht. Ein anderer Grund dafür könnte sein, dass die russische Führung infolge erheblicher logistischer Mängel ihre Soldaten nur schlecht versorgen kann und deswegen die Plünderungen hinnimmt. Und ein dritter Grund schliesslich mag darin bestehen, dass sie mit der Lizenz zum Beutemachen den Kampfeswillen ihrer offensichtlich nicht besonders motivierten Soldaten heben will. Das jedenfalls sind alternative Erklärungen zum Verdikt von der notorischen Unzivilisiertheit des russischen Militärs. Was freilich nicht heisst, dass Zivilitätsdefizite beim russischen Agieren in der Ukraine keine Rolle spielten.

 

Zur Geschichte des Krieges gehört immer auch die Frage nach den Motiven zum Krieg. In der Frühzeit des Krieges ging es vor allem ums Beutemachen, nicht ums Erobern und um die Inbesitznahme, sondern um die Aneignung von Hab und Gut anderer, Frauen und Kinder inbegriffen. In Homers «Ilias» ist das Beutemotiv durch das der Rache für die entführte Helena verdeckt, aber es lugt unter dem Zentralmotiv des Krieges doch immer hervor, etwa wenn Achill in einen Kampfstreik tritt, weil ihm die als Kriegsbeute zugeteilte Frau von Agamemnon, dem Anführer des Kriegszugs, wieder abgenommen worden ist. Offiziell geht es dabei um eine Frage der Ehre, aber Ehre ist hier nur eine sublimierte Form von Beute.

 

Die Nachteile des Plünderns

 

Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Beute, die ein Krieger unmittelbar macht, etwa wenn er den im Kampf erschlagenen Gegner seiner Waffen und seiner Kleidung beraubt und nur seinen nackten Körper zurücklässt. Die Beute wird dabei zur Trophäe. Anders ist das bei einem Beutesystem, in dem alles, was man der Gegenseite abgenommen hat, erst einmal dem Anführer des Kriegszugs gehört, der es dann an seine Krieger verteilt. Hier ist die Beuteverteilung ein Mittel der sozialen Integration, aber auch der Hierarchiebildung im Kriegerverband – eine Funktion, die später von Rangabzeichen und Orden übernommen worden ist. Beute bildet Gefolgschaft, und wo es keine Beute gibt, zerfällt ein Gefolgschaftsverband. In diesem Sinn waren die Kriegerverbände früherer Zeiten vor allem Beutegemeinschaften.

 

Mit der Zeit begriff man indes die Nachteile der Beutefixierung: Der mit dem Plündern der Erschlagenen verbundene Disziplinverlust konnte für den Fortgang des Kampfes verheerende Folgen haben. So manche Schlacht ging für die zunächst Siegreichen doch noch verloren, weil sie sich über die Leiber der Getöteten hermachten und diese ausplünderten, anstatt den Kampf fortzusetzen, oder weil ihnen die Bagage der Gegenseite in die Hände gefallen war und sie mit dem Einsammeln von Beutegut – oder auch nur einer kräftigen Mahlzeit, die ihnen das Nachschublager des Gegners bot – beschäftigt waren. So konnten sich die schon fast Besiegten wieder sammeln, zum Gegenangriff übergehen und doch noch siegen. 

 

Als einer der Gründe für das Steckenbleiben der zunächst erfolgreichen deutschen Frühjahrsoffensive im Jahre 1918 ist genannt worden, dass die ausgehungerten deutschen Soldaten, als sie die prall gefüllten Nachschublager der Entente erreicht hatten, sich erst einmal satt assen und kräftig dem geplünderten Alkohol zusprachen, statt weiter vorzustossen, bevor der Gegner Reserven heranführen konnte. Das Zurücklassen von Beutegut kann insofern auch eine Taktik sein, durch die der Vorstoss der Angreifer entschleunigt werden soll; man nimmt ihm den Angriffsschwung, indem man ihm die Gelegenheit zum Plündern bietet. Es ist nicht auszuschliessen, dass jetzt auch die Ukrainer auf diese Taktik gesetzt haben. Sie ist funktional das Gegenteil einer Strategie der «verbrannten Erde».

 

Wie bei Räuberbanden

 

Wer auf die gegnerische Taktik, aus Soldaten Marodeure zu machen, nicht hereinfallen will, braucht eine überaus disziplinierte Truppe. Die Durchsetzung von Disziplin hat freilich logistische Voraussetzungen. Disziplin lässt sich nur aufrechterhalten, wenn zuverlässig für Besoldung und Ernährung der Soldaten gesorgt ist. Wo das nicht der Fall ist, ist regelmässig ein Rückfall ins Marodeurentum zu beobachten, das dann von den Kommandanten auch durch die Androhung strenger Strafen nicht verhindert werden kann.

 

Bei irregulären Kämpfern, die, um beweglich zu bleiben, zum Aufbau einer zuverlässigen Logistik nicht in der Lage sind, ist Plündern die Regel, weswegen ihre Handlungen häufig von denen grosser Räuberbanden nicht zu unterscheiden sind. Fast alle Theoretiker des Partisanenkrieges, von Mao über Castro zu Che Guevara, haben sich mit diesem Problem herumgeschlagen. Eine wirkliche Lösung haben sie nicht gefunden, denn der Aufbau von Versorgungslagern beeinträchtigt die Beweglichkeit der Kämpfer und verringert ihre Zahl, weil viele gebraucht werden, um Versorgungseinheiten aufzubauen.

 

Dass das russische Militär, um auf den Krieg in der Ukraine zurückzukommen, Probleme mit der Logistik hat, ist nicht neu. Einige westliche Beobachter haben unter anderem deswegen mit einem Angriff Ende Februar nicht gerechnet, weil noch kein breites Versorgungs- und Sanitätssystem im russischen Truppenaufbau an der Grenze zur Ukraine erkennbar war. Insofern könnte das exzessive Plündern russischer Soldaten vor allem eine Reaktion auf ihre miserable Versorgung sein. Ein weiteres Mal gilt der Satz: Die Laien reden über Strategie und Taktik, die Experten dagegen befassen sich mit Logistik.

 

Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik der Humboldt-Universität zu Berlin.

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8. April 2022

Gleiche Rechte - gleiche Pflichten - für Männer und Frauen! In den letzten Jahren hat sich vieles bezüglich der Gleichwertigkeit von Frau und Mann getan. Zu recht! Aber bezüglich der nationalen "Pflichten" ist es - jedenfalls aus meiner Sicht - noch nicht so ganz zu Gleichwertigkeit gekommen. Warum gibt es bei uns in der Schweiz nicht auch eine "Dienstpflicht", auf welche Art auch immer und unter Berücksichtigung von Schwangerschaft, Geburt und Kinderbetreuung? 

Der folgende Artikel der heutigen NZZ geht auf dieses Thema ein und bildet m.E. eine gute Grundlage für weitere Diskussionen

NZZ vom 8. April 2022, Meinung:

KOMMENTAR

Es ist Zeit für eine Dienstpflicht für alle

Die Mitverantwortung ist die Steigerung der Eigenverantwortung. Darauf beruht das Milizprinzip als Kernholz der schweizerischen Widerstandskraft – von Frauen und Männern. Es braucht jetzt den Mut zur vollen Gleichberechtigung bei Armee und Zivilschutz. 

Georg Häsler, Bern45 Kommentare08.04.2022, 05.30 Uhr

Die Schweiz kann sich auf Bürgerinnen und Bürger in Uniform verlassen, egal, ob im Tarnmuster oder uni im Zivilschutz.

Christian Beutler / Keystone

Auf den Krieg in der Ukraine folgt nicht der Frieden. Vielleicht enden die Angriffe der russischen Armee mit einem Waffenstillstand, vielleicht mit einem russischen Pyrrhussieg. Aber die Leichtigkeit des Seins ist auch in Westeuropa vorbei. Die Krise wird nach der Pandemie zum Dauerzustand. Solange der Geheimdienstzirkel um Präsident Wladimir Putin im Kreml an der Macht ist, bleibt die freie Welt, zu der auch die Schweiz gehört, im Konflikt mit Russland.

Dieser uneindeutige Krieg hat schon längst begonnen: Er zielt auf die Spaltung der freiheitlichen offenen Gesellschaften des Westens ab. Ruhen in der Ukraine die Waffen, wird der Kreml seinen Kampf gegen den Westen verstärken. Die ukrainischen Flüchtlinge, die europäische Abhängigkeit von russischem Billiggas und die drohende Rezession wird der Kreml gnadenlos als Waffen gegen den Westen einsetzen.

Die Schweiz ist gezwungen, ihre Aussen- und Sicherheitspolitik neu zu ordnen. Hinter der Frage über den richtigen Schweizer Standpunkt und die Neutralität in einem Europa, wo Krieg wieder als Mittel der Politik genutzt wird, muss ein weiterer Pfeiler des Staatswesens der Realität des 21. Jahrhunderts angepasst werden: das Milizprinzip.

Neue Modelle für die Dienstpflicht des 21. Jahrhunderts

Anfang März, übertönt vom Lärm der russischen Offensive in der Ukraine, hat der Bundesrat einen Bericht des Verteidigungsdepartements (VBS) über neue Modelle der Dienstpflicht publiziert. Im Kern geht es darum, die Alimentierung von Armee und Zivilschutz sicherzustellen. Die personellen Bestände dieser beiden Instrumente des schweizerischen Sicherheitssystems sind akut gefährdet.

Der Bundesrat sieht das Problem, geht es aber zu langsam und zu vorsichtig an. Für eine Dienstpflicht des 21. Jahrhunderts will die Landesregierung zwei Modelle vertieft prüfen:

Die Sicherheitsdienstpflicht:

Die bedarfsorientierte Dienstpflicht:

Verworfen wurde unter anderem ein Bürgerinnen- und Bürgerdienst, der vorsieht, dass alle einen Einsatz für die Gesellschaft leisten. Armee und Zivilschutz brauchten gar nicht so viel Personal, lautet der Grund, den der Bundesrat gegen diesen «service citoyen» anführt. Dafür müssten neue Aufgaben erschlossen werden, damit alle beschäftigt wären. Der Fokus der Dienstpflicht soll für die Landesregierung auf der Sicherheit bleiben.

Wehrpflicht nur für Männer ist nicht mehr zeitgemäss

Dieser Ansatz ist richtig, geht aber davon aus, dass die Armee personell nicht wieder ausgebaut werden muss. Dies ist je nach Lageentwicklung durchaus möglich. Die Armee wurde seit 1995 von 800 000 Soldaten auf 140 000 reduziert. Es besteht zwar im Gegensatz zu anderen Ländern Westeuropas noch ein militärisches Gesamtsystem. Dieses ist aber aufs absolute Minimum beschränkt.

Der Bericht des Bundesrates über die Dienstpflichtmodelle stammt, wie so vieles, noch aus der Zeit nach dem Kalten Krieg – oder treffender: den letzten Tagen der Vorkriegszeit. Von den beiden Varianten ist die «bedarfsorientierte Dienstpflicht», also der gleichberechtigte Einbezug der Frauen, der «Sicherheitsdienstpflicht» nur für Männer vorzuziehen.

Dies ist in erster Linie aus politischen Gründen so: Die Schweizer Milizarmee kann seit dem 19. Jahrhundert als die Demokratisierung des Gewaltmonopols verstanden werden. Die mündigen Bürger in Uniform schützen mit der Waffe das freiheitliche Staatswesen. Doch die Bürgerinnen sind noch immer nicht wirklich mitgemeint.

Es hat zu lange gedauert, bis 1971 auch die Frauen Teil des eidgenössischen Souveräns geworden sind. Es ist deshalb an der Zeit, die Gleichberechtigung auch auf die Dienstpflicht auszuweiten. Bürgerinnen in Uniform sollten schon längst eine Selbstverständlichkeit sein. Die Armee braucht die Frauen, um die gesamte Schwarmintelligenz der Schweiz zu nutzen.

Miliz bedeutet auch Professionalität

Denn auch darum geht es beim Milizprinzip: Der Bund mobilisiert nicht nur Personal als Helfer oder potenzielles Kanonenfutter. Die Armee und der Zivilschutz profitieren von der zivilen Bildung und den beruflichen Erfahrungen der Angehörigen von Armee und Zivilschutz. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit zum kritischen Mitdenken dieser Bürgerinnen und Bürger in Uniform.

Miliz ist nicht das Gegenteil von professionell. Das Berufspersonal von Armee und Zivilschutz sorgt für eine hervorragende Ausbildung, die auch auf internationaler Ebene mehr als nur mithalten kann. Die taktischen und technischen Kenntnisse der Milizoffiziere haben ein hohes Niveau. Dies zeigen etwa Kontakte im Rahmen der Nato-Partnerschaft für den Frieden.

Auch die Soldatinnen und Soldaten, die heute mehr oder weniger freiwillig Dienst leisten, erbringen bemerkenswerte Leistungen. Dies hat etwa der Einsatz während der Pandemie gezeigt: Nicht nur die Sanität, sondern auch die Infanterie vermochte die zivilen Leistungsbezüger zu überzeugen.

So gingen der Genfer Gendarmerie entlang der geschlossenen Grenzen einige dicke Fische aus den Strukturen der organisierten Kriminalität der französischen Grossstadt Lyon ins Netz – vor allem dank dem Auftreten der mit Sturmgewehren bewaffneten Infanteristen des Durchdienerbataillons.

Die Schweiz als Durcheinandertal

Die Armee und vor allem die Offiziere sind in der Pflicht, dass der Dienst in jedem Fall und für alle Stufen als sinnvoll und herausfordernd wahrgenommen wird. Da besteht in einer so grossen Organisation immer Luft nach oben. Gerade weil die Wirtschaft den Militärdienst auch finanziell mittragen muss, ist Leerlauf zu vermeiden.

Aber die Dienstpflicht erlaubt es allen, in der Armee auch dafür Verantwortung zu übernehmen. Noch vor der russischen Annexion der Krim scheiterte 2013 eine Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee haushoch, die deren Abschaffung forderte.

Das Milizprinzip ist in der Bevölkerung weiterhin verankert. Es symbolisiert auch, dass die Schweiz ein einziges grosses Durcheinandertal ist. Die informelle Verknüpfung der Beziehungsnetze über Organisationen wie die Armee verleiht dem Land eine Nestwärme, die zur Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts beiträgt. Gleichzeitig bremst ein informeller Kontrollmechanismus den Gipfelsturm allzu ehrgeiziger Seilschaften, ebenso offensichtliche Formen der Korruption.

Doch die Elite hat die informelle Vernetzung bis zur Wende 1989 auf die Spitze getrieben: «Der Regierungspräsident war ebenso störrisch wie der Gemeindepräsident und war nicht nur Vorsteher des kantonalen Justiz- und Polizeiwesens, sondern auch Oberst, wie jeder echte Magistrat», so überzeichnet Friedrich Dürrenmatt die Blüten dieser Kultur in seinem letzten Werk.

Das «Durcheinandertal» ist ein groteskes Sittenbild einer Schweiz, die es so kaum mehr gibt. Den eidgenössischen Räten gehören noch drei Obersten an. Die militärischen Beziehungsnetze sind heute marginalisiert. Wer heute noch weitermacht und als Offizierin oder Offizier Verantwortung übernimmt, tut dies nicht für die zivile Karriere. Im Gegenteil: Gerade internationale Betriebe haben oft wenig Verständnis für militärische Abwesenheiten. Doch dies hat die Motivation der Miliz im Dienst eher noch erhöht.

In der Pandemie offenbarte sich die wahre Stärke dieses Systems, es wurde aber viel zu wenig genutzt. Als die Armee sämtliche Sanitäterinnen und Sanitäter mobilisierte, rückten praktisch alle ein. Die Teilmobilmachung im Taschenformat zeigte die hohe Bereitschaft auch der jungen Bevölkerung, ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten: ein Flashmob zugunsten des Gemeinwohls.

Sicherheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe

Das System Schweiz kann sich auf Bürgerinnen und Bürger in Uniform verlassen, egal, ob im Tarnmuster oder uni im Zivilschutz. Doch die angestossene Reform sollte rascher umgesetzt werden. Denn in beiden Fällen ist wohl eine Verfassungsänderung nötig. Der Bundesrat und das Parlament müssen die Entscheidfindung beschleunigen – und die Idee einer bedarfsorientierten Dienstpflicht schärfen.

Denn auch bei diesem gleichberechtigten Dienstpflichtmodell sollte der Zivildienst mit dem Zivilschutz zu einem Katastrophenschutz zusammengelegt werden. Es ist schwer verständlich, weshalb es nicht mit dem Gewissen vereinbar sein soll, bei einer Pandemie oder einer Naturkatastrophe infolge des Klimawandels anzupacken und zu helfen.

Die Ressource Miliz muss zudem konsequenter fürs Krisenmanagement genutzt werden. Auch nach absolvierter Dienstpflicht stehen Angehörige der Armee und des Zivilschutzes zur Verfügung, die in regionalen Krisenorganisationen oder auch auf Stufe Bund die Durchhaltefähigkeit sicherstellen – und das Silodenken der Verwaltung aufbrechen könnten.

Die Mitverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für die Sicherheit ist die Steigerung des freiheitlichen Prinzips der Eigenverantwortung. Dies könnte gerade mit Blick auf den drohenden hybriden Krieg des Westens mit Russland von besonderer Bedeutung sein: Die Möglichkeit der eigenen Beteiligung an den sicherheitspolitischen Instrumenten des Staates schützt die Gesellschaft vor Spaltungsversuchen.

Umso wichtiger wäre es, dass die Reform der Dienstpflichtmodelle möglichst alle abholte: Frauen und Männer, egal, welcher politischen Orientierung oder Herkunft der Familie. Der gemeinsame Dienst ist das Kernholz der vielsprachigen Schweiz und von deren Widerstandskraft. Denn Sicherheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

8. April 2022

Der Krieg in der Ukraine zeigt uns wieder einmal mehr, wie brutal jeder Krieg ist, aber auch wie durchschnittliche Menschen im Kampfgeschehen ein zügelloses und unmenschliches Verhalten entwickeln. Der folgende Bericht der NZZ von heute schildert diese unheilvolle Dynamik:  

NZZ vom 8. April 2022:

Im Ukraine-Krieg nimmt die Verrohung der Soldaten mit hohem Tempo zu

In den letzten Tagen häufen sich die Berichte von Massakern und Plünderungen durch russische Soldaten. Doch auch ukrainischen Verbänden werden mutmassliche Kriegsverbrechen vorgeworfen. Besonders unter russischen Soldaten nimmt die Disziplin ab. 

Rewert Hoffer08.04.2022, 05.30 Uhr

Dem Tod entkommen: ein Mann vor seinem Haus in der ukrainischen Kleinstadt Butscha.

Alkis Konstantinidis / Reuters

Das Massaker an Zivilisten in der ukrainischen Ortschaft Butscha hat die Welt schockiert. Russische Truppen haben dort nach bisherigen Zählungen etwa 300 Zivilisten getötet. Nun zeigt sich immer klarer: Butscha ist kein Einzelfall. Auch in der ostukrainischen Stadt Trostjanez und in Borodjanka nordwestlich von Kiew sollen russische Soldaten geplündert und gefoltert haben. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierte auch Fälle von Vergewaltigungen und Exekutionen. 

Am Donnerstag zitierte das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» aus mitgeschnittenen Funksprüchen russischer Soldaten in Butscha, die dem deutschen Geheimdienst BND vorlagen. Die Soldaten sollen sich in den Funksprüchen freimütig über die Ermordung von Zivilisten geäussert haben, wie das Magazin schreibt. Es gebe auch Aufnahmen, die auf ähnliche Geschehnisse wie in Butscha in anderen Teilen des Landes hinwiesen. Trotz den sich immer weiter verdichtenden Belegen für Kriegsverbrechen beharrt die russische Regierung weiterhin darauf, dass die Greueltaten in Butscha «inszeniert» seien.

Auch auf ukrainischer Seite gibt es Anzeichen für Kriegsverbrechen

Gleichzeitig sieht sich auch die Ukraine mit Vorwürfen konfrontiert, dass ihre Soldaten Kriegsverbrechen verübt haben sollen. Zunächst erschien vergangene Woche ein Video, das zeigt, wie ukrainische Soldaten russischen Gefangenen in die Beine schiessen. Am Mittwoch konnte die «New York Times» ein weiteres Video verifizieren, auf dem ukrainische Verbände zu sehen sind, wie sie verwundete russische Soldaten töten.

Es zeigt sich: Der Krieg lässt die Soldaten auf beiden Seiten verrohen. Bereits nach wenigen Wochen brechen die Kämpfenden in der Ukraine wiederholt das humanitäre Völkerrecht, die Disziplin nimmt ab.

Mangelnde Disziplin in der russischen Armee

Journalisten vor Ort berichten davon, dass Offiziere nicht eingeschritten seien, als russische Truppen in Trostjanez Zivilisten getötet und Leichen geschändet hätten. Laut dem «Spiegel»-Reporter Christoph Reuter herrschten Chaos und Willkür, während sich die Kleinstadt unter russischer Kontrolle befand. Die Schrecken in Butscha und anderen Städten deuten darauf hin, dass dies keine isolierten Ereignisse sind.

Recherchen von Amnesty International bestätigen diesen Eindruck. Am Donnerstag veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Interviews mit zwanzig Personen aus Dörfern und Städten im Umkreis von Kiew. Die von Amnesty befragten Augenzeugen berichten, wie ihre Familienangehörigen getötet wurden und russische Soldaten ohne Vorwarnung auf Zivilisten schossen. Eine Frau gab an, dass russische Soldaten am 9. März in ihr Haus östlich von Kiew eingedrungen seien, ihren Ehemann getötet und sie mit vorgehaltener Waffe mehrfach vergewaltigt hätten.

Die russische Armee war ausserdem wiederholt an Plünderungen beteiligt. Weissrussische Bewohner aus Grenzregionen berichteten davon, dass russische Soldaten ihnen Treibstoff und geplünderte Güter aus der Ukraine verkaufen wollten. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen, wie russische Soldaten Lebensmittel aus ukrainischen Geschäften stahlen.

Die britische Zeitung «The Times» berichtete über die Plünderungen. Sie beruft sich auf Videoaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie russische Soldaten ihre über 2000 Kilogramm schwere Beute aus der Ukraine in Weissrussland in die Heimat verschicken. Unter den gestohlenen Gütern befanden sich unter anderem Fernseher, Kleidung und Klimaanlagen.

Eine Frau steht neben provisorisch ausgehobenen Gräbern im ukrainischen Butscha.

Roman Pilipey / EPA

Paramilitärs und Legionäre gehören zu den Tätern

Viele russische Soldaten sprechen freimütig über die Tötungen und Plünderungen, wie in dem vom BND abgehörten Funkverkehr deutlich wird. Das deutet darauf hin, dass die Armeeführung solche Exzesse toleriert. Ein Grund für die sich häufenden Grausamkeiten könnte sein, dass auf beiden Seiten vermehrt Paramilitärs und Legionäre eingesetzt werden.

In Butscha sollen laut Augenzeugenberichten und abgehörten Funksprüchen neben regulären Einheiten der Armee auch tschetschenische Soldaten und Kämpfer der privaten Gruppe Wagner an den Tötungen beteiligt gewesen sein. Es ist fraglich, inwieweit die russische Führung diese Truppen kontrollieren kann und will.

Ähnlich ist es auf ukrainischer Seite gelagert. Die ukrainische Nachrichtenagentur Unian gab an, dass die paramilitärische Georgische Legion den Einsatz durchgeführt habe, bei welchem die verwundeten russischen Kriegsgefangenen getötet wurden. Die Legion wurde 2014 als ein Verband mehrheitlich georgischer Freiwilliger gegründet. Seit 2016 befindet sie sich offiziell unter Kontrolle der ukrainischen Armee und wird von dieser befehligt.

Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak kommentierte die neuen Vorwürfe mit den Worten, die Ukraine halte sich an die Genfer Konvention über die humane Behandlung von Kriegsgefangenen. Wo es zu Verstössen komme, werde dies juristische Verfahren nach sich ziehen. Zu berücksichtigen sei allerdings auch, dass Russland mit seinem Bruch sämtlicher Regeln des Kriegsvölkerrechts eine emotionale Reaktion in der ukrainischen Gesellschaft auslöse, die sich auch auf das Verhalten der eigenen Soldaten auswirke.  

2. April 2022

Was ist Krieg, was ist Frieden? 

Diese Begriffe waren für mich bis am 24. Februar 2022, beim Ausbruch des russischen Krieges in der Ukraine sehr theoretische Themen! Seither muss ich mich - wie wohl viele andere - damit intensiv beschäftigen! 

Der folgende Feuilleton-Artikel der NZZ beschäftigt sich damit

NZZ Feuilleton vom 2. April 2022

Krieg in der Ukraine: Der Traum vom ewigen Frieden ist geplatzt. Aber das zeigt vielleicht nur, dass wir nicht verstanden haben, was Friede ist

Krieg entsteht aus dem Frieden. Und vielleicht entsteht er, weil wir falsche Vorstellungen davon haben, was Friede bedeutet. Immanuel Kant hat sich darüber Gedanken gemacht. Auf eine Weise, die noch heute Orientierung bietet. 

Otfried Höffe02.04.2022, 05.30 Uhr

Vielleicht ist ewiger Friede nicht möglich, aber jeder Krieg verstösst gegen das Höchste, was den Menschen auszeichnet – die Verpflichtung auf die universal verbindlichen Gebote und Verbote.

Stephanie Lecocq / EPA

Ob Immanuel Kant ein Rassist war, wurde in den vergangenen Jahren heftig erörtert. Keiner Debatte wert erscheint dagegen die Frage, ob der wirkungsmächtigste Denker der Aufklärung ein naiver Friedensutopist war – obwohl sie angesichts des Kriegs in der Ukraine brennend aktuell ist. Rassistisch gefärbte Passagen muss man in Kants Œuvre lange suchen. Über Krieg und Frieden hat der Philosoph aus Königsberg eine eigene, in rechts- und staatsphilosophischer Hinsicht bis heute unübertroffene Abhandlung geschrieben: «Zum ewigen Frieden». 

Aber was soll das sein, «ewiger Friede»? Und was versteht Kant unter Frieden? In der 1795 erstmals erschienenen Schrift behandelt Kant die entscheidenden Fragen: Warum soll unter den Menschen kein Krieg, sondern Friede herrschen? Worin besteht wahrer Friede? Als notwendige Vorfrage: Was ist ein Staat? Darf ein Staat in die Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen? In welcher Gestalt lässt sich der wahre Friede verwirklichen? Und wie lässt er sich garantieren?

Was gegen den Krieg spricht

Kants erste Aktualität: Obwohl sich die Menschen in allen Zeiten und allen Kulturen einen vorbehaltlosen, «ewigen» Frieden wünschen, hat der Friede mit seinem Gegensatz zum Krieg nie den Rang eines philosophischen Grundbegriffs erreicht. Kant hebt diese thematische Vernachlässigung auf, indem er das philosophisch entscheidende Argument entwickelt.

Selbstverständlich spricht auch nach Meinung des Philosophen gegen den Krieg das, was wir seit Wochen in den Medien sehen, hören und lesen: das namenlose Leid von Hunderttausenden Menschen, nicht nur von Soldaten, sondern auch von Zivilisten, die Zerstörung von Wohnungen, Kliniken, der Infrastruktur und von Kunstschätzen sowie die immensen finanziellen Kosten.

Diese pragmatischen Folgen, nämlich Konsequenzen für das persönliche und das kollektive Wohl, darf man nicht und will auch niemand kleinreden. Trotzdem treffen sie nicht das Hauptargument gegen den Krieg, das auf den ersten Blick überraschen, vielleicht sogar zynisch klingen mag.

Die Grenzen, die das Recht setzt

Man stelle sich vor, es gäbe Kriege ohne unermessliches Leid. Könnte dann ein Krieg rechtens sein? Kant antwortet mit einem klaren Nein. Denn bei Kriegen gibt allein der Sieg den Ausschlag und nicht das Recht. Da wird der Philosoph, der sonst eine sehr nüchterne Sprache pflegt, ausnahmsweise pathetisch. «Die Vernunft», heisst es in seiner Friedensschrift, verdammt «vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang» und macht «den Friedenszustand zur unmittelbaren Pflicht».

Im Krieg wird also weit mehr verletzt als das menschliche Wohl. Man verstösst gegen das Höchste, was den Menschen auszeichnet, gegen die Verpflichtung auf die universal verbindlichen Gebote und Verbote. Man verstösst gegen den Teil der Moral, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, gegen die Rechtsmoral, auch Gerechtigkeit genannt.

Kants zweite Aktualität: Er verlangt kein Zusammenleben in eitler Liebe und Freundschaft. Er vertritt keine Utopie im buchstäblichen Sinn des Wortes, kein Nirgendland im Nirgendwo, in dem die Menschen, frei von Streit, Eifersucht und Ehrgeiz, in purer Harmonie leben. Im Gegenteil heisst er Konkurrenz willkommen, allerdings in den Grenzen des Rechts und in dessen Minimalbedingung, dem «Ende aller Hostilitäten», dem nicht bloss vorübergehenden, sondern dauerhaften Frieden.

Der Staat ist keine Habe

Denn wenn der Wettstreit in den Grenzen von Frieden und Recht stattfindet, befördert er für Kant das persönliche und gesellschaftliche, nicht zuletzt das globale Wohlergehen. Dabei darf man dieses Wohl nicht auf materielle Gesichtspunkte verkürzen. Jeder Krieg verunmöglicht die Blüte von Wissenschaft, Medizin und Technik, von Kunst und Kultur und des Sports. Ebenso erschwert er die persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen.

Im 17. und 18. Jahrhundert herrschten zwischen den Fürsten Kriege vor, in denen Gebiete hin- und hergeschoben wurden. Kant lehnt dies mit dem Argument ab, dass ein Staat im Unterschied zum Territorium, «dem Boden, auf dem er seinen Sitz hat», kein Eigentum, keine «Habe» ist. Es handelt sich vielmehr um eine Institution, die sich durch Souveränität auszeichnet.

Der Staat ist für Kant «eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und disponieren hat». Deshalb darf ein russischer Staatspräsident den Präsidenten der Ukraine nicht zur Übergabe des Landes oder eines Teils davon auffordern. Und der ukrainische Präsident darf einer solchen Aufforderung nicht nachkommen. Sie müsste aus dem eigenen Staat kommen und von dessen Volk oder Volksvertretern, dem Parlament, entschieden werden. «Kein Staat», hält Kant fest, «soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.»

Europas Ungerechtigkeit

Wenn Putin behauptet, in der Ukraine herrsche ein verbrecherischer Nationalismus, der die Rechte einzelner Bevölkerungsteile verletze, dann wäre gegen solche Rechtsverletzungen, wenn es sie denn überhaupt gäbe, die ukrainische Justiz zuständig. Erst falls sie versagt, wäre eine überstaatliche Gerichtsinstanz anzurufen, in Europa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Und selbstverständlich gilt hier Wechselseitigkeit: Putin müsste die repressiven Massnahme gegen die Meinungs- und Pressefreiheit in seinem Land aufheben.

Zusätzlich zum Verbot, einen «für sich bestehenden Staat von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung» zu erwerben, verlangt Kant, stehende Heere auf Dauer abzuschaffen. Und er führt zusätzlich zum Staatsrecht und zum Völkerrecht ein Weltbürgerrecht ein. Dieses betrifft einzelne Menschen und ihre wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, religiösen und kulturellen Vereinigungen, aber auch Staaten, sofern sie aufeinandertreffen und friedlich miteinander stehen sollen.

