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Psychologie im Alltag....


Unser Verhalten im Kontext zu unseren lieben Mitmenschen können wir im weitesten Sinn als "Psychologie im Alltag..." umschreiben. 


Hier auf dieser Seite möchte ich ganz spontan auf einige Themen eingehen, die mich persönlich ansprechen, die aber auch ganz allgemein für dich, als Leser dieser Hompegage interessieren könnte. Lass dich überraschen!


Gibt es in unserem Leben sogenannte "Zufälle"? Sind "Zufälle" sogenannte Koinzidenzen oder werden sie zum Beispiel von einer höheren Instanz gelenkt. Der folgende Artikel der NZZ vom 30. September 2023 geht diesen Fragen nach! 


Gesellschaft - NZZ Feuilletton 30.9.2023



Kann das noch Zufall sein? Warum wir an jemand bestimmtes denken und die Person danach anruft


Zufälligen Ereignissen haftet etwas Schicksalhaftes an. Im Alltag messen wir ihnen oft viel Bedeutung bei. Eine Geschichte über Prinzipien, die den Aberglauben fördern, aber auch unser Überleben sichern.

Peter Ackermann (Text), Simon Tanner (Bildredaktion)30.09.2023, 05.30 Uhr


Man denkt an eine bestimmte Person, und im nächsten Moment klingelt das Telefon, und genau diese Person ruft an. Oder man rennt los, um einen anfahrenden Bus zu erwischen, es gelingt einem gerade noch, und man entdeckt unter den Fahrgästen den Menschen, in den man sich erst kürzlich verliebt hat. «Wenn das kein Zufall ist», raunt man.


Zufall oder nicht? Wir erleben in unserem Alltag laufend verblüffende oder seltsame Situationen, bei denen wir uns fragen, ob die Ereignisse eine unsichtbare Verbindung enthalten. Oder ob es sich um Koinzidenzen handelt, also um zwei Ereignisse, die zufälligerweise zeitlich oder räumlich zusammenfallen.

Wie etwa beim Wurf einer Münze während eines Gewitters. Man wirft die Münze, der Donner rollt, und das Geldstück fällt auf Kopf oder Zahl, zufällig und verlässlich eindeutig. Kaum jemandem käme es in den Sinn, einen Zusammenhang herzuleiten zwischen dem Donnergrollen und dem Resultat Kopf. Was vorliegt, ist eindeutig eine Koinzidenz.


Doch dann geschehen Dinge, die uns so unwahrscheinlich oder so symbolisch aufgeladen erscheinen, dass sie uns vermuten lassen, es könnte etwas geben, das sich unserem Verständnis entzieht.

So fiel etlichen Menschen auf, dass am 11.Februar 2013, nachdem Papst Benedikt seinen Rücktritt angekündigt hatte, ein greller Blitz über den dunklen Himmel Roms zuckte und in den Petersdom einschlug. Nutzer von sozialen Netzwerken schrieben von einer «Reaktion des Himmels» und warfen die Frage auf, ob da womöglich «die Hand Gottes im Spiel gewesen» sei.


Auch bei anderen Ereignissen fällt es schwer, an einen blinden Zufall zu glauben.

Etwa beim wahren, ebenso wechselhaften wie traurigen Schicksal von Walter Summerford. Der Brite wurde gleich mehrmals vom Blitz getroffen. Das erste Mal 1918 während des Ersten Weltkriegs an der belgischen Front. Ein Blitzschlag schleuderte den Offizier vom Pferd und führte zur Lähmung seiner Beine. Doch Summerford hatte einen starken Willen und Glück. Er rappelte sich wortwörtlich auf, lernte wieder gehen und wanderte nach Kanada aus, um voller Zuversicht ein friedlicheres Leben zu beginnen. Nur währte dieses nicht lange.


Ein zweiter Blitz streckte ihn nieder. Erneut erholte sich Summerford, und erneut führte er sein Leben fort. Bis er 1930 in seinem Wohnviertel spazieren ging und von einem plötzlichen Unwetter überrascht und ein drittes Mal von einem Blitz getroffen wurde. Diesmal blieb Summerford vollständig gelähmt. Zwei Jahre später starb er an den Folgen des Einschlags.