Kant schränkt dieses Recht auf «Bedingungen der allgemeinen Hospitalität» ein. Danach darf jeder Mensch überall anklopfen und sich etwa zum Güter- und Kulturaustausch anbieten. Die Gegenseite hat aber keine Pflicht, sich darauf einzulassen. Ein Gastrecht lehnt Kant ausdrücklich ab. Mit diesem Argument klagt er die «handeltreibenden Staaten» Europas einer «bis zum Erschrecken weit» reichenden «Ungerechtigkeit» an. Sie hätten China und Japan gezwungen, ihre Häfen für den Handel zu öffnen. Dem Imperialismus und Kolonialismus wirft Kant vor, die Rechte der Menschen in den betreffenden Ländern zu missachten: «Die Einwohner rechneten für nichts.»

Vor dem Untergang bewahren

Direkt wirksam ist das Weltbürgerrecht für Kant in seiner Zeit auch im Fall von gestrandeten Schiffsbesatzungen. Diese dürfen seiner Ansicht nach weder ausgeraubt noch versklavt oder getötet werden. Man darf sie aber, sobald das Schiff repariert ist, zum Verlassen auffordern, wenn es «ohne seinen Untergang geschehen kann».

Offensichtlich darf man nach diesem Kriterium Flüchtlinge, ob aus der Ukraine oder anderswoher, so lange nicht zurückschicken, wie in ihrem Land die Waffen sprechen. In den wohlhabenden Staaten des Westens tun Einzelpersonen, Organisationen und staatliche Organe weit mehr, als die Flüchtlinge vor dem Untergang zu bewahren. Faktisch geht das in Kants Weltbürgerrecht geforderte Minimum hier in eine relativ grosszügige Gastfreundschaft über.

Entsprechend seiner These, den Staat brauche selbst ein «Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)», gründet Kant seine Friedenstheorie vor allem auf das aufgeklärte Eigeninteresse, den «wechselseitigen Eigennutz»: «Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt.»

Der Geist des Handels

Diesen Handelsgeist versteht man am besten nicht nur ökonomisch, auch wenn Kant recht haben dürfte, dass unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten «die Geldmacht die zuverlässigste sein möchte». Schon weil die Gesundheit den Menschen so wichtig ist, weil sie ihre Arbeit erleichtern wollen und ungern auf vieles ihnen vertraut Gewordene verzichten, spielen Medizin und Technik, Wissenschaft, Kultur und Sport im Austausch zwischen Staaten eine wichtige Rolle.

Auch dies freilich wäre für Kant klar: Damit sich diese Interessen durchsetzen, müssen autoritäre Staaten wie Russland ihrer Bevölkerung das erlauben, was wir Demokratie nennen – eine auf der Anerkennung von Grundrechten basierende Mitsprache, verbunden mit einer Teilung der öffentlichen Gewalten, die frei von Einschüchterung und Korruption agieren.

Otfried Höffe leitet an der Universität Tübingen das Forschungszentrum für politische Philosophie.

24. März 2022

Der Krieg Russlands in der Ukraine hat wohl die meisten westlichen Politiker überrascht. Niemand hätte so etwas dem (bisher geglaubten) smarten Putin so etwas zugetraut. Aber warum eigentlich? Seine blutigen und radikalen Kriege in Tschetschenien, Georgien, die Annektierung der Krim 2014 usw. hätten eigentlich mehr als genug Zeichen geben müssen, was für Ziele dieser Mann schon länger ins Auge gefasst hat! 

Erst jetzt stellt man langsam mehr und mehr Analysen über diesen blutigen Diktator an. Der NZZ Kommentar von heute

NZZ  - GASTKOMMENTAR vom 24.3.2022

Putins paranoider Krieg gegen die Realität der Geschichte – der Kremlherr verfolgt seine grossrussische Mission ohne Rücksicht auf Verluste

Wladimir Putin scheint den Krieg gegen die Ukraine lange Jahre vorbereitet zu haben. Die Krim und der Donbass waren nur das Vorspiel. Die Ukraine ist das Kronjuwel in seinem Plan, alle «Russen» im Imperium wiederzuvereinen. Sein Scheitern ist absehbar. 

Lucian Kim

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In Ermangelung einer verbindenden nationalen Idee wählte Putin den «grossen Sieg» der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, um die Russen hinter sich zu scharen. – Militärparade vom 9. Mai 2021 auf dem Roten Platz.

Evgenia Novozhenina / Reuters

Wladimir Putin hat ein gefährliches Hobby. Seine Besessenheit von der Vergangenheit und vom historischen Erbe kostet Tausende von Menschenleben, richtet in der Ukraine Zerstörung an und bedroht Russlands eigene Zukunft. 

In der Ukraine kämpft Putin darum, seine Version von historischer Gerechtigkeit wiederherzustellen und das Jahr 2022 zu einem neuen Meilenstein der Weltgeschichte zu machen – auf einer Stufe mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 oder dem Fall der Berliner Mauer 1989. Da sein Geschichtsverständnis jedoch höchst selektiv und politisch verzerrt ist, ist Putins Versuch, die Welt neu zu ordnen, zum Scheitern verurteilt. Sein einziges sicheres Vermächtnis ist ein Platz in der Schurkengalerie der Geschichte.

Ominöser Aufsatz

Im Vorfeld seines erneuten Angriffs auf die Ukraine begründete Putin in einer weitschweifigen einstündigen Fernsehansprache, die wie eine Geschichtsstunde begann, den totalen Krieg. «Die Ukraine ist für uns nicht nur ein Nachbarland. Sie ist ein unveräusserlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums», sagte er.

Laut Putin war die moderne Ukraine eine Schöpfung Lenins, die «historisch russisches Land» umfasste. Putin wiederholte eine 5000 Wörter umfassende Abhandlung, die er im Sommer unter dem ominösen Titel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» veröffentlicht hatte. Darin behauptete er, dass Russen und Ukrainer «ein Volk» seien und dass der Westen danach trachte, die Ukraine in ein «Antirussland» zu verwandeln.

Ironischerweise hat Putin mehr als jeder andere Kremlherrscher der letzten Zeit dazu beigetragen, die Ukraine in Richtung Westen zu treiben und die Feindseligkeit unter den Ukrainern zu schüren. Vor Putins erster unprovozierter Invasion im Jahr 2014 standen die meisten Ukrainer Russland positiv gegenüber und waren einer Nato-Mitgliedschaft gegenüber weitgehend ambivalent eingestellt. Doch nachdem Putin die Krim besetzt und einen blutigen «Volksaufstand» in der Ostukraine angezettelt hatte, begannen die Ukrainer natürlich, Russland als Feind zu betrachten und die Nato-Mitgliedschaft als sinnvolles Ziel anzusehen. 

Kiew, nicht Moskau, ist die Wiege der ostslawischen Zivilisation, welche die heutigen Ukrainer und Russen teilen. Putin hat sich Teile dieser gemeinsamen Geschichte zu eigen gemacht, um seine Annexion der Krim zu rechtfertigen, wo ein mittelalterlicher Kiewer Herrscher namens Wladimir I. – auf Ukrainisch Wolodimir I. – im 10. Jahrhundert zum Christentum konvertierte. In Kiew ist die auf einem Hügel stehende Statue des Fürsten Wolodimir seit mehr als 150 Jahren eines der beliebtesten Symbole der Stadt. Im Jahr 2016 errichtete Putin seine eigene riesige Statue von Fürst Wladimir direkt vor den Kremlmauern.

Die Fernsehsender des Kremls verbreiten die Botschaft, dass alles, was Russen und Ukrainer gemeinsam hätten, beweise, dass sie ein Volk seien, während alle Versuche der Ukrainer, ihre Identität zu behaupten, einen Beweis für westliche Einmischung oder unverhohlenen Faschismus darstellten. Die Ukraine sei ein scheiternder Staat, so die Kreml-Propaganda, und die USA und ihre Verbündeten seien lediglich daran interessiert, das Land als Aufmarschgebiet zu nutzen, um ihr eigentliches Ziel, Russland, anzugreifen.

Kein Preis zu hoch

Putins Überzeugung, dass der Westen der Ukraine militärisch nicht beistehen werde, hat ihm den Freipass gegeben, mit tödlicher stumpfer Gewalt gegen seinen Nachbarn vorzugehen. Putin setzt den Kampf um die Ukraine mit dem Überleben seines Regimes gleich, und er zeigt, dass ihm kein Preis zu hoch ist.

Putin scheint die Worte des ehemaligen amerikanischen Beraters für nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski verinnerlicht zu haben, der einmal schrieb, dass «Russland ohne die Ukraine aufhört, ein eurasisches Imperium zu sein». Mit ihren reichen landwirtschaftlichen Flächen und ihrer Schwerindustrie war die Ukraine das Juwel in der Krone des russischen Reiches und später der Sowjetunion. Strategisch gesehen, ermöglichte die Kontrolle über die Ukraine Russland, seine Macht über das Schwarze Meer und tief nach Europa hinein auszudehnen.

Im Jahr 2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als die «grösste geopolitische Katastrophe» des 20. Jahrhunderts. Seine Wortwahl ist aufschlussreich. Trotz dem unsäglichen Leid, das Nazi-Deutschland den Völkern der Sowjetunion zugefügt hatte, endete der Zweite Weltkrieg mit einem geopolitischen Sieg Stalins, dessen neues Reich sich von Prag bis nach Pjongjang erstreckte, dem absoluten Zenit der russischen Macht. Für Putin bedeutete der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur den Verlust von halb Europa, sondern auch von Gebieten, die viele Russen nach jahrhundertelanger Herrschaft als Teil des Kernlandes ihres Reiches betrachtet hatten.

In Ermangelung einer verbindenden nationalen Idee wählte Putin den «grossen Sieg» der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, um die Russen hinter sich zu scharen, und veranstaltete zu diesem Anlass am 9. Mai immer grössere Militärparaden auf dem Roten Platz. Er verwandelte die schmerzhaften Erinnerungen der Russen an den Zweiten Weltkrieg in einen Kriegskult, der nun zum Kampf gegen «Nazis» in der Ukraine mobilisiert wird.

Putins Verherrlichung der Roten Armee hat es Russland unmöglich gemacht, sich mit seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn zu versöhnen, die nach dem Weltkrieg zu Untertanennationen wurden. Der Kreml hat jede Kritik an der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs als «Geschichtsfälschung» angeprangert und damit eine ehrliche Auseinandersetzung mit Stalins Kollaboration mit Hitler vor der Nazi-Invasion in das eigene Gebiet verhindert. Im Dezember verboten die russischen Behörden die Menschenrechtsgruppe Memorial, die sich für die Aufdeckung der Verbrechen des Sowjetstaates und die Bewahrung des Gedenkens an die Opfer einsetzt.

Wenn es den Russen nicht erlaubt ist, die in ihrem Namen begangenen Verbrechen zu verurteilen, werden sie niemals in der Lage sein, sich von der Sowjetmentalität zu befreien. Und solange sie sich nicht von der sowjetischen Vergangenheit befreien können, werden die Russen nicht in der Lage sein, das Paradoxon zu akzeptieren, dass die Sowjetunion gleichzeitig Befreier und Besatzer von halb Europa sein konnte – und dass sie selber Gefangene in ihrem eigenen Land waren.

Verspätete Konterrevolution

In einer Ansprache an die Nation am ersten Tag des russischen Angriffs bezeichnete Putin Stalins Nichtangriffspakt mit Hitler als Fehler, und zwar nicht, weil er einen grossen Teil Osteuropas zwischen den beiden Diktatoren aufteilte, sondern weil das Abkommen letztlich die Nazi-Invasion nicht abwenden konnte. Diesmal, so Putin, werde Russland denselben Fehler nicht wiederholen. Er habe keine andere Wahl, als einen Präventivschlag zur «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» der Ukraine zu führen.

Putin mag denken, dass er den Zweiten Weltkrieg wiederaufleben lässt, aber sein Krieg gegen die Ukraine ist in Tat und Wahrheit eine verspätete blutige Konterrevolution gegen die Welle prodemokratischer Proteste, wie er sie als KGB-Offizier in Ostdeutschland vor drei Jahrzehnten miterlebte. Die samtenen Revolutionen in Prag und Ostberlin läuteten das Ende des Sowjetimperiums ein.

Im Jahr 2004 erlebte die Ukraine mit der Orangen Revolution ihre eigene Volksrevolte, und 2011 begannen in Moskau Massenproteste, die zur grössten Herausforderung für Putins Herrschaft werden sollten. Nachdem die Ukrainer 2013 und 2014 erneut auf die Strasse gegangen waren, um gegen ihren vom Kreml gestützten Präsidenten Janukowitsch zu protestieren, beschlagnahmte Putin zunächst die Krim, um die Abdrift der Ukraine nach Westen ein für alle Mal zu stoppen.

Für Putin war die gesamte Zeit nach dem Kalten Krieg eine Zeit der Demütigung Russlands durch einen angeblich feindseligen und höhnischen Westen. Mit seinem Krieg gegen die Ukraine will er die Ukrainer dafür bestrafen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Doch es geht auch um Rache für Demütigungen durch die westlichen Rivalen. Putin spiegelt das Vokabular von Konflikten, in welche die USA involviert waren, und rechtfertigt sein Vorgehen in der Ukraine mit unbegründeten Anschuldigungen des «Völkermords» an ethnischen Russen oder der Entwicklung von «Massenvernichtungswaffen» durch die Ukraine. Putin begleicht die Rechnung für die Zeit, da Russland hilflos zusehen musste, wie die USA trotz den Einwänden des Kremls im Nahen Osten in den Krieg zogen.

Die gesamte ukrainische Nation ist zum Kollateralschaden von Putins letztem Versuch geworden, Russlands Grösse wiederherzustellen. Putin setzt allein auf harte Macht. Selbst die Sowjetunion besass eine Ideologie mit globaler Anziehungskraft, aber Putins Russland hat anderen Ländern nichts zu bieten – in der gegenwärtigen Wirtschaftslage nicht einmal Petrodollars.

Weniger als einen Monat vor dem Angriff auf die Ukraine legte Putin einen Kranz an einem Denkmal nieder, das den Hunderttausenden von Opfern der grausamen Belagerung Leningrads durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist. 

Jetzt ist es Putin, der die Städte in der Ukraine belagert.

Die Ähnlichkeiten mit dem Zweiten Weltkrieg sind offensichtlich – allerdings nicht in der Weise, wie Putin sie sich vorstellt.

Lucian Kim hat seit 1996 für führende amerikanische Nachrichtenorganisationen aus Moskau und Berlin berichtet. Im August verliess er Moskau nach fünf Jahren als Russland-Korrespondent von National Public Radio (NPR). Das abgedruckte Stück ist am 21. März auf der Website des Woodrow-Wilson-Center in Washington (DC) erschienen. – Aus dem Englischen von ABn.

Was jetzt gerade in der Ukraine passiert, ist auf allen Ebenen reinstes Kriegsverbrechen. Wie kann dies konkret geahndet werden? Der NZZ Kommentar geht diesem Thema nach:

NZZ KOMMENTAR vom 24.3.2022

Keine Chance für russische Kriegsverbrecher – die Bundesanwaltschaft muss im Völkerstrafrecht mehr tun

Der neue Bundesanwalt Stefan Blättler hat eine Task-Force eingesetzt, um russische Kriegsverbrechen zu verfolgen. Das ist eine wichtige Kurskorrektur, denn zu lange hat die Bundesanwaltschaft das Völkerstrafrecht vernachlässigt. 

Daniel Gerny

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Dieser grauenvolle Krieg ist nicht allein Putins Krieg. Schuldig machen sich alle, die sich an Kriegsverbrechen in Mariupol und anderswo beteiligen.

Azov Handout / Reuters

Die Bilder aus der zerstörten Stadt Mariupol sind zum Symbol für die russische Kriegsführung in der Ukraine geworden: Kein Tag vergeht, ohne dass neue Nachrichten, Bilder und Videos von Angriffen auf Wohnsiedlungen, Spitäler oder flüchtende Kriegsopfer eintreffen. Gezielt führt Russland in ukrainischen Städten eine humanitäre Katastrophe herbei, um die Moral der Bevölkerung zu brechen und sie zu vertreiben.

Auf die Regeln des Völkerrechtes scheint der russische Präsident keinerlei Rücksicht zu nehmen. Doch dieser grauenvolle Krieg ist nicht allein Putins Krieg. Schuldig machen sich alle, die sich an Kriegsverbrechen in Mariupol und anderswo beteiligen.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag, dem auch die Schweiz angehört, hat deshalb schon wenige Tage nach dem Beginn des Angriffs Ermittlungen in der Ukraine aufgenommen. Viele Länder haben zusätzlich ihre eigenen Strafverfolgungsbehörden in Gang gesetzt, um mutmassliche Kriegsverbrechen von Anfang an möglichst lückenlos zu dokumentieren.

Keinen Unterschlupf für Kriegsverbrecher

Solche Strukturermittlungsverfahren werden eingeleitet, bevor überhaupt einzelne Personen ins Visier geraten. Sie dienen dazu, frühzeitig ein präzises Bild von den Vorgängen im Konfliktgebiet zu erhalten, um spätere Strafverfahren zu erleichtern. Vor allem aber senden sie ein starkes Signal aus: Wer sich an Kriegsverbrechen beteiligt, soll im Ausland keinen Unterschlupf finden.

Kurskorrektur eingeleitet: Bundesanwalt Stefan Blättler.

Christian Beutler / Keystone

Die Schweizer Justiz hatte zunächst nur zögerlich reagiert. Gegenüber der NZZ hat die Bundesanwaltschaft noch vor kurzem erklärt, vorerst wolle man die Lage analysieren. Inzwischen zeichnet sich eine Kurskorrektur ab: Der neue Bundesanwalt Stefan Blättler hat die Schraube angezogen und eine Task-Force eingesetzt, um Abklärungen und Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen aufzunehmen. Die Bundesanwaltschaft bestätigte einen entsprechenden Bericht des «Tages-Anzeigers».

So sollen Flüchtlinge befragt werden, um Zeugenaussagen über mutmassliche Kriegsverbrechen zu erhalten. Ob solche Bemühungen am Ende tatsächlich zu einem Strafverfahren in der Schweiz führen, ist völlig offen. Dies hängt vor allem davon ab, ob sich hierzulande mutmassliche Kriegsverbrecher aufhalten werden. Im Vordergrund steht deshalb der Austausch von Beweismaterial mit dem ICC und mit Strafverfolgungsbehörden anderer Länder.

Die Schweiz macht mit diesem Schritt gleichzeitig deutlich, dass ihre Justizbehörden nicht abseitsstehen. Das ist dringend nötig, denn in den letzten Jahren hat sie im Kampf gegen Kriegsverbrechen zu zurückhaltend und unentschlossen agiert. Bereits seit 2011 fallen Straftaten gegen die Interessen der Völkergemeinschaft in die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft, doch lange blieb dies praktisch toter Buchstabe.

Bundesanwaltschaft agierte lange unentschlossen

Die erste Leiterin des 2012 gegründeten Kompetenzzentrums Völkerstrafrecht verliess ihren Posten aus Frust über ungenügende Mittel und Hürden schon nach kurzer Zeit. Anpassungen wurden kaum vorgenommen. So vergingen Jahre, bis die Bundesanwaltschaft 2019 erstmals Anklage gegen einen liberianischen Rebellenführer erhob. Im letzten Jahr wurde er wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Nicht zu Unrecht klagen NGO und Fachleute, dass die Bundesanwaltschaft das Völkerstrafrecht während der Ära Lauber links liegengelassen habe.

Mit dem Krieg gegen die Ukraine geraten Kriegsverbrechen plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In dieser Lage ist es umso dringender, die Strukturen der Strafverfolgungsbehörden anzupassen: Denn um Kriegsverbrechen nachweisen zu können, ist nicht nur viel Know-how, sondern genügend Personal notwendig.

Gut, dass Bundesanwalt Blättler das Defizit erkannt und sich selbst an die Spitze der Task-Force gesetzt hat. Dieser Schritt muss der Auftakt dazu sein, dem Völkerstrafrecht in der Bundesanwaltschaft jenen Stellenwert zuzugestehen, der ihm in einer kriegerischer werdenden Welt zukommt.

13. März 2022 

Das westliche Europa wurde durch den brutalen russischen Krieg in der Ukraine total überrascht, das steht ausser Frage! Das Gespenst eines Dritten Weltkrieges zeigt sich am Horizont, sofern Russlands Putin auf die Nato-Unterstützung an die Ukraine entsprechend reagieren würde. Dieser Krieg zeigt auch ein Energieproblem grössten Ausmasses auf. Bisher waren die Reaktionen der westeuropäischen Länder und der USA auf Boykotte Russlands auf mehreren Ebenen fokussiert. Es ist aber eine Tatsache, dass wenn  Gas- und Oellieferungen aus Russland total unterbunden würden, letzten Endes auch das ganze westeuropäische System durcheinander gewirbelt würde. Es scheint eine Tatsache zu sein, dass seit Jahren viel zu viele Abhängigkeiten von Russland  entstanden sind.  Alternativmöglichkeiten wurden wohl massiv vernachlässigt. Wie kann mit dieser sehr heiklen Situation nun umgegangen werden?

BLUE NEWS weist nun in einem heutigen Artikel auf eine Energiemöglichkeit hin, an die wohl bis jetzt nur wenige gedacht haben. Würde diese Möglichkeit das Energieproblem lösen? 

Start-up will unbegrenzte Energie aus der Erdkruste ziehen

Unter der Erde schlummert fast unbegrenzt Energie.

Getty Images

Ein amerikanisches Start-up will so tief wie nie zuvor in die Erde bohren. Die dort gespeicherte geothermische Energie soll quasi unbegrenzt sauberen Strom liefern.

Von Dirk Jacquemien BLUE NEWS 13.3.2022 

Die Notwendigkeit stärkerer Verwendungen erneuerbarer Energie wird dieser Tage wieder mal deutlich. Wollen sich Staaten nicht den Launen von Diktatoren mit Minderwertigkeitskomplexen aussetzen, brauchen sie eigene Energiequellen.

Obwohl in der Erde fast unbegrenzt Hitzenergie gespeichert ist, spielt die Geothermie bisher eine eher untergeordnete Rolle. In der Schweiz werden immerhin rund 15 Prozent aller Gebäude auf diese Art und Weise erhitzt, aber zur Stromerzeugung wird Geothermie hierzulande gar nicht genutzt. Weltweit beträgt der Anteil am Strommix weniger als 1 Prozent.

Denn bisher ist die Stromerzeugung durch Geothermie aufwendig und teuer und häufig nur in Gegenden wirtschaftlich, in denen sich die Hitze selbstständig ihren Weg nahe der Oberfläche bahnt, etwa durch vulkanische Aktivität. Mit ganz neuer Technik soll geothermische Energie aber überall gewonnen werden können.

Erneuerbare Energie - 

Lauschig-warm bei 500 Grad

Das Start-up Quaise Energy, eine Ausgründung des Massachusetts Institute of Technology (MIT), will dazu bis zu 20 Kilometer tief bohren. Hier herrschen Temperaturen von rund 500 Grad Celsius. Quaise würde damit deutlich tiefer vordringen als der bisherige Tiefenrekordhalter, die Kola-Bohrung auf der gleichnamigen nordrussischen Halbinsel, die 12,2 Kilometer erreichte.

Die extremen Temperaturen ganz tief unter der Erde sind aber ein Problem für die Bohrinstrumente. Quaise will daher elektromagnetische Hochfrequenzwellen einsetzen, um das Gestein zu spalten und sich den Weg in die Tiefe zu bahnen.

Kohlekraftwerke sollen umgerüstet werden

überkritischen Zustand, 

Quaise schlägt daher auch vor, Standorte von alten Kohlekraftwerken umzurüsten, die statt durch die Verbrennung von Kohle dann mit der Hitze aus der Erde Strom erzeugen würden. Die Bohrung könnte fast überall auf der Welt stattfinden.

meldet

11. März 2022

Wer ist Putin, was weiss man über ihn? Wladimir Putin, ist der despotische Herrscher im Kreml und der Kriegsherr und Verantwortliche für den grauenhaften Krieg in der Ukraine. Ist dieser Mann wirklich verrückt, wie einige behaupten? Ulrich M. Schmid ist der Meinung, dass er das nicht ist, sondern sich auf einer fanatischen russisch-faschistischen Ebene bewegt und jederzeit klare Vorstellungen hatte, wohin er das Staatsschiff lenken will! Nach seiner Vorstellung kann Russland entweder gross oder gar nicht sein: Putins Handeln basiert auch auf sinistren Ideologien.

Die folgenden drei Artikel der NZZ vom 10. März 2022 bilden aus meiner Sicht eine hervorragende Plattform zum Verstehen der gegenwärtigen Situation rund um den Ukraine-Krieg. Die drei Autoren präsentieren auch ein sehr gutes Bild von Wladimir Putin, der wohl als der Hauptverantwortliche für die Kriegssituation  ist. 

NZZ vom 10. März 2022

Putins Einflüsterer

Russland ist entweder gross oder gar nicht: Putins Handeln basiert auch auf sinistren Ideologien

Der russische Präsident ist nicht wählerisch in seinen Mitteln für die Durchsetzung der Machtpolitik. Noch weniger ist er es, wenn es um die Stichwortgeber seiner Grossmachtphantasien geht. 

Ulrich M. Schmid

Wladimir Putin ist ein Machtmensch, dessen Weltbild sich aus vielen obskuren Quellen speist.

Alexei Druzhinin / AP

Ist Putin verrückt? Die Antwort lautet: nein. Zwar scheint sein eigenmächtiges und verblendetes Vorgehen allen Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes zu widersprechen, gleichzeitig handelt er aber innerhalb seiner grossrussischen Ideologie kohärent und folgerichtig. Putin bewegt sich in einer Denktradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht und in verschiedenen historischen Kontexten einen undemokratischen und wertkonservativen Staat gefeiert hat. Ideengeschichtlich gesehen ist Putin ein Eklektiker. Er nimmt Theorieangebote auf, wo er sie findet, und integriert sie in seine wahnhafte Vision eines grossrussischen Imperiums, das über eine tausendjährige Staatlichkeit verfügt.  

Geschichte gehört in Putins Russland nicht zur Vergangenheit, sondern ist Teil der Gegenwart. 2016 wurde in Orjol ein Denkmal für Iwan den Schrecklichen errichtet. Bei der Einweihung bezeichnete der Rektor der Moskauer Staatsuniversität den blutigen Tyrannen als «Symbol der russischen Staatlichkeit», seine Herrschaftszeit werde «mit goldenen Buchstaben in die Geschichte unseres Vaterlandes» eingeschrieben. Die seltsame Wahl für das Denkmal geht auf die Herrschaftsideologie des grausamen Zaren zurück, die auch für das System Putin relevant

Iwan stützte seine Macht auf das Denken des Abtes Joseph Sanin von Wolokolamsk. Joseph anerkannte zwar die Menschennatur des Zaren, die Macht des Monarchen erschien aber aus seiner Sicht göttlich und deshalb unbegrenzt. Sogar Intrigen und Täuschungen waren explizit erlaubt. Putin bewundert Iwan den Schrecklichen für seine Verteidigung des orthodoxen Glaubens gegen die römisch-katholische Kirche und hält Iwans angeblichen Sohnesmord für eine Legende des rachsüchtigen päpstlichen Nuntius.

Die eiserne Hand des Zaren

Der Absolutismus hielt sich in Russland bis zur Abdankung des letzten Zaren Nikolai II. im März 1917. Die Herrscher standen nicht nur über dem Gesetz, sie waren das Gesetz. Die Monarchen waren aufgrund ihres Gottesgnadentums überzeugt, dass sie über dasselbe staatsrechtliche Gewicht wie das ganze Volk verfügten. Als der britische Botschafter Nikolai II. während des Ersten Weltkriegs auf dessen wachsende Unpopularität ansprach, antwortete der Zar vielsagend: «Meinen Sie nun, dass ich das Vertrauen meines Volks zurückgewinnen muss, oder meinen Sie nicht vielmehr, dass mein Volk mein Vertrauen zurückgewinnen muss?»

Allerdings verachtet Putin Nikolai II. als schwachen Herrscher, der für den Zerfall seines Reichs verantwortlich ist. Umso heller strahlt in Putins Augen Nikolais Vater, Alexander III., der Russland mit eiserner Hand regierte. Putin verwendet gerne ein Zitat von Alexander III., um seinen Isolationismus historisch zu begründen: Russland verfüge nur über zwei Verbündete: die Armee und die Flotte.

Auch die von Putin oft behauptete Einzigartigkeit der russischen Zivilisation geht auf einen Denker aus dem 19. Jahrhundert zurück. Nikolai Danilewski identifizierte in seiner Untersuchung «Russland und Europa» zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur «germanisch-romanischen Kultur» der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor, und zwar mit gutem Grund: Es stellt nämlich den Höhepunkt dar, der alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte abschliessen wird.

Zar Alexander III. mit seiner Familie. Der spätere Zar Nikolai II. steht hinter seinem Vater.

Imago

Mit den Sowjetführern teilt Putin die Illusion der Attraktivität des eigenen Herrschaftssystems. Lenin und Stalin waren überzeugt, dass nach dem Oktober 1917 weitere sozialistische Revolutionen in Europa ausbrechen würden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtete man in Moskau die Bruderländer des «Ostblocks» nicht als Besatzungszonen, sondern glaubte an ihre Einsicht in den sozialistischen Fortschritt. Der Kommunismus nahm die Züge einer Erlösungsreligion an. Putin verglich noch im Jahr 2016 die ideologische Programmschrift «Der Kodex des Erbauers des Kommunismus» mit der Bibel und nannte als wichtigste sowjetische Werte die Gleichheit, die Bruderschaft und das allgemeine Glück.

Schädliche Demokratie

Putin macht nicht nur Anleihen bei der Sowjetideologie, sondern auch bei antirevolutionären Denkern aus der russischen Emigration. Eine wichtige Inspirationsquelle ist für ihn der monarchistische Philosoph Iwan Iljin, der nach der Oktoberrevolution zunächst nach Berlin und später nach Zollikon übersiedelte. Iljin entwarf im Jahr 1938 eine Verfassung für ein postsowjetisches Russland. Darin nahm er Putins autoritäre Staatsvorstellungen vorweg.

Eine Demokratie sei schädlich. Russland brauche einen straff gelenkten Staat, dessen Legitimation sich aus der Religion und der Geschichte speise. Ganz dem Zeitgeist entsprechend forderte Iljin, dass «der Staat alle seine Bürger durch eine einheitliche patriotische Solidarität» zusammenbinden solle. Der zukünftige russische Staat müsse durch einen Monarchen zusammengehalten werden. Nicht die Konkurrenz der Parteien, sondern das allgemeine Vertrauen in die Macht sei die Basis der politischen Entscheidungsfindung. Putin zitiert Iljin gelegentlich in seinen Reden. Er sorgte dafür, dass Iljins Gebeine 2005 nach Moskau übergeführt wurden, und war persönlich bei der Beisetzung zugegen.

Der Philosoph Nikolai Berdjajew wurde gemeinsam mit Iwan Iljin 1922 auf einem der sogenannten «Philosophendampfer» aus Sowjetrussland ausgewiesen. Anders als Iljin war Berdjajew in seiner Jugend ein überzeugter Marxist gewesen, der sich später zu einem konservativen Denker wandelte. Auf die Oktoberrevolution reagierte Berdjajew mit einer «Philosophie der Ungleichheit». Seine politischen Vorlieben lagen fortan bei Mussolini und schliesslich sogar Stalin, den er als Verteidiger des russischen Vaterlands verehrte. Putin lobt Berdjajew als Vertreter eines «gesunden Konservatismus», der nicht zukünftige Entwicklungen, sondern den Rückschritt ins Chaos verhindere.