Seine Familie errichtete ihm im Mountain View Cemetery von Vancouver ein einfaches Grab. Vier Jahre nach seinem Tod, 1936, braute sich ein Gewitter über dem Friedhof zusammen. Der Himmel sandte einen Blitz, traf Walter Summerfords Grabstein und spaltete diesen entzwei.

Viermal innert achtzehn Jahren vom Zufall erfasst zu werden, so wie es Walter Summerford widerfuhr, erscheint äusserst unwahrscheinlich. Allein in der gebirgigen und gewitterreichen Schweiz werden gemäss Suva pro Jahr durchschnittlich sechs Menschen von einem Blitz getroffen. Das Risiko, dass es jemanden nur schon ein einziges Mal trifft, ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 1500000 extrem gering; der Hauptgewinn beim Schweizer Zahlenlotto ist wahrscheinlicher.


Kein Wunder, vermuten bei Walter Summerfords Lebensgeschichte einige, dass etwas Unbegreifliches in die vertrauten Gesetzmässigkeiten der Natur eingriff: Dieser Zufall muss doch eine Bedeutung haben!

Nun ist der Zufall als ein Ereignis definiert, dessen Ursache nicht erkennbar, rein zufällig ist. Nur reicht bei solch unerwarteten, unberechenbaren, schier unmöglichen Ereignissen der Zufall als alleinige Erklärung nicht aus.

Das führt dazu, dass manche Menschen darüber philosophieren, ob das Schicksal blind oder der Gang des Lebens vorbestimmt sei, ob es eine Fügung und eine lenkende Kraft ausserhalb unserer Wahrnehmung gebe. Es gibt aber auch Menschen, die Ordnungssysteme im Chaos des Zufalls vermuten, den Zufall berechnen und untersuchen, warum gewisse Tiere und Menschen irrationale Verhaltensweisen entwickeln, zum Aberglauben neigen oder Gefahren im Alltag falsch einschätzen.


Nichts geschieht ohne Ursache


Unerklärbares bildete in der Geschichte der Menschheit von jeher den Nährboden für Aberglauben, übersinnliche Erklärungen, göttliche Wesen und die Entstehung von Religionen. Im Altertum schufen die Griechen deshalb die Glücks- und Schicksalsgöttin Tyche, die Römer später Fortuna und die Germanen das abstrakte Heil. Erst in der Renaissance wurde der Zufall von seiner metaphysischen Dimension befreit, indem Immanuel Kant (1724–1804) in seiner «Kritik der reinen Vernunft» das klassische Kausalitätsprinzip formulierte: «Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung.» Oder, wie es Parmenides vor rund 2500 Jahren ausgedrückt haben soll: «Nihil fit sine causa» – nichts geschieht ohne Ursache.

So einleuchtend der Grundsatz klingt, so schwierig erscheint es manchmal, ihn anzuerkennen. «Da Ursachen selbst wieder Ereignisse sind, über deren Verursachung spekuliert werden kann, treten Ursachenketten auf, deren Anfänge doch wieder im Zufälligen verschwimmen», schrieb der deutsche Mathematiker Harald Scheid im Buch «Zufall». Dieses Verschwimmen führt zu Lücken des Erklärbaren. Der Zufall wird zum Platzhalter von Unerklärbarem.


Nun haben immer wieder Menschen den Zufall als verhüllende Umschreibung des gerade herrschenden Unwissens betrachtet. Nicht nur zu Unrecht (wenn man etwa von Gottesurteilen und anderen irren Theorien, Lehren und Praxen der christlichen Kirche im Mittelalter absieht). Denn indem sie die weissen Lücken in der Landkarte des Wissens füllten, haben Forschende durch das Entdecken von Mechanismen hinter scheinbar Zufälligem stets auch den Fortschritt vorangetrieben.

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C.G. Jungs Idee der akausalen Zusammenhänge und der Synchronizität

Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) sammelte leidenschaftlich Berichte über Koinzidenzen, in denen der Zufall seiner Ansicht nach nur ein Platzhalter war. So auch folgende Begebenheiten, die dem französischen Lyriker Émile Deschamps widerfuhren.


Zu Beginn des 19.Jahrhunderts soll Deschamps als Jugendlicher dank Monsieur de Fontgibu, den er flüchtig kannte, in den Genuss eines Pflaumenpuddings gekommen sein. Später konnte Deschamps ein solches Dessert nirgendwo mehr ausfindig machen. Bis er zufälligerweise in einem Restaurant auf einen Pflaumenpudding stiess. Dieser sei der letzte, wurde ihm beschieden, und sei schon bestellt – von einem Monsieur de Fontgibu. Viele Jahre später wurde Deschamps zu einem Essen mit Pflaumenpudding eingeladen, worauf er bemerkte, jetzt fehle nur noch Fontgibu. Daraufhin öffnete sich die Tür, und ein verwirrt dreinblickender Greis trat ein. Es war Monsieur de Fontgibu, der sich in der Haustüre geirrt hatte und versehentlich ins Esszimmer stolperte.

C.G. Jung war fasziniert von der Verkettung solch unwahrscheinlich erscheinender Zufälle. Und er war der Ansicht, dass solche zufälligen Zusammentreffen öfter vorkamen, als sie durch blossen Zufall und mit dem bekannten Schema von Ursache und Wirkung erklärbar waren. Das veranlasste ihn, die Wissenslücke zu schliessen mit einer Theorie der akausalen Zusammenhänge, die er Synchronizität nannte. In ihr treffen zwei Ereignisse ein, die keine direkte gemeinsame Ursache haben, aber nicht als zufällig erscheinen. Verbunden seien die miteinander verknüpften Ereignisse etwa über das kollektive Unterbewusstsein.


Der Zufall wird unterschätzt


Doch C.G. Jung war Psychoanalytiker, kein Statistiker. Er erlag dem Irrtum, den er mit vielen Verliebten, Trauernden und Narren teilt, die allzu leicht an einen bedeutsamen Zufall glauben.

«C.G. Jung unterschätzte den Zufall», sagt Walter Krämer. Bis zu seiner Emeritierung verdiente der Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik sein Geld an der Technischen Universität Dortmund. «Und an Partys», sagt Walter Krämer, an denen er den Gästen das Kleingeld aus der Tasche zog und immer noch zieht.

An festlichen Anlässen zählt der Professor jeweils, wie viele Personen anwesend sind. Sind es mehr als 23, schlägt er ihnen eine Wette vor. Walter Krämer behauptet dann, dass mindestens zwei Gäste im Raum am gleichen Tag Geburtstag hätten, also am selben Tag und im selben Monat, ohne Berücksichtigung des Jahrgangs. Zwei Personen bei 365 möglichen Tagen (ohne die Schaltjahre). – Kaum zu glauben, denken deshalb häufig ein paar besonders schlaue Köpfe und schlagen ein. Bedauerlicherweise sind sie im Gegensatz zum Statistiker nicht mit dem mathematischen Problem des Geburtstagsparadoxons vertraut und haben den Zufall deshalb falsch eingeschätzt.


Die Rechnungen hinter dem Geburtstagsparadoxon würden einen Exkurs in die weitläufige Welt der Wahrscheinlichkeitsrechnungen bedingen. Zur Vereinfachung sei kurz verraten, warum man nicht gegen Walter Krämer wetten sollte.


An der Party gibt es weit mehr mögliche Geburtstagspaare als Einzelpersonen. Wären vier Gäste anwesend, könnte man sechs unterschiedliche mögliche Paare bilden. Bei 20 Gästen sind es bereits 190 Paare. Und bei 23 deren 253. Damit Walter Krämer die Wette gewinnt, muss nur eines dieser 253 Paarean einem beliebigengleichen Taggeboren worden sein. Also nicht an einem bestimmten, wie etwa am Silvester, sondern an einem von 365 Tagen. Die vielen Paare und die vielen Tage lassen die Wahrscheinlichkeit bei so wenigen Gästen in eine paradox erscheinende Höhe schnellen. Bei vier Gästen liegt die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung bei 1,64 Prozent. Bei 20 Gästen bei 41,14 Prozent. Und bei 23 Gästen bereits bei 50,73 Prozent, also bei mehr als der Hälfte.

Sind 23 Menschen in einem Raum, gewinnt Walter Krämer also meistens, was in anderen Worten auch heisst: in über der Hälfte der Fälle. Er kann deshalb zwar im Einzelfall seinen Einsatz einmal verlieren. «Aber auf lange Sicht hinaus, wenn ich das Spiel genug häufig spiele, nähert sich meine Gewinnrate den 50,73 Prozent an, und ich gewinne zwangsläufig häufiger», sagt Walter Krämer. «Das entspricht dem Gesetz der grossen Zahlen.»