Der dritte Exildenker, auf den sich Putin bezieht, ist Alexander Solschenizyn, der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1970, der das sowjetische Strafsystem in mutigen literarischen Texten angeprangert hatte. Nach seiner Ausweisung wurde er in Europa und den USA zunächst als Dissident gefeiert. Allerdings las Solschenizyn auch bald dem westlichen Publikum die Leviten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte er nach Russland zurück. Er empfahl die Vereinigung von Russland, Weissrussland und der Ukraine in einen Staat, der nicht demokratisch, sondern von Philosophenkönigen regiert werden müsse. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte Putin Solschenizyn besucht, er zeichnete ihn im Jahr 2007 sogar mit einem Staatspreis aus. Putin nahm persönlich an Solschenizyns Begräbnis teil und weihte im Jahr 2018 ein Solschenizyn-Denkmal in Moskau ein.

Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn in einer Aufnahme von 1974.

Hulton Archive / Getty

Im postsowjetischen Russland gibt es eine prominente nationalistische Denktradition, deren berüchtigtster Vertreter Alexander Dugin ist. Der Vordenker der eurasischen Bewegung ist überzeugt, dass Russland «entweder gross oder gar nicht» sein werde. Russland müsse sich vom Westen abwenden und zu seiner eurasischen Bestimmung zurückkehren. Das «Russentum» wird bei Dugin zum Mass aller Dinge, dem sich sogar die Ethik unterordnen muss. In einem Aufsatz über Dostojewski behauptet Dugin, dass sogar die russischen Verbrechen unvergleichlich höher stünden als fremde Tugenden. Putin hält sorgfältige Distanz zu Dugin – möglicherweise um sich selbst als gemässigten Vertreter des Eurasismus zu präsentieren.

Insel oder Festung

Der Historiker Wadim Zymburski legte 1993 einen einflussreichen Aufsatz über die «Insel Russland» vor. Er ging davon aus, dass sowohl das Zarenreich als auch das Sowjetimperium Russland von der eigenen geopolitischen Identität entfremdet hätten. Deshalb sei der Zerfall der Sowjetunion eine Chance für Russland, das sich auf seine Grenzen zurückziehen und sich wie eine Insel abschotten müsse. Russland sei von einem Gürtel geopolitisch undefinierter Staaten umgeben.

Alle diese Staaten müssten sich entscheiden, entweder zu Russland oder zum Westen zu gehören. Manche Staaten – wie namentlich die Ukraine – würden bei dieser Wahl aber auseinanderbrechen. Zymburski ging davon aus, dass sich die Krim, das sogenannte «Neurussland» und alle Gebiete östlich des Dnjepr in einem Akt zivilisatorischer Selbstdefinition Russland anschliessen würden. Mit dieser Vision wird Zymburski zu einem Stichwortgeber von Putins aggressiver Ukraine-Politik.

2005 legten die beiden nationalistischen Publizisten Michail Leontjew und Michail Jurjew ihre Konzeption der «Festung Russland» vor. Die grösste Gefahr bestand aus ihrer Sicht darin, dass Russland sich als Staat mit einer eigenen Zivilisation in einer globalisierten Wirtschaftsordnung auflösen könnte. Deshalb forderten sie, dass Russland sich selbst vom Welthandel abschneiden und ein alternatives politisches System zum westlichen Liberalismus entwerfen solle. Die Garanten dieses Szenarios wären laut den Autoren der starke Präsident, die Atomwaffen und die natürlichen Ressourcen des Landes. Putin kann sich bei seiner Vorliebe für eine russische Selbstisolation auf solche ideologischen Entwürfe stützen.

Die Politikwissenschaft muss über die Bücher gehen. Viele der klassischen politikwissenschaftlichen Theorien können Putins aggressives Vorgehen nicht erklären. Seit dem 24. Februar ist klar: Der russische Präsident ist kein kalkulierender Machtmensch, der Risiken und Chancen abwägt. Er ist auch nicht in Institutionen eingebunden, die ihre Interessen formulieren können. Sein Handeln beruht auf ideologischen Überzeugungen. Für das Erreichen seiner Ziele ist ihm kein Preis zu hoch.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands sowie Prorektor Aussenbeziehungen an der Universität St. Gallen.

NZZ GASTKOMMENTAR vom 10. März 2022

Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat – Wladimir Putin ist ein gelehriger Schüler Benito Mussolinis

Von seinen Gegnern wird Wladimir Putin gern als «Putler» bezeichnet. Die historische Analogie indes stimmt nicht, Putin ist kein Nazi. Dafür erfüllt er mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht. Das Gebot der Stunde ist daher, Russland zu entfaschisieren. 

Wladislaw Inosemzew10.03.2022, 05.30 Uhr

Russische Il-76 Militärtransportmaschinen überfliegen Moskau anlässlich der Feiern zum Sieg über Nazideutschland, 4. Mai 2020.

Maxim Shemetov / Reuters

Als Präsident Putin am 24. Februar grünes Licht für den Überfall auf die Ukraine gab, bestand er darauf, dass die russischen Streitkräfte im Nachbarland nur eine «Spezialoperation» durchführen würden, um es zu «entnazifizieren». Es beliebte ihm, das Vorgehen der Ukraine gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass als «Völkermord» zu bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine einzige grosse Lüge. Denn nicht die Ukraine, welche einen jüdischen Präsidenten hat und in welcher der Gebrauch der russischen Sprache weit verbreitet ist, ist unter die Kontrolle von «Nazis» geraten, sondern Russland selbst hat sich unter Putin zu einem klassischen faschistischen Staat entwickelt.

Die ukrainischen Kämpfer bezeichnen die russischen Invasoren nicht zufällig ständig als Faschisten und nennen den russischen Präsidenten «Putler», um die Parallelen zu Hitler zu unterstreichen. Spätestens nach dem Ausbruch des Krieges erscheint eine solche Formulierung naheliegend, aber die Debatte über die Ähnlichkeiten begann kurz nach der russischen Annexion der Krim, als Mikhail Iampolski (New York University) oder Alexander Motyl (Rutgers University) versuchten, Putins Staat als faschistisch darzustellen – ohne sichtbar Unterstützung aus der Zunft der Politikwissenschafter zu bekommen.

Ein Nazi ist Putin nicht

Ich habe damals in der russischen freien Presse positiv auf diesen Versuch reagiert und wurde später dafür verurteilt, unter anderem von Marlène Laruelle (George Washington University), die einen Sonderband zur Verteidigung von Putins Russland verfasst hat.

Ich möchte hier versuchen, mich dem Thema aus einer theoretischen Perspektive zu nähern und auf politische Etiketten zu verzichten. Dabei gehe ich von Robert Paxtons Definition des Faschismus aus. Danach ist Faschismus «eine Form politischen Verhaltens, die durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang der eigenen Gemeinschaft, ihrer Demütigung oder Opferrolle sowie durch kompensatorische Kulte von Einheit, Stärke und Reinheit gekennzeichnet ist, in denen eine Partei nationalistischer Kämpfer, die in loser, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten arbeitet, demokratische Freiheiten aufgibt und mit messianischer Gewalt und ohne ethische oder rechtliche Beschränkungen Ziele der internen Säuberung und externen Expansion verfolgt».

Fast jeder dieser Punkte widerspiegelt, was sich seit Jahren in Putins Russland abspielt. Man könnte auch Merkmale hinzufügen, die Umberto Eco zum Verständnis des Faschismus beigesteuert hat, wie den «Kult der Tradition» (oder des «Konservatismus»), den Umstand, dass «Uneinigkeit Verrat ist» (was sich in der Suche nach «ausländischen Agenten» niederschlägt), die «Angst vor dem Unterschied» (präsent als fixe Idee von «Stabilität»), das Vertrauen auf «Antiintellektualismus und Irrationalismus» (was in Russland zur religiösen «Erweckung» geführt hat), die «Besessenheit von einer Verschwörung» (sprich: die Einflussnahme des «untergehenden Westens»), sodann «selektiver Populismus», «Neusprech» und Lüge. 

Es sei hier an einen Satz erinnert, den der Wirtschaftswissenschafter Peter Drucker vor mehr als achtzig Jahren formulierte: «Der Faschismus ist das Stadium, das erreicht wird, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat.»

In Bezug auf Putins Faschismus sei hier festgehalten, dass das Regime, das er in Russland seit den nuller Jahren aufgebaut hat, sehr wenig mit dem Nationalsozialismus gemein hat, wie er von Historikern seinerseits mit dem Faschismus in der Sowjetunion in Verbindung gebracht wurde. Putin ist kein Nazi. Selbst er fand heraus, dass die russische Nation nicht durch «Rasse», sondern durch einen «gemeinsamen kulturellen Code» zusammengehalten wird, der umso «wertvoller» ist, als er aus einer «jahrhunderte-», ja sogar «jahrtausendealten» Vermischung der Kulturen hervorgegangen ist. Aus diesem Gedanken, der von der russisch-orthodoxen Kirche gestützt wird, speist sich die Doktrin der «russischen Welt». Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini entwickelt hat – versetzt mit sozialdemokratischen Elementen, einem starken Gefühl der Grösse des verlorenen Reiches, einer korporativen Organisation der nationalen Wirtschaft und einer eher massvollen Unterdrückung des politischen Gegners.

Vier Säulen

Die erste Säule des russischen Faschismus ist das Lob des Irredentismus (des Ziels also, möglichst alle Angehörigen eines «Volkes» in einem Staat zu einigen) und der Militarisierung. Beides hat Putin zu einem Kernstück seiner Ideologie gemacht. Die jüngeren Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über die Nazidiktatur übertrafen alles, was in der Sowjetunion stattfand – einige übereifrige Politiker schlugen sogar vor, den noch lebenden Angehörigen der Kriegsopfer ein Wahlrecht bei den nationalen Wahlen zu gewähren.

Der Kult um die gloriose Vergangenheit lieferte den allerbesten Vorwand für die militärische Aufrüstung. Daneben pflegte Putin einen Hass auf den Westen, von dem her er das Ende des Kalten Krieges als Ergebnis einer Verschwörung und eines Verrats interpretierte, die zur Niederlage und zum Untergang der Sowjetunion geführt hatten. Zuletzt behaupteten Putin und seine Getreuen gar, der Westen wolle die Russische Föderation selber demontieren und zerstören. Ebendiese Gefahr wurde als Hauptgrund für einen «präventiven» Angriff auf eine Ukraine angeführt, deren Präsident Selenski nichts weiter sei als eine russophobe Marionette Washingtons.

Die zweite Säule war die fortschreitende Etatisierung der russischen Wirtschaft. Vor einem Jahrhundert hatte Mussolini verkündet: «Der faschistische Staat beansprucht die Herrschaft auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht weniger als auf anderen Gebieten; er entfaltet seine Wirkung in der ganzen Ausdehnung des Landes mithilfe seiner korporativen Institutionen, wobei alle wirtschaftlichen Kräfte der Nation, die in ihren jeweiligen Verbänden organisiert sind, innerhalb des Staates zirkulieren.»

Nach Emilio Gentile ist eines der wichtigsten Merkmale des Faschismus die «korporative Organisation der Wirtschaft, welche die Gewerkschaftsfreiheit unterdrückt, die Sphäre der staatlichen Intervention ausweitet und versucht, durch Technokratie und Solidarität die Zusammenarbeit der ‹produktiven Sektoren› unter der Kontrolle des Regimes zu erwirken – dies, um die gesteckten Machtziele zu erreichen, aber gleichzeitig das Privateigentum und die Klassenunterschiede zu erhalten». Auch die russische Wirtschaft ist unter Putin von Bürokraten beherrscht. Zugleich wird das Wort «Technokrat» verwendet, um die besten Köpfe der Kreml-Administration zu bezeichnen.

Drittens ist Russland unter Putin zum Land der «Vollstreckungsbehörden» geworden. In den letzten Jahren erfolgte eine zunehmende Umstrukturierung der Administration zu dem Zwecke, dem neuen Duce einen absoluten Durchgriff von Macht und Gewalt zu ermöglichen. Zu den Streitkräften, zum Innenministerium und zum Föderalen Sicherheitsdienst kam 2002 der Föderale Wachdienst hinzu. 2007 erweiterte sich der Machtapparat um das Untersuchungskomitee und 2016 um die Nationalgarde. Alle diese Entitäten werden von Putins treuesten Weggefährten geleitet und finden nicht einmal in der aktualisierten Fassung der russischen Verfassung eine Erwähnung. Im Weiteren entstanden in ganz Russland paramilitärische Einheiten – von «Privatarmeen» staatlicher Unternehmen bis hin zu «ethnischen Garden» wie jenen in Kadyrows Tschetschenien (die jetzt in den Aussenbezirken Kiews gegen die ukrainische Armee kämpfen).

Viertens dürfen hier Symbolik und Propaganda nicht unerwähnt bleiben, beides sind für faschistische Regime wesentliche Faktoren. Im heutigen Russland lassen sich sowohl eine «rechtmässige» Kodifizierung der Geschichte als auch der Versuch beobachten, alternative historische Lesarten zu verfolgen. Es gibt eine willkürliche Definition von «Extremismus» und eine willkürliche Einschränkung politischer Aktivitäten. Die wichtigsten Massenmedien unterstehen staatlicher Kontrolle. Deren populistische Rhetorik über eine «nationale Renaissance», über die «Stärke des Landes» und das «Kräftemessen mit dem Feind» hat sich von Jahr zu Jahr verstärkt.

Kurioserweise zeigt das vor Jahren neu entworfene Wappen einer russischen Strafverfolgungsbehörde nichts anderes als ein Bündel jener «fasci», die auf dem Emblem der italienischen faschistischen Partei prangten, nur dass sie jetzt stolz in den Fängen eines doppelköpfigen Adlers liegen. Putins Propaganda ist mit allen Wassern gewaschen und derart wirksam, dass die Russen kein Problem damit haben, wenn der Kreml-Herrscher Charkiw als «russische Stadt» bezeichnet und gleichzeitig die Bombardierungen als «Kampf gegen die Nazis» proklamiert. Im Jahr 2022 sind die durchschnittlichen Russen genauso indoktriniert und unbeleckt von Moral wie die Italiener und Deutschen in den späten dreissiger Jahren.

Der Westen muss sich engagieren

Putins Faschismus wurde Anfang der 2000er Jahre geboren, als er den Untergang des sowjetischen Imperiums zur grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts erklärte und die Überführung der sterblichen Überreste des berühmtesten russischen faschistischen Philosophen, Iwan Iljin, vom schweizerischen Zollikon nach Moskau als Staatsakt inszenierte. Er verstärkte sich in den folgenden Jahren durch die Aggression gegen Georgien und die Annexion der Krim.

In all diesen Jahren gab es naive westliche Gelehrte, die Russland als «normales Land» beschrieben und versuchten, dessen «souveräne Demokratie» tiefer und besser zu verstehen. Mittlerweile ist das Thema des russischen Faschismus nicht mehr nur von theoretischem Interesse. Die russischen Faschisten haben sich mittlerweile daran gemacht, die ukrainische Zivilbevölkerung zu kujonieren und wenn nötig zu töten, während der Herr im Kreml vorgibt, dass die ukrainische Armee diese als lebenden Schutzschild benutze, so wie es während des Zweiten Weltkriegs die Faschisten taten.