Ein Ausflug in die Welt der grossen Zahlen


Dieses Gesetzes wegen gibt es Spielautomaten, Roulettetische, diverse Lottovarianten, Sportwetten und andere Glücksspiele, bei denen man auf alles Mögliche setzen kann. Bei all diesen Wettarten, bei denen dem Zufall eine entscheidende Rolle zukommt, verlieren viele Spieler, andere gewinnen oder ruinieren sich, sicher ist nur eins: Die Veranstalter der Glücksspiele werden auf lange Sicht hinaus reich. Weil die Regeln ein klein wenig zu ihren Gunsten ausfallen. (Beispielsweise weil die Chance beim Roulette nicht bei 1 zu 36 liegt, sondern wegen der Null und der Doppelnull bei 1 zu 38.) Gerade so wenig, dass die Spieler vom Gewinnen träumen, ihr Glück wagen und im Einzelfall auch einmal ein grosses Los ziehen. Nur dass die immens vielen kleinen Wetten mit dem minimen Unterschied zugunsten des Organisators auf lange Sicht dazu führen, dass sich Ergebnisse an die erwartete, prozentual leicht höhere Wahrscheinlichkeit eines Gewinns angleichen. Glücksspielbetreiber brauchen deshalb nur zwei Dinge: ganz viele Leute, die beispielsweise mit Gratisdrinks bei Laune gehalten werden, und Geduld. Das Gesetz der grossen Zahl spielt zu ihren Gunsten.


Da Walter Krämer an den Partys nicht wettet, um seine Professorenrente aufzubessern, sind die Einsätze klein oder symbolisch. Er will mit dem Geburtstagsparadoxon an einer Party verblüffen und nebenbei aufzeigen, «dass unser Gefühl für den Zufall häufig unserer Intuition zuwiderläuft».

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Die Grösse der Auswahl entscheidet

Die Schlüsselfrage, die man sich beim Geburtstagsparadoxon genauso wie «bei vielen unwahrscheinlich anmutenden Zufällen stellen muss, lautet: Wie gross ist eine Möglichkeit von vielen?», sagt Walter Krämer. Er entzaubert dadurch den bedeutsamen Zufall und schafft ein kleines bisschen Ordnung im scheinbaren Chaos des Zufälligen.

Ein Beispiel: Zwischen den Lebensläufen der amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln und John F.Kennedy gibt es derart viele Ähnlichkeiten, «dass man sich fragen könnte, ob die Menschheitsgeschichte nicht von langer Hand geplant wurde», sagt Walter Krämer.

So wurde Lincoln 1846 in den Kongress gewählt, Kennedy 1946. Lincoln wurde 1860 Präsident, Kennedy 1960. Die Namen beider enthalten je sieben Buchstaben. Beide setzten sich für die Menschenrechte ein. Beide Gattinnen verloren während ihrer Zeit im Weissen Haus Kinder. Lincoln hatte einen Sekretär namens Kennedy, Kennedy hatte eine Sekretärin namens Lincoln. Beide Präsidenten wurden an einem Freitag erschossen, beide durch einen Schuss in den Kopf und beide durch einen Südstaatler. Lincoln wurde im Ford’s Theatre ermordet, Kennedy in einem Auto der Marke Ford. Einer der Mörder flüchtete aus einem Theater und wurde in einem Lagerhaus gefasst. Der andere flüchtete aus einem Lagerhaus und wurde in einem Theater gefasst. Sowohl Lincolns als auch Kennedys Nachfolger hiess Johnson.

Steckt da womöglich mehr dahinter? Walter Krämer: «Nein.» Die hohe Anzahl von (teilweise leicht zurechtgebogenen) Übereinstimmungen rührt daher, dass aus einer riesigen Anzahl von Möglichkeiten diejenigen Fakten herausgegriffen wurden, die der Aussage dienen», sagt Walter Krämer, der mit seinem populärwissenschaftlichen Buch «So lügt man mit Statistik» 2013 den Wissenschaftspreis für lesbare Wissenschaft erhielt. «All die Fakten, die einem nicht in den Kram passen, lässt man weg.» (Etwas, was auch Verschwörungstheoretiker gerne tun, um ein schlüssiges Weltbild zu gestalten.)

Das doppelte Liebeswunder

Walter Krämers Lieblingsbeispiel für dieses Vorgehen ist «das doppelte Liebeswunder». Ein kurioser Zufall, auf den der Wirtschafts- und Sozialstatistiker in einer Regionalzeitung stiess: Die Stadtverwaltung Kölns schickt jedes Jahr allen Ehepaaren zur diamantenen Hochzeit eine Glückwunschkarte. Vor zehn Jahren entdeckte der zuständige Beamte einen Fehler: Ein Paar, das am 7.Januar 1943 geheiratet hatte, wurde auf seiner Liste doppelt aufgeführt. Der Beamte ging der Ungereimtheit nach und fand heraus, dass es sich nicht um ein Ehepaar, sondern um zwei Paare handelte, die beide zum Nachnamen Franken hiessen und exakt am selben Tag, Monat und Jahr in Köln geheiratet hatten. Zu seiner Verblüffung stellte sich ausserdem heraus, dass beide Männer Hermann hiessen und beide Frauen Anna. Beide Männer arbeiteten als Mechaniker, beide Frauen als Verkäuferinnen. Und da es Fotos von den Hochzeiten gibt, weiss man: Beide Bräute trugen am Tag der Vermählung einen Fliederstrauss. Gekannt hatten sie sich nicht.

Das Unwahrscheinliche ist möglich

«Es ist wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche geschieht», wusste schon Aristoteles. Für Walter Krämer birgt diese Aussage das wohl wichtigste Prinzip im Chaos des Zufalls.

Was bedeutet das für Sie? Dass ausgerechnet Sie beim Schweizer Zahlenlotto den Jackpot knacken, ist mit 0,0000064 Prozent Gewinnchance äusserst unwahrscheinlich. Aber wenn Sie genug oft spielen, wird Ihnen dieser Erfolg wahrscheinlich beschieden sein. Sie müssten dazu nur an jeder Ziehung zwei Tipps abgeben, und mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit sahnen Sie ab. In 450000 Jahren, durchschnittlich. Möglich wäre es also. Und sicher ist, dassirgendjemandden Jackpot knackt. Denn das geschieht alle paar Wochen, weil es einen x-Beliebigen unter ganz vielen trifft. Nur leider eben wahrscheinlich nicht Sie.


Es ist nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich, dass jemand sogar zweimal im Lotto gewinnt. Evelyn Adams aus New Jersey widerfuhr das Pech in den 1980er Jahren innerhalb von vier Monaten. Die Angestellte eines Supermarkts erspielte innert nur vier Monaten 5,4 Millionen Dollar, fand aber keinen Umgang damit, plötzlich über derart viel Geld zu verfügen. Sie verzockte einen Teil ihres Vermögens in Kasinos und den anderen in schlechten Investments. Verarmt soll sie in einem Wohnwagenpark gestrandet sein.

«Wir haben nicht wirklich ein Gefühl für den Zufall», sagt der Schweizer Neurobiologe Peter Brugger. Der Biologe war bis vor kurzem Professor für Verhaltensneurologie und Neuropsychiatrie an der Universität Zürich. Wie schlecht wir den Zufall gemeinhin einschätzen können, illustriert Peter Brugger mit einem einfachen Experiment, das Sie gleich selbst ausprobieren können.


Das «Mentaler Würfel»-Experiment

Nehmen Sie dazu einen Stift und Papier zur Hand.

Bereit?

Stellen Sie sich nun bitte vor, dass Sie einen fiktiven Würfel 37-mal werfen. Er wird Ihnen zufällig gewürfelte Augenzahlen zwischen 1 und 6 zeigen. Notieren Sie die jeweilige Zahl im zeitlichen Abstand von ungefähr einer Sekunde, bis Sie 37 «Zufallszahlen» hergestellt haben. Am einfachsten geht dies, indem Sie sechs Reihen à sechs Zahlen bilden und nach der 36.Zahl eine 37. hinzufügen. Falsch machen können Sie nichts. Entscheidend ist, dass Sie 37 so zufällig wirkende Zahlen wie möglich erzeugen.

Und los geht’s.