Der Krieg in der Ukraine ist mehr als nur ein Konflikt zwischen den Teilen des ehemaligen Imperiums. Er ähnelt dem Vormarsch der faschistischen Brüder im Vorkriegseuropa, wie man ihn von der italienischen und der deutschen Hilfestellung im Spanischen Bürgerkrieg kennt. Um einen neuen Weltkrieg zu verhindern, sollte sich die freiheitliche westliche Welt entschlossen hinter die tapfer kämpfenden Ukrainer stellen. Sie sollte die Schraube der wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Russland, aber auch gegen Weissrussland dermassen stark anziehen, bis beide Regime ins Wanken geraten. Was auf dem Spiel steht, ist nicht mehr und nicht weniger als eine vollständige und tiefgreifende Entfaschisierung Russlands. 

Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.

NZZ KOMMENTAR vom 10. März 2022

Putins Krieg in der Ukraine ist für die Schweiz ein Weckruf

Die geschlossene Reaktion des Westens hat für die Schweizer Aussenpolitik Folgen. Der Spielraum für einen eigenen, opportunistischen Kurs wird enger. 

Tobias Gafafer10.03.2022, 05.30 Uhr 

Peter Gut

Die USA warnten bereits im Januar vor einem drohenden russischen Einmarsch in die Ukraine. Der Bund aber beschäftigte sich mit dem Abbau von Handelshürden für Emmentaler, Gruyère und Appenzeller. «Schweiz und Russland wollen Austausch im Agrarbereich intensivieren», teilte Guy Parmelins Wirtschaftsdepartement Mitte Januar mit. Mit Ausfuhren von jährlich rund 250 Millionen Franken handle es sich um den sechstgrössten Exportmarkt für Agrarprodukte.

Namentlich die Käseexporte nach Russland haben sich von 2014 bis 2020 versiebenfacht. Die Branche profitierte vom Schweizer Sonderkurs nach Moskaus Annexion der Krim. Der Bundesrat verzichtete damals darauf, die Sanktionen der EU zu übernehmen. Stattdessen erliess er Massnahmen, damit Russen die Schweiz nicht für Umgehungsgeschäfte nutzen. Die Regierung begründete dies mit den Schweizer Vermittlungsbemühungen. Bern hatte 2014 den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne.

Die Schweiz schaffte mit dem Mittelweg den Spagat, weder ihre westlichen Partner noch Wladimir Putin zu stark zu verärgern. Sie stellte öffentlichkeitswirksam ihre Guten Dienste zur Verfügung – und machte nebenbei auch gute Geschäfte. Russland verschonte die Schweiz von Retorsionsmassnahmen, die es für Käse und andere Agrargüter aus westlichen Ländern erliess. 2014 nahmen zudem die russischen Geldflüsse in die Schweiz stark zu.

Putins brutaler Einfall in der Ukraine hat den Schweizer Mittelweg zu Recht schlagartig unmöglich gemacht. Die russische Armee richtet Zerstörungen an, wie es sie in Europa in diesem Ausmass seit 1945 nicht mehr gab. Der Bundesrat wollte unter der Federführung von Guy Parmelin und Ignazio Cassis zwar zunächst am bisherigen Kurs mit Massnahmen gegen Umgehungsgeschäfte festhalten. Doch damit hätte sich Bern im Westen rasch isoliert.

Moskau zu verurteilen, ohne die EU-Sanktionen voll mitzutragen: Diese Haltung liess sich in der gegenwärtigen Krise weder erklären noch rechtfertigen. Trotz ihrem Selbstverständnis als neutraler Kleinstaat ist die Schweiz wirtschaftlich eine Mittelmacht. Hätte sie Schlupflöcher offen gelassen, hätten dies westliche Partner als Parteinahme für den russischen Aggressor interpretiert.

Unter Druck machte der Bundesrat eine Kehrtwende und übernahm die Sanktionen der EU gegen Russland vollständig. Der Schritt war nicht nur im Schweizer Interesse, sondern auch angebracht. Um einen Paradigmawechsel handelte es sich nicht. Bern schliesst sich immer wieder Brüsseler Sanktionen an. Dennoch ist der Entscheid von grundsätzlicher Tragweite: Die Schweiz beteiligt sich an Strafmassnahmen gegen eine Grossmacht, die in diesem Umfang und in dieser Art beispiellos sind.

Kaum jemand hat mit der weitgehend geschlossenen Reaktion des Westens gerechnet, der als notorisch unschlüssig gilt. Für Putin ist es eine bittere Ironie: Die russische Intervention eint bis anhin die westlichen Partner. Die EU, Grossbritannien und die USA rücken näher zusammen. Die Nato steht vor einer Renaissance.

Die EU beweist im Gegensatz zur Uno, dass sie handlungsfähig ist. Sie ergriff rasch Sanktionen, wenngleich sie bis anhin mit einem Importstopp für russisches Erdöl und Erdgas zögert. In der Flüchtlingskrise sind EU und ihre Mitgliedstaaten mit der Ukraine solidarisch. Wegen Moskaus Invasion werden bisherige Positionen über Nacht hinterfragt. So hat Dänemark ein Referendum angekündigt, um sich an der EU-Militärzusammenarbeit zu beteiligen.

Verlässliche Partnerin der EU

Diese Entwicklungen haben auch für die Schweiz Folgen. Noch vor kurzem konstatierten Botschafter aus Nachbarstaaten, die Eidgenossenschaft habe sich von Europa entfernt. Inzwischen dürften sie feststellen, dass die Schweiz wohl noch nie so nahe an der EU war. Diese beweist, dass sie eine verlässliche Partnerin ist, die sich zögerlich, aber noch rechtzeitig, den Sanktionen angeschlossen hat.

In der Flüchtlingskrise stimmt sich Bern ebenfalls eng mit der EU ab. Justizministerin Karin Keller-Sutter drückte in Brüssel geschickt die Solidarität der Schweiz aus. Sie sicherte Unterstützung zu, sollte es innerhalb der EU zu einer Verteilung der Kriegsflüchtlinge kommen. Zudem bot die FDP-Bundesrätin an, für den Schutz der Schengen-Aussengrenzen weitere Experten aufzubieten, um die europäische Grenzwache Frontex zu unterstützen.

Das Zusammenrücken eröffnet neue Chancen und zeigt, dass die Schweiz mit der EU weit mehr verbindet als trennt. Die russische Invasion relativiert vorderhand Differenzen um den Lohnschutz und die Unionsbürgerrichtlinie. Für die Schweiz wird es noch vordringlicher, ihr Verhältnis zur EU, ihrer wichtigsten Partnerin, zu klären – nicht nur wegen des Energiebereichs. Der Bundesrat hat einen ersten Schritt gemacht und sich auf eine Stossrichtung geeinigt. Brüssel sollte sich die Vorschläge unvoreingenommen ansehen. Wer in den alten Streitfragen auf Milde hofft, dürfte allerdings enttäuscht werden.

Die Europapolitik darf sich jedoch nicht allein auf die partielle Teilnahme am Binnenmarkt fokussieren. Gerade der Konflikt in der Ukraine verdeutlicht, dass die Schweiz Teil der europäischen Sicherheitsordnung ist. Sie beteiligt sich am Schengener Abkommen und damit auch am Schutz der EU-Aussengrenzen. Das Referendum gegen den Schweizer Beitrag an den Ausbau des EU-Grenzschutzes Frontex, das Migrationsaktivisten und die linken Parteien ergriffen haben, war stets falsch. In der gegenwärtigen Krise steht es völlig quer in der Landschaft. Eine Annahme am 15. Mai würde die Teilnahme an Schengen aufs Spiel setzen und die Beziehungen zur EU massiv belasten.

Einen Beitrag zur europäischen Sicherheit leistet die Schweiz auch, indem sie ihren Luftraum schützt. Die Beschaffung von 36 Kampfjets des Typs F-35 und eines neuen Luftabwehrsystems ist dringlicher denn je, wenn die Schweiz nicht als reine Trittbrettfahrerin der Nato wahrgenommen werden will. Sie muss im Verbund mit Partnerländern in der Lage sein, zum Schutz des Luftraums in der Alpenregion beizutragen. In diesem gibt es bereits eine offene Flanke: Österreich verfügt lediglich über 15 Abfangjäger des Typs Eurofighter, von denen zeitweise ein grosser Teil nicht einsatzbereit war.

Gefährliche Polarisierung

Doch es geht um weit mehr als Kampfjets und Grenzwächter. Der Krieg in der Ukraine ist für die gesamte Schweizer Aussenpolitik ein Weckruf. Er stellt alte Gewissheiten und Strategien infrage. Bern mass guten und eigenständigen Beziehungen zu allen Grossmächten bis anhin viel Gewicht zu. Dieser Tanz auf zahlreichen Hochzeiten wird schwieriger, wenn sich der Konflikt zwischen demokratischen, westlichen Staaten und autoritären Regimen verschärft. Der Spielraum für einen eigenen, opportunistischen Kurs wird enger.

Namentlich im Falle eines Konflikts zwischen den USA und China könnte die Schweiz in die ungemütliche Lage geraten, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Im Vergleich zu Russland, das wirtschaftlich in absoluten Zahlen vernachlässigbar ist, werden andere Kräfte wirken. China ist der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz. Der Nachrichtendienst des Bundes warnte in einer Lageanalyse schon 2020, dass mit der zunehmenden Polarisierung zwei Normenräume entstehen, technologisch und politisch.

Natürlich verfolgt China bis anhin eine nuanciertere Machtpolitik als Putins Russland, das fast nur die Sprache der rohen Gewalt kennt. Das Reich der Mitte ist wesentlich stärker in die Weltwirtschaft integriert. Dies macht eine Abkoppelung und eine geschlossene Reaktion des Westens schwierig.

Gleichzeitig hält Peking trotz dem brutalen russischen Krieg an seiner Partnerschaft mit Moskau fest. China versuchte zudem, die Herkunft des Coronavirus zu verschleiern, und ist immer autoritärer geworden. Es setzt auf eine totalitäre Massenüberwachung und ging in Hongkong rigoros gegen die Opposition vor. Die Schweiz ist gut beraten, die Warnzeichen nicht so lange zu übersehen, wie sie es im Falle Russlands getan hat.

Auch sonst muss Bern schwierige Fragen klären. Was bedeutet die Krise für die Guten Dienste und die Neutralität? Kritiker sehen das eine wie das andere gefährdet. Die SVP warnt einmal mehr vor dem Schweizer Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Doch man sollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Ob Bern im blockierten Sicherheitsrat viel bewirken kann, ist zwar fraglich.

Dennoch ist es richtig, dass die Schweiz als Uno-Mitglied Verantwortung übernimmt. Das Argument, die Kandidatur stelle die Guten Dienste und die Neutralität infrage, zeugt von einem kurzen Gedächtnis. Auf dem Höhepunkt der Krim-Krise 2014 hatte die Schweiz ein ungleich bedeutenderes Amt in einer multilateralen Organisation inne. Als Vorsitzende der OSZE brachte sie Moskau zusammen mit Berlin dazu, einer Beobachtermission in der Ukraine zuzustimmen.

Der Schweiz und ihren Guten Diensten hat es nicht geschadet. Wichtig ist, dass die Berner Diplomatie diskret, effizient und glaubwürdig agiert. Zudem muss das Aussendepartement realistisch einschätzen, wo es aktiv werden könnte und wo nicht. In der gegenwärtigen Phase des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine gibt es keinen Spielraum, zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln.

Gut, dass dies der Bundesrat eingesehen hat – und sich mit der Übernahme der Sanktionen im westlichen Lager eingereiht hat. Die Gewissheiten der Welt von gestern werden nicht mehr taugen, um die Herausforderungen von morgen anzugehen.

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9. März 2022

Im Moment liegt der aktuelle Fokus der Medien eindeutig auf dem Ukraine-Krieg. Es scheint so zu sein, dass die Welt heute nicht mehr die gleiche ist, wie vor diesem furchtbaren Krieg. Die grosse Friedenszeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dem nachfolgenden Kalten Krieg danach und der praktisch friedlichen Zeitspanne nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches ist vorbei. Pazifistische Bewegungen, wie die sogenannte GSoA in der Schweiz, die eine generelle Entwaffnung forderten, haben nach den brutalen kriegerischen Handlungen von 2014 (Krim-Krise) und dem Krieg im Osten der Ukraine im Donbas und nun dem Angriffskrieg der Russen auf den Staat Ukraine heute eigentlich nichts mehr zu sagen! Aggressive Grossmächte wie Russland, aber auch gefährliche Mächte wie China, lassen die bis jetzt friedlich schlummernden Demokratien v.a. in Westeuropa nicht mehr ruhig schlafen. Es wird wieder aufgerüstet. 

Die Boykotte von Gaz- und Öllieferungen Russlands haben aber auch hier eine ganz neue Situation geschaffen: die bis anhin extreme Abhängigkeit des Westens vom totalitären Russland bewirken ein Umdenken. Der folgende NZZ-Artikel geht auf diese Thematik ein: 

NZZ KOMMENTAR

Der Konflikt mit Russland läutet endgültig das Ende des Erdölzeitalters ein – und auch das Ende einer naiven Energiewende

Washington diskutiert über ein Importverbot für russisches Erdöl. Die Energiepreise haben daraufhin stark angezogen. Die westlichen Staaten sind in einem Dilemma.

Gerald Hosp

Die Kunden machen einen grossen Bogen um russisches Erdöl.

Sergei Karpuchin / Reuters

Die Erdölpreise sind am Montag ausser Rand und Band geraten. Der Grund: Der amerikanische Aussenminister Antony Blinken hatte zuvor gesagt, mit Verbündeten über ein Importembargo für russisches Erdöl zu sprechen. Im Zweifelsfall könnte Washington auch einen Alleingang unternehmen. Der Preis für die Erdölsorte Brent sprang auf einen Wert, der zum letzten Mal im Jahr 2008 erreicht worden war. Der europäische Grosshandelspreis für Erdgas trat einen unglaublichen Höhenflug an. Berlin sprach sich aber gegen weitere Sanktionen aus, was diese

Tragik angekündigter Sanktionen

Die tragische Ironie bei dieser Entwicklung ist: Solange nur darüber diskutiert wird, nehmen die Einnahmen für Moskau sogar tendenziell zu, weil die Preise steigen. Besser wäre es, eine Entscheidung zu fällen: Ein Embargo würde einerseits Moskau teilweise von den Erdöleinnahmen abschneiden. In welchem Ausmass, dürfte dann vor allem von der Reaktion aus Peking abhängen. Oder die westlichen Staaten verhängen andererseits keine neuen Sanktionen. Dann dürfte der Erdölpreis wieder sinken – und damit auch die russischen Erdöleinnahmen im Vergleich mit der Situation jetzt.

Am Markt geht man auch hier voran: Ohne formelles Embargo ist es in den vergangenen Tagen bereits zu «Eigensanktionen» in der Erdölwirtschaft gekommen. Russland wird sein Erdöl nicht los. Dies zeigt sich in einem grossen Preisunterschied zwischen dem Referenzwert Brent und der russischen Erdölsorte.

Die Bedeutung Russlands

Das Dilemma des Westens ist offenkundig: Um den Kreml tatsächlich dort zu treffen, wo es richtig weh tut, wären Einschränkungen oder Stopps der Rohstofflieferungen vonnöten. Dies kommt mit einem hohen Preis: In die Höhe schiessende Energiepreise verstärken den Inflationsdruck und könnten zu einer Abschwächung der weltweiten Wirtschaftsentwicklung führen.

Es wäre relativ einfacher, ein Erdölembargo statt einen Erdgaslieferstopp zu verhängen, weil es mehr Öllieferanten gibt und Erdöl leichter zu transportieren ist. Zudem gibt es für Erdöl einen Weltmarktpreis, während die Notierungen für Erdgas stärker regional bestimmt sind. Das heisst, dass auch China oder Indien unmittelbar von hohen Preisen betroffen sind. Dies könnte diese Länder dazu animieren, Druck auf Russland auszuüben.