Fertig? Die Auflösung folgt gleich nach einer erklärenden Vorbemerkung. Sie hätten jetzt also nochmals die Möglichkeit, ohne Vorwissen am Experiment teilzunehmen.

«Würfel sind ausgezeichnete Zufallsgeneratoren», sagt der Neurobiologe Peter Brugger. «Denn Würfel haben im Gegensatz zu uns Menschen weder ein Gedächtnis noch ein Gehirn.» Ein Würfel fällt somit bei jedem Wurf mit gleich grosser Wahrscheinlichkeit auf eine Zahl zwischen 1 und 6. Die Chance für eine 6 beispielsweise ist immer gleich gross, nämlich 1 zu 6. Wurde schon zweimal hintereinander eine 6 geworfen, beträgt die Wahrscheinlichkeit einer erneuten 6 immer noch 1 zu 6.

«Der reale Würfel kann sich dies nicht merken», sagt der Neurobiologe. «Im Gegensatz zu uns. Wer ein Gehirn besitzt, erinnert sich an frühere Ereignisse. Und weil wir unfähig sind, willkürlich zu vergessen, können wir neue Entscheidungen nicht unabhängig von vorangegangenen treffen.»

Das wird sich in Ihren Zahlenreihen mit Ihrem «mentalen Würfel» bemerkbar machen, falls Sie ein typisches Verhalten an den Tag gelegt haben.


Betrachten Sie nun Ihre Zahlenreihe.

Zählen Sie nun, wie oft Sie die gleiche Augenzahl unmittelbar nacheinander geschrieben haben. (Also beispielsweise 4-4). Drei gleiche Ziffern nacheinander, also 4-4-4, zählen als zwei Wiederholungen.

Zählen Sie nun die Anzahl Zählschritte vorwärts aus (beispielsweise 1-2 oder 2-3 oder 5-6).

Und als Letztes zählen Sie die Zählschritte rückwärts aus (etwa 6-5 oder 5-4 oder 2-1).

37-mal gewürfelt haben Sie übrigens, damit die Chance für jede der sechs Zahlen gleich gross ist. Die 37.Zahl benötigt es, weil die allererste Zahl nicht schon eine Wiederholung sein kann.

Falls Sie nun ein typisches Verhalten an den Tag gelegt haben, ist die Anzahl direkter Wiederholungen (etwa 4-4) kleiner als sechs, wie sie von einem realen Würfel ohne Gedächtnis produziert worden wären (nämlich 1/6 von 36).


«Diese Tendenz ist universell gleich», sagt Peter Brugger. «Weil der Mensch ständig Muster sucht, wird er vermeiden, die Folge 3-3-3 für zufällig zu halten, obschon diese schon ab Beginn des Experiments genauso wahrscheinlich ist wie 3-1-6. Nur erscheint eine Verdoppelung oder Verdreifachung den meisten Menschen als ein Muster und deshalb als zu wenig zufällig.»

Umgekehrt haben Sie mit Ihrem «mentalen Würfel» wahrscheinlich mehr Zählschritte vorwärts und Zählschritte rückwärts hergestellt, als es ein echter Würfel machen würde. Dieser würde je fünf herstellen.

Zur Häufung von Zahlen in aufsteigender oder absteigender Reihenfolge kommt es, weil uns diese besonders geläufig sind und wir das beim «mentalen Würfeln» nur ungenügend unterdrücken können.

Das Experiment mit dem «mentalen Würfel» zeigt vor allem eines: «Wir unterschätzen den Zufall, weil er uns intuitiv als zu wenig zufällig erscheint», sagt Peter Brugger.

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Der Mensch mag Muster


«Das kommt unter anderem davon, dass wir zu ordentlich denken», sagt er. Das menschliche Gehirn hat im Verlauf der Evolution die Fähigkeit entwickelt, innert Sekundenbruchteilen Muster und somit Zusammenhänge als solche zu erkennen. Raschelt es im hohen Gras, könnte sich ein Säbelzahntiger anschleichen. Da lohnt sich eine «Prise Paranoia», wie Peter Brugger sagt, Ignoranz hingegen wäre womöglich tödlich. Zufälligkeiten schnell und richtig zu deuten, kann also überlebenswichtig sein. «Das Suchen oder Sehen von Mustern hat aber im Zusammenhang mit dem Zufall einen gewichtigen Nachteil. Es führt dazu, dass zwei unabhängige Ereignisse miteinander in Verbindung gebracht werden, die gar nicht miteinander verknüpft sind», sagt Peter Brugger.