Warum es zu den Preisturbulenzen kommt, zeigen einige Zahlen: Laut der Internationalen Energieagentur exportiert Russland, der weltweit drittgrösste Ölproduzent, täglich gut 5 Millionen Fass Rohöl und rund 2,85 Millionen Fass Erdölprodukte. Rund 60 Prozent der Exporte gehen nach Europa, 20 Prozent nach China. Derzeit ist das Angebot am Erdölmarkt knapp, zumal auch Iran und Venezuela unter Sanktionen stehen. Saudiarabien und die Opec haben noch nicht versucht, auf den Markt Einfluss zu nehmen. Kurzfristig müsste die Nachfrage zurückgehen.

NZZ KOMMENTAR vom 8.3.2022

Putin zerstört die Zukunft einer ganzen Region

In Russland offenbart sich die volle Wucht des Ressourcenfluchs. Ein Überfluss an Erdöl, Erdgas oder Nickel begünstigt Autokratien und hemmt den Aufbau einer effizienten Wirtschaft. Moskau macht dreissig Jahre nach dem Fall der Sowjetunion gerade die Hoffnungen auf ein besseres Leben zunichte. 

Gerald Hosp

«Ist das Wort Mutterland nur ein bedeutungsloses Wort für dich? Wir haben getan, was das Mutterland von uns verlangt hat.»
Aus dem Buch «Zinkjungen» von Swetlana Alexijewitsch 

Vor rund dreissig Jahren hatte Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, vor einem «Jugoslawien mit Atomwaffen» gewarnt. Doch das Auseinanderfallen des Sowjetreichs und die Trennung der drei slawischen «Bruderstaaten» Russland, Weissrussland und Ukraine verlief friedlich. Moskau erhielt die alleinige Herrschaft über das sowjetische Atomwaffenarsenal. Die Welt feierte den Untergang des russisch-sowjetischen Imperiums als friedvollen Akt, auch wenn es gewalttätige regionale Konflikte gab.

Schnelle Sanktionen

Diese Illusion des geräuschlosen Untergangs eines Reichs fand ihr Ende, als am 24. Februar Russland mit der Invasion der gesamten Ukraine begann. Der Westen wurde aus einem Traum gerissen, er reagierte aber überraschend geeint und schnell mit präzedenzlosen Sanktionen gegen die elftgrösste Volkswirtschaft der Welt: Mehrere russische Banken werden vom internationalen Finanzsystem ausgeschlossen, Wirtschaftsmagnaten, Bürokraten und Politiker direkt mit Sanktionen belegt und Exportverbote für Güter eingeführt, die die russische Rüstungsindustrie und die Flugzeugbranche benötigen.

Die grösste Überraschung waren die Sanktionen gegen die russische Zentralbank, die den Kern der «Festung Russland» ausmacht. Moskau bereitete sich schon einige Jahre mit hohen Währungsreserven und Goldkäufen auf Massnahmen vor. Mit dem Vorgehen der westlichen Staaten gegen die Zentralbank werden diese Reserven aber teilweise entwertet. Selbst der Verkauf von Gold, um an Devisen zu gelangen, erscheint unter diesen Umständen als extrem schwierig.

Die Zentralbank reagierte lehrbuchmässig mit einer Zinserhöhung von 9,5 auf 20 Prozent und Kapitalverkehrskontrollen. So müssen unter anderem Unternehmen 80 Prozent ihrer Devisenbestände an die Zentralbank verkaufen. Die russischen Technokraten versuchen, die Auswirkungen der Sanktionen so gering wie möglich zu halten. Über die Verstaatlichung ausländischer Vermögenswerte wird bereits diskutiert.

Die wichtigsten Instrumente im Arsenal des Westens sind der Dollar und der Zugang zum internationalen Finanzsystem. Die Sanktionen haben bereits kurzfristig zu enormen Wertverlusten in der russischen Wirtschaft geführt. Viele Ökonomen erwarten eine Rezession und hohe Inflation. Zudem haben westliche Firmen wie Ikea, Apple oder H&M Läden geschlossen und lassen die Geschäfte ruhen. Selbst einige Energiefirmen, die bereits rund dreissig Jahre lang im Land waren, kehren Russland nun den Rücken.

Gegenseitige Abhängigkeiten

Offenbar sind aber die bereits verhängten Sanktionen für den Kreml noch nicht abschreckend genug, so dass Russland die kriegerischen Handlungen einstellen würde. Ein Grund dafür ist, dass die Einschränkungen der russischen Wirtschaft zwar einschneidend sind, ein Zusammenbruch aber nicht so schnell bevorsteht. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Einnahmen aus dem Erdöl- und dem Erdgasgeschäft immer noch fliessen. So dürften schätzungsweise mehr als 700 Millionen Dollar täglich vom Westen in das mit Sanktionen belegte Russland strömen. Putins Regime lebt davon.

Deshalb werden Forderungen nach einem Erdöl- und Erdgasembargo laut. Dabei dürfte ein Stopp von Erdölimporten leichter umzusetzen sein. Washington erwägt bereits ein Importverbot für russisches Öl. Erstens sind für den Kreml die Einnahmen aus dem Ölgeschäft bedeutender als diejenigen aus den Erdgaslieferungen. Zweitens sind Ersatzlieferungen für Erdöl relativ gesehen einfacher zu bewerkstelligen als solche beim Erdgas, dessen Transport immer noch zu einem grossen Teil an Pipelines gebunden ist.

Ein Stopp der Energielieferungen ist der grösste Hebel des Westens und gleichzeitig auch seine grösste Achillesferse. Zum Teil ist dies sogar gewollt: Die gegenseitige Abhängigkeit sollte beide Seiten in Sicherheit wiegen. Das Modell orientierte sich daran, dass bereits zu Sowjetzeiten Erdgas und Erdöl in den Westen flossen. Dass diese Logik an ihre Grenzen gestossen ist, zeigt sich deutlich. Gegenseitiger Handel führt nicht für immer und ewig zu mehr Sicherheit.

Der Fluch der Ressourcen

Die russische Wirtschaft wäre eigentlich zu gross, zu vielfältig und auch zu modern, als dass sie sich auf Rohstoffe reduzieren lassen sollte. In Russland zeigt sich jedoch die volle Wucht des Ressourcenfluchs mit schwerwiegenden politischen Folgen: Ein Überfluss an Erdöl, Erdgas, Kohle oder Nickel begünstigt häufig Autokratien, Korruption, ineffizientes Regieren und Konflikte. Durch den Rohstoffreichtum sind Regierungen nicht oder in geringem Mass auf Wähler und Steuerzahler angewiesen. Der Aufbau effizienter Wirtschaftsstrukturen oder innovativer Unternehmen wird dadurch weniger dringlich. Dies ist zwar kein Naturgesetz, aber häufig traurige Wirklichkeit.

In den vergangenen zehn Jahren wuchs die russische Wirtschaft nur gering, die realen Einkommen der Bevölkerung gingen zurück, und das Investitionsklima verschlechterte sich. Dies ist in geringerem Masse auf die westlichen Sanktionen seit 2014 zurückzuführen als auf den Zerfall des Erdölpreises im selben Jahr. Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft flossen dennoch. Der Kreml nutzte diese dazu, aufzurüsten und sich gegen neue Sanktionen zu wappnen.

Ein Regime, das sich auf Petrodollars stützt, läuft wegen der Energiewende in ein Problem hinein: Für Russland besteht nicht mehr die Gewissheit, dass in Zukunft der Ölpreis steigen wird. Lange Zeit musste sich Russland bloss überlegen, ob es den Rohstoff lieber im Boden lassen oder lieber das Geld jetzt schon auf dem Konto haben will. Je erfolgreicher die Energiewende voranschreitet, desto mehr Erdöl oder Erdgas müssen die Produzenten fördern, um die Einnahmen stabil zu halten. Der Hebel verliert an Bedeutung.

Dies gilt auch für den politischen Nutzen von Energielieferungen: So stellt sich die Frage, wie lange das Fenster noch offen ist, in dem die Gasversorgung Europas als Waffe genutzt werden kann. Dies wird auch den Kreml umtreiben. Ressourcenfluch heisst in dieser Hinsicht, dass dadurch nicht nur interne Konflikte angeheizt werden können, sondern auch Angriffskriege finanziert werden.

Die Anekdote mit dem Lachs

Selbst ein Erdöl- und Erdgasembargo dürfte aber nicht zu einem schnellen Erfolg führen. Die Erfahrungen in Iran und Venezuela zeigen, dass vielmehr die bisherigen Profiteure des Regimes noch mehr Einfluss gewinnen könnten. Sanktionen engen die freie Wirtschaft ein, was sich die Geschäftsmänner aus dem engeren Kreis um Putin und die Sicherheitsstrukturen zunutze machen könnten. Der Kuchen wird zwar insgesamt kleiner, für manche werden aber die Kuchenstücke grösser. Der Übergang zu einer Kriegswirtschaft fördert noch stärker eine Günstlingswirtschaft.

Bezeichnend ist eine Anekdote, die der russische Ökonom Sergei Guriew erzählt. Als Russland nach 2014 Gegensanktionen gegen westliche Länder erliess und Lebensmittelimporte unterband, war auch Norwegen dabei, obwohl die Skandinavier Russland nicht mit Sanktionen belegt hatten. Ein mächtiger Geschäftsmann mit einer grossen Lachszucht erkannte aber die Gelegenheit, die Lachsimporte aus Norwegen loszuwerden.

Die Aussichten sehen nicht rosig aus: Russland könnte sich unter dem gegenwärtigen Regime in die Autarkie stürzen. Die politische Repression nimmt dabei zu. Das Land entkoppelt sich von den internationalen Produktionsprozessen und übt noch mehr Druck auf ehemalige Sowjetrepubliken aus, in der russischen Machtsphäre zu verharren. Abgesehen von der Tragödie in der Ukraine wird so das Erbe des russisch-sowjetischen Imperiums auf dieser Region noch länger lasten und eine für alle vorteilhafte Integration in den Westen verhindern.

Eine andere Variante – oder in Kombination damit – ist eine verstärkte Kooperation Russlands mit China. Peking spielt eine Schlüsselrolle dabei, wie die westlichen Sanktionen wirken werden. Dies trifft auch bei einem möglichen Erdölembargo zu. Auch in diesem Szenario fände eine Regionalisierung und Entkoppelung statt. Aufgrund der Unterschiede in der wirtschaftlichen Potenz dürfte Russland für China vor allem ein Rohstofflieferant sein, das unschöne Wort eines Vasallenstaates fällt immer wieder.

«Putins Welt»

«Wir leben nun alle in Putins Welt», schreibt der Politologe Iwan Krastew düster. Selbst Putin dürfte sich in dieser Welt nicht wohlfühlen. Mit der Invasion zerstörte er die Hoffnung der Ukraine, aber auch Russlands und weiter Teile der postsowjetischen Region auf eine Zukunft, in der wirtschaftliche Prosperität wichtiger ist als imperialistische Gelüste.

Der Westen steht vor dem Dilemma, dass die harschen Wirtschaftssanktionen zwar als erste Antwort eine Notwendigkeit waren, dass die Langzeitfolgen aber eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fehlentwicklung zementieren können. Die Wagenburgmentalität wird verstärkt. Ein Kesseltreiben gegen alles Russische hilft dabei nichts. Reformwilligen in Russland sollte eine Perspektive aufgezeigt werden, der Kontakt darf nicht abbrechen. Dazu zählen auch Wirtschaftsbeziehungen.

Nach dem Fall der Sowjetunion waren die Hoffnungen auf ein besseres Leben gross. Damit dieses auch nachhaltig gelingt, muss sich Russland von innen reformieren und demokratisieren. Dass dies ein schwieriger und nicht immer geradliniger, aber ein möglicher Weg ist, zeigt gerade die Ukraine der vergangenen Jahre.

NZZ KOMMENTAR vom 8.3.2022

Damit der Krieg in der Ukraine nicht zum europäischen Flächenbrand wird, braucht es klar definierte «rote Linien»

Militärhilfe an die Ukraine im Kampf gegen Russland ist richtig. Westliche Regierungen müssen sich jedoch einig darüber werden, welche Eskalationsschritte sie ganz bewusst vermeiden sollten.

Andreas Rüesch

Ein ukrainischer Soldat testet den Einsatz einer Panzerabwehrrakete. Mit der Lieferung von Tausenden solcher Waffen stärken westliche Länder den ukrainischen Widerstand, machen sich aber auch angreifbar.

Ukrainian Armed Forces / Reuters

Kriege besitzen, abgesehen vom unermesslichen Leid für die direkt Betroffenen, noch eine weitere unheilvolle Eigenheit: Sie haben die Tendenz, sich auszudehnen. Das gilt einerseits in zeitlicher Hinsicht. Die Kaiser von Russland und Deutschland stürzten sich im August 1914 in ein Kriegsabenteuer, von dem sie glaubten, es werde an Weihnachten bereits vorbei sein. Als der Erste Weltkrieg nach vier langen Jahren endete, gab es beide Kaiser nicht mehr.

Aber auch in räumlicher Hinsicht weiten sich Kriege oft aus – in einer Weise, wie sich das die Akteure anfangs nicht vorstellen konnten. Die USA intervenierten in den sechziger Jahren in Indochina in der Absicht, die proamerikanische Regierung Südvietnams gegen die Vietcong-Guerilla zu stützen. Bald sahen sie sich jedoch gezwungen, auch die Nachbarländer Laos und Kambodscha zu bombardieren, um feindliche Nachschubwege zu treffen.

Kühle Strategie statt kopfloses Draufgängertum

Solche historischen Erfahrungen gilt es mit Blick auf die Ukraine zu beherzigen. Zwölf Tage nach Beginn der russischen Invasion lässt sich nicht mit Gewissheit prognostizieren, dass dieser Krieg auf das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Karpaten beschränkt bleiben wird. Um das Risiko einer Ausweitung zu minimieren, braucht es kühle Köpfe auf allen Seiten und gewisse Vorkehrungen.

So ist es zu begrüssen, dass die USA schon vor Monaten Transparenz über ihre Absichten geschaffen haben. Präsident Biden machte klar, dass Amerika die Ukrainer in ihrem Widerstand unterstützen, aber ihnen nicht mit Truppen beistehen wird. Das ist kein Ausdruck von Feigheit, sondern der simplen Erkenntnis, dass der Einsatz amerikanischer Soldaten die Welt einer Konfrontation der beiden grössten Atommächte gefährlich nahe brächte. Das Ziehen solcher «roten Linien» hebt sich ab vom kopflosen Schwadronieren jener, die nun – wie beispielsweise Deutschlands einflussreichster Verleger – einen Kriegseintritt der Nato vorschlagen.

Aus demselben Grund kommt auch die Schaffung einer Flugverbotszone über der Ukraine nicht infrage. Man kann Sympathie haben für diese Forderung der Regierung Selenski, denn ohne russische Flugzeuge am Himmel gäbe es auch keine Bombenabwürfe mehr über ukrainischen Städten. Aber die einzige Organisation, die ein solches Verbot durchsetzen könnte, wäre die Nato. Das westliche Bündnis geriete damit automatisch in einen offenen Krieg mit Russland.

Der Teufel liegt im Detail

All dies ist im Westen weitgehend unbestritten. Doch die Sachlage ist heikler, als es diese relativ einfachen Fälle erscheinen lassen. Ab welchem Punkt sind die USA und ihre Verbündeten nicht mehr blosse Unterstützer der Ukraine, sondern beteiligte kriegführende Nationen? Eine klare Trennlinie lässt sich nicht ziehen. Entsprechend bleibt im Nebel, ab wann Russland auch die Nato-Staaten als Kriegsparteien betrachten wird. 

Richtigerweise machte Biden seinem Gegenspieler Putin im Voraus deutlich, wie weit die USA gehen wollen. Neben der Lieferung von Waffen und nachrichtendienstlicher Hilfe verkündete Washington die Absicht, im Falle einer Okkupation eine ukrainische Untergrundbewegung zu unterstützen. Solche Signale helfen, gefährliche Missverständnisse zu verhindern. Der Kreml wusste frühzeitig, dass der Westen nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit Militärhilfe an die Ukrainer reagieren würde.