Etwa der Rücktritt des Gottesdieners und ein Blitzeinschlag im Petersdom an ein und demselben Tag. Oder der Gedanke an eine Person, die kurz darauf anruft. Solche reinen Zufälle treten sehr viel häufiger auf, als wir aufgrund unserer Mustervermeidung gemeinhin annehmen wollen.

Koinzidenzen führen im Alltag zu verblüffenden Überraschungen: Sie treffen sich mit drei Freundinnen zum Apéro, und alle tragen eine gestreifte Bluse. Sie schenken Ihrer Partnerin zu Weihnachten eine Bettflasche und erhalten von dieser selbst eine. Sie wohnen am Asternweg, und Ihre Nachbarin heisst Erika Margarete Blum. Solche Zufälle sind alltäglich und amüsieren und faszinieren uns. «Bedeutungsvoll sind sie aber nicht», sagt Peter Brugger.


Der kanadische Mathematiker Jeffrey Rosenthal schildert in seinem Buch «Vom Blitz getroffen» eine Erinnerung des amerikanischen Physikers und Nobelpreisträgers Richard Feynman. Dieser soll irgendwann als Student plötzlich das Gefühl gehabt haben, zu wissen, dass seine Grossmutter gestorben sei. Wenig später klingelte das Telefon. Ahnungsvoll ging Feynman an den Apparat und hob den Hörer.

Würde man ihm gleich mitteilen, dass seine Altvordere das Zeitliche gesegnet hatte? Sollte sich sein intuitives Wissen bestätigen? – Nein, der Anruf war gar nicht für Feynman.

«Diese Geschichte zeigt sehr schön, dass wir Hunderte von Vorausahnungen haben, aber all die vergessen, die nicht wahr werden», räsoniert der Mathematiker Jeffrey Rosenthal. «Erfüllt sich dagegen eine, vergessen wir, dass das wenig erstaunlich ist, weil es sich nur um eine von vielen handelt.»


Der Zufall und der Aberglaube


Ab wann aber werden Verknüpfungen zum Aberglauben? «Dann, wenn für eine rein korrelative Beziehung ein Ursache-Wirkung-Zusammenhang angenommen wird», sagt Peter Brugger. Etwa, wenn ein Zusammenhang hergestellt wird mit einer schwarzen Katze, die zufälligerweise von links über den Weg läuft und Unglück bringen soll. Oder wenn jemand mit einem Regentanz den Himmel beschwören will. «Man muss nur lange genug tanzen. Irgendwann regnet es», sagt Peter Brugger. «Man kann sich aber auch mit der linken Hand hinter dem rechten Ohr kratzen. Das hat denselben Effekt.»

Nicht nur Menschen, auch Tiere entwickeln einen Aberglauben, wie ein Experiment des Psychologen Burrhus Skinner bereits 1948 zeigte. Er fütterte Tauben in einem Käfig in unregelmässigen Abständen. Instinktiv suchten die Tiere nach einem Grund für das Futter und entwickelten daraufhin abergläubische Verhaltensweisen. Sie begannen ihr zufälliges Verhalten unmittelbar vor der Fütterung zu ritualisieren, standen vermehrt auf einem Bein, wenn sie das vor dem Futtersegen taten, oder drehten sich nach rechts oder links, um so die Fütterung auszulösen.


Bei den Menschen «neigen Frauen, religiöse Menschen und viele Linkshänderinnen und Linkshänder» stärker zu Aberglauben, sagt der Neuropsychologe Peter Brugger. Die Hirnhälften von Menschen, die weiter assoziieren und vermehrt in Koinzidenzen zusammengehörige Muster entdecken, arbeiten stärker zusammen. So interpretieren diese Menschen beispielsweise viel in die an sich bedeutungslosen Tintenkleckse des psychologischen Rorschachtests hinein.