Diese Hilfe liegt im sicherheitspolitischen Interesse Europas. Eine Unterwerfung der Ukraine unter russische Herrschaft gilt es zu verhindern, weil damit nicht nur eine Niederlage dieses einen Landes verbunden wäre, sondern weit mehr – eine katastrophale Schwächung der liberalen Weltordnung und das Risiko, dass sich solche kruden Eroberungszüge häufen werden.

Aber die Zurückdrängung Russlands sollte mit Mass verfolgt werden. Manche Eskalationsrisiken kann der Westen sehr einfach vermeiden. Beispielsweise stellt es eine sinnlose Provokation dar, wenn nun einige europäische Staaten ihren Bürgern offiziell erlauben, als Freiwillige in den Krieg gegen Russland zu ziehen. Wenig überraschend fasst Moskau dies als Verletzung einer «roten Linie» auf.

Ebenso empfiehlt es sich, die westlichen Ziele sorgfältig zu definieren. Als gewöhnlicher Bürger mag man sich wünschen, dass Putin gestürzt wird und vor dem Internationalen Strafgerichtshof landet. Aber das sollte nicht zum offiziellen Ziel der westlichen Sanktionspolitik deklariert werden. Deren Aufgabe ist es, Russland zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, und nicht, den Kremlherrn in eine Ecke zu drängen, in der er nichts mehr zu verlieren hat.

Unterstützung von ausserhalb der Ukraine

Solche Abwägungen sind in vielen Bereichen nötig. Beispielsweise unterstützen Spezialisten des Pentagons die Ukraine darin, russische Hackerangriffe zu vereiteln. Aber richtigerweise tut dies das Cyberkommando der USA nicht mehr in Kiew selber, sondern von Stützpunkten ausserhalb der Ukraine aus. Wenn die Nato-Staaten nicht als kriegführende Nationen wahrgenommen werden wollen, müssen sie auch weiterhin auf die Entsendung von Militärberatern und Waffeninstruktoren verzichten.

Heikel ist der von der Regierung in Warschau erwogene Plan, polnische Kampfflugzeuge der Ukraine zu überlassen. Formal ist das eine Waffenlieferung wie andere auch. Doch durchgeführt würde ein solcher Transfer durch ukrainische Kampfpiloten, was aus russischer Sicht wie ein Luftwaffeneinsatz von Nato-Territorium aus wirken könnte. Zumindest müsste Polen zuvor klarstellen, dass es nicht die Absicht hat, der Ukraine Stützpunkte für Angriffe auf russische Ziele zur Verfügung zu stellen.

Das Tempo und die Entschlossenheit, mit der westliche Staaten den ukrainischen Widerstand stärken, sind beeindruckend. Allein schon die verblüffende Zahl von über 20 000 Panzerabwehrraketen, die in diesem Jahr die Ukraine erreicht haben sollen, geben Hoffnung auf ein Debakel Putins. Es wäre eine Wiederholung der Niederlage, die einst die Sowjetunion in Afghanistan erlitten hatte und die zum Kollaps dieser Grossmacht führte. Moskau nahm damals die amerikanische Militärhilfe für die afghanischen Widerstandskämpfer hin, ohne den Krieg auf die Nachschublinien im Ausland auszuweiten. Der Westen kann nun seinerseits mit der Einhaltung klug definierter «roter Linien» dazu betragen, eine solche Eskalation zu vermeiden.

7. März 2022 

Was gibt es Aktuelleres im Moment, als der blutige Krieg Russlands in der Ukraine! Ich möchte hier einige sehr informative Artikel der heutigen NZZ aufschalten, die einige wichtige Punkte rund um diesen furchtbaren Krieg beleuchten. 

Schon seit einiger Zeit tobt der Krieg nun in der Ukraine. Bis jetzt sind mehr als 1,5 Mio Menschen auf der Flucht vor  der russischen Armee. Ganz offensichtlich wurden die russischen Kriegsziele, so, wie sie ursprünglich von Putin eingeplant waren, nicht erreicht. Die ukrainischen Truppen, aber nicht weniger die Zivilisten der Ukraine, leisten nach wie vor  erbitterten und heldenhaften Widerstand! 

Dieser Krieg, dieser Angriff auf ein friedliches Land, der von Russland unter dem Präsidenten Putin durchgeführt wird, wird klar und deutlich von den meisten Ländern dieser Erde nicht gutgeheissen. Der Kriegstreiber Russland wird von überwältigend vielen Ländern boykottiert und isoliert. Der russische Präsident hält nichtsdestotrotz weiter an seinem Ziel fest, die ukrainische Regierung zu stürzen und aus der Ukraine einen Vasallenstaat Russlands zu machen. Dazu benutzt er seine Truppen und  auf der Ebene der psychologischen Kriegsführung die primitivsten Argumente. Es wurde zudem rund um diesen bis jetzt schon blutigen Krieg erwartet, dass von russischer Seite auch gleichzeitig mit der einfallenden Armee  ein sogenannter "Cyber War" stattfinden wurde. Der ist bis jetzt ausgeblieben! Warum, was sind die Gründe, dass sich hier Russland so zurückhaltend zeigt? Der folgende NZZ-Artikel geht auf diese Thematik ein: 

NZZ vom 7. März 2022 

KOMMENTAR

Der grosse Cyberschlag Russlands ist ausgeblieben. Doch die Gefahr für eine Eskalation wächst

Cyberangriffe eignen sich nicht für die heisse Phase eines Kriegs. Doch im Konflikt mit dem Westen setzt Russland möglicherweise schon bald auf Cybermilizen. Das könnte ungeahnte Konsequenzen haben – bis hin zur Ausweitung des Kriegs.

Lukas Mäder

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Mit einem Cyberangriff den Strom ausschalten: Was viele erwartet hatten, ist zu Beginn der russischen Invasion ausgeblieben. Blick in den Kontrollraum eines Kraftwerks in Kiew.

Vincent Mundy / Bloomberg

Die Erkenntnis aus der russischen Invasion der Ukraine ist banal: Um Städte zu erobern oder einen Präsidenten abzusetzen, reichen Cyberangriffe nicht aus. Um sich gegen einen militärischen Aggressor zu verteidigen, ebenso wenig. Der grosse Cyberkrieg, wie ihn viele erwartet hatten, findet in der Ukraine nicht statt.  

In den letzten Jahren hatte sich weitherum die Ansicht durchgesetzt, die Konflikte des 21. Jahrhunderts würden im Internet geführt. Cybertruppen statt Artillerie oder Kampfjets war die Losung, nicht nur im linken politischen Spektrum. Für die westliche Bevölkerung waren in den letzten zwanzig Jahren blutige Kriege weit entfernt. Gleichzeitig begannen sich Cyberangriffe zu häufen, die Industrieanlagen stilllegten oder Datendiebstahl zur Folge hatten. Das war die reale Bedrohung. 

Und Russland war stets vorne mit dabei, nicht nur als sicherer Hafen für Cyberkriminelle. Das Land hatte in der Ukraine seit 2014 einen Vorgeschmack gegeben, wie der Cyberkrieg der Zukunft aussehen könnte: Beeinflussung der ukrainischen Wahlen, Stromausfälle – und mit der Schadsoftware NotPetya ein Angriff auf die Wirtschaft, der aus dem Ruder lief und weltweit Schäden in Milliardenhöhe verursachte. 

Die Ukraine war nach der Annexion der Krim zu einem Testlabor für den Cyberkrieg geworden. Russland hatte das Bild des zerstörerischen Konflikts im Cyberraum geprägt. Nun könnte sich diese Idee als Mythos herausstellen. 

Die Wirkung von Cyberangriffen verpufft rasch 

Grundsätzlich gibt es ein grosses Missverständnis: Entgegen der landläufigen Ansicht sind Cyberangriffe für den heissen Krieg schlecht geeignet. Das Eindringen in gegnerische IT-Systeme ist kompliziert und benötigt Zeit, Personal und Know-how. Weil sich kaum eindeutig nachweisen lässt, wer hinter einem Angriff steckt, sind Cyberaktionen das perfekte Instrument für verdeckte Operationen, im Graubereich zwischen Krieg und Frieden. 

Um eine kritische Infrastruktur zu stören, eignen sich Cyberangriffe nur beschränkt. Eine Operation kann nur einmal erfolgreich sein. Sobald die Auswirkungen spürbar werden, fliegt der Angriff auf. Zudem dauert die Störung oft nur wenige Stunden, da die Infrastruktur meist nicht dauerhaft physisch beschädigt wird wie bei einem Raketenangriff. In der Westukraine etwa fiel der Strom Ende 2015 trotz monatelanger Vorbereitung der Angreifer nur lokal für maximal sechs Stunden aus.  

Elektronische Aktionen haben in militärischen Kampfhandlungen dennoch einen festen Platz. Und sie finden derzeit bestimmt auch in der Ukraine statt. Meist geht es bei der sogenannten «Electronic Warfare» um elektromagnetische Signale: das gegnerische Radarsystem stören, Funksignale lokalisieren oder GPS-Signale manipulieren. Das Hacken des Feindes – im Sinne eines Eindringens in deren IT-Netzwerke – gilt aber als zu langwierig, um damit auf aktuelle Entwicklungen auf dem Schlachtfeld zu reagieren. 

Trotzdem war erwartet worden, dass Russland Sabotageaktionen vorbereitet und kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine mittels Cyberangriffen zum Beispiel den Strom oder das Internet ausschaltet. Das ist nicht geschehen. Warum? Noch liegen zu wenige Fakten vor, um diese Frage klar zu beantworten. Es gibt aber Indizien. 

Russland hatte möglicherweise Probleme beim Angriff 

Wenige Stunden vor der Invasion gab es koordinierte Cyberangriffe auf ukrainische Behörden und Unternehmen. Eine sogenannte Wiper-Schadsoftware löschte oder veränderte Dateien auf den betroffenen Rechnern, so dass diese nicht mehr funktionierten. Die Spur dieser Operation reicht Monate zurück. Auch über einen Angriff auf das Satellitensystem der Betreiberin Viasat wird spekuliert. 

Russland hat also Cyberoperationen mit langer Vorlaufzeit gestartet. Dabei sind die Angreifer aber offenbar auf Hindernisse gestossen. Denn sie haben gemäss technischen Analysen versucht, die Abwehrmassnahmen zu verstehen, um sie zu umgehen. Möglicherweise wurden sie von den Sicherheitsmassnahmen der ukrainischen IT-Systeme überrascht. 

Das könnte bedeuten, dass Russlands Fähigkeit zu einer breiten Cyberoffensive überschätzt wurde. Oder aber die Abwehr auf ukrainischer Seite wurde unterschätzt. Denn die Ukraine hat in den letzten Jahren Lehren gezogen aus den zahlreichen Angriffen und sowohl seine IT-Sicherheit als auch die Notfallplanung verbessert.  

Ukraine trumpft im Informationskrieg auf 

Nun ist der Krieg in eine neue Phase getreten. Mit der Verlangsamung des russischen Vormarsches haben die Cyberoperationen eine grössere Bedeutung bekommen. Die ukrainische Cybersicherheitsbehörde spricht von konstanten Aktionen gegen die Netzwerke der Behörden, welche grosse Kräfte für die Abwehr binden. Der Druck auf den Gegner wird auch mit Cyberattacken hoch gehalten. 

Öffentlich sichtbar sind die Aktivitäten im Informationskrieg. Die Ukraine setzt dabei auch eine raffinierte Mischung aus politischen Mitteln, Cyberoperationen und Propaganda. Sie kann damit in der westlichen Öffentlichkeit punkten. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Kommunikationsstrategie nicht erst nach dem russischen Überfall kurzfristig entworfen worden war. 

Teil des Kriegs im Internet sind auch neue Cybermilizen: Hacker unter Anleitung der ukrainischen Behörden oder Gruppierungen von Freiwilligen, die gegen Russland agieren. Ihre Aktionen sind meist darauf angelegt, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen. Das geschieht durch das Verunstalten von Internetauftritten, das vorübergehende Lahmlegen von Websites durch Überlastung oder das Publizieren von Informationen, die aus kleineren Datenlecks stammen. 

Zum Nebel des Krieges, der aufgezogen ist, gehören auch gefährlichere Gruppierungen. Russland und die Ukraine sind zwei Schwergewichte der globalen Cyberkriminalität. In beiden Ländern sind Mitglieder berüchtigter Ransomware-Gruppen zu Hause. Wenn sich diese Gruppen als Cybermilizen in den Konflikt einmischen, könnte das zu schwerwiegenden Cyberangriffen auf Firmen oder kritische Infrastrukturen führen. Auch im Westen. 

Kurz nach Beginn der Invasion hat eine berüchtigte Gruppe von Cybererpressern, die derzeit sehr aktive Conti-Gruppe, dem Westen gedroht. Es wird zudem vermutet, dass der russische Inlandgeheimdienst FSB im Januar Cyberkriminelle mit Verhaftungen enger an die Leine genommen hat – um sie jetzt für den Konflikt einzuspannen. Auf der Gegenseite hat die Ukraine ihre eigene Hacker-Community aufgerufen, in den Kampf gegen Russland zu ziehen. 

Russland könnte sich für die Sanktionen rächen 

Damit hat der Konflikt alle Zutaten für eine Eskalation im Cyberraum. Die westlichen Länder haben mit der Verhängung von Sanktionen Massnahmen ergriffen, für die sich Russland rächen könnte. Als Mittel dazu würden sich Cyberangriffe geradezu anbieten. Denn der Konflikt mit dem Westen findet derzeit noch unterhalb der Kriegsschwelle statt. 

Denkbar sind etwa Angriffe auf Behörden oder Unternehmen von Ländern wie die USA, Grossbritannien oder Deutschland. Diese haben nicht nur Sanktionen verhängt, sondern liefern auch Waffen in die Ukraine. Auch Einrichtungen in der Schweiz können ins Visier geraten: zum Beispiel Banken, die russische Gelder eingefroren haben, oder jenes der weltweit drei Datenzentren des Finanzdienstleisters Swift, das im Thurgau steht

Dieses Szenario ist beunruhigend. Ein direkter Cyberangriff Russlands auf ein westliches Land könnte die Situation rasch eskalieren lassen. Russland setzt deshalb für seine Rache möglicherweise auf kriminelle Gruppierungen. Der Kreml kann so eine Beteiligung besser abstreiten. 

Wenn sich halb- oder nichtstaatliche Gruppierungen in den Konflikt einmischen, steigt aber das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation. Denn diese Cybermilizen sind schlechter zu kontrollieren und führen ihre Angriffe womöglich weniger präzise durch. Es kann zu Sololäufen oder Kollateralschäden kommen. 

Im schlimmsten Fall könnte sogenannte kritische Infrastruktur wie die Energie- oder Wasserversorgung – beabsichtigt oder nicht – Opfer einer Cyberattacke werden. Das betroffene Land könnte den Angriff als faktische Kriegserklärung ansehen. Und die Nato hat klargemacht, dass eine solche Attacke unter Umständen gar den Bündnisfall auslösen würde. 

Cyberabwehr muss erste Priorität haben 

Für eine abschliessende Bilanz der Cyberoperationen im Rahmen des Ukraine-Krieges ist es noch zu früh. Doch ein Trend ist unübersehbar: Schwere Cyberangriffe spielen eine weit weniger wichtige Rolle als im Vorfeld angenommen. Dafür ist die Intensität des Informationskriegs, der schon seit Jahren im Gange war, massiv angestiegen. 

Insgesamt könnte das bedeuten, dass die Möglichkeiten von offensiven Cyberaktionen im militärischen Bereich tendenziell überschätzt werden. Dass ein Staat eigene Cyberoperationen durchführen kann, ist zwar entscheidend für die Spionage und den Informationskrieg. Doch die Vorstellung von Cyberschlägen gegen kritische Infrastrukturen bröckelt. 

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