Kreative Menschen bilden mehr Bezüge

Menschen, denen oft «bedeutungsvolle Zufälle» widerfahren oder die zu Aberglauben neigen, haben eine grössere Bereitschaft, Bezüge zu bilden. «Sie sind sehr sensitiv auf unbewusste Zusammenhänge.» Diese Fähigkeit haben sie mit kreativen Menschen gemein. Kreativität zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie über herkömmliche Kategoriengrenzen hinweg assoziiert. Peter Brugger erwähnt dazu den Traum des Chemikers Friedrich August Kekulé von einer Schlange, die sich in ihren Schwanz biss und ihn so per Zufall auf die Ringstruktur des Benzolmoleküls gebracht hatte.

Diese kreative Seite des Aberglaubens könnte der Grund sein, weshalb er trotz unbestreitbaren Nachteilen evolutionär überlebt hat.


Irrationalität des Überschätzens


Beim Beurteilen eines Risikos wendet der Mensch grundsätzlich zwei verschiedene Vorgehen an. Entweder bewertet er eine Situation reflexartig und emotional – vereinfacht ausgedrückt mit dem Bauchgefühl. Oder langsam und analytisch – mit dem Kopf. Die meisten Entscheidungen bei zufälligen Ereignissen werden intuitiv getroffen, weil unerwartete, unvorhersehbare, möglicherweise gefährliche Situationen ein schnelles Handeln erfordern. «Das steigert die Chance zu überleben», sagt Walter Krämer, «aber es führt zu Irrationalitäten bei der Beurteilung von Risiken.»


Gemäss dem Wirtschafts- und Sozialstatistiker unterliegen wir vier grundsätzlichen Fehleinschätzungen, wenn wir an zufällig auftretende Gefahren denken.


Erstens: Künstliche Risiken werden in der Regel höher eingeschätzt als natürliche. So etwa bei der Beurteilung von Gefahren durch Strahlenexpositionen. «Die Exposition eines Transatlantikflugs ist weitaus höher als die Strahlung bei einem Castor-Transport mit Atommüll», sagt Walter Krämer. «Nur steigen Leute, die sich vor einem Castor-Transporter fürchten, locker in ein Flugzeug nach New York.»


Zweitens: Die Angst vor einem zufälligen Unfall steigt, wenn man die negativen Konsequenzen eines Risikos nicht selbst beeinflussen kann. Deswegen ängstigen sich beispielsweise viel mehr Leute vor einem Flugzeugabsturz als vor einem Autounfall. Weil sie annehmen, sie könnten im Auto vor einer Gefahr ausweichen, hätten die Situation im Griff. Tatsächlich aber liegt die Wahrscheinlichkeit eines Autounfalls bei 1 zu 15000, die eines Flugzeugabsturzes bei 1 zu 30000000.


Drittens: Je schwieriger ein Mechanismus zu verstehen ist, desto mehr fürchten sich die Menschen davor. «Deswegen ängstigen sich sehr viel mehr Menschen vor Krebs als vor einer Herz-Kreislauf-Krankheit», sagt Walter Krämer. «Dass das Herz eine Pumpe ist, die kaputtgehen kann, lässt sich jedem Kindergartenkind verständlich machen. Was aber zu Krebs führt, ist selbst für die Mediziner ein Mysterium.» Nur verhält sich die reale Gefahr genau umgekehrt: Die Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz an Krebs (23,7 Prozent der Todesursachen im Jahr 2021) zu sterben, ist geringer als diejenige, einer Herz-Kreislauf-Krankheit (27,6 Prozent) zu erliegen.

Viertens: Risiken, denen wir uns freiwillig aussetzen, werden oft zu Unrecht als niedriger eingeschätzt als aufgezwungene. Walter Krämer erwähnt die Mobiltelefone, von denen die Auswirkungen der Strahlungen wissenschaftlich nicht vollends geklärt sind. «Wenn ein Chef befehlen würde, dass ein Smartphone zu benutzen sei, würden viele aufgrund der möglichen Gefahren in Panik geraten und sich den Geräten verweigern», sagt Walter Krämer.


Allen Gefahren, die von zufälligen Ereignissen ausgehen können, zum Trotz: Der Zufall selbst ist weder schlecht noch böse, noch gut. Aber er kitzelt unsere Nerven, wenn wir uns zu einem Blind Date aufmachen, wenn wir Lotto spielen oder an der Börse spekulieren. Andererseits setzt uns das Unvorhersehbare zu. Ein Platzregen könnte die Gartenparty zunichtemachen. Ein Blitz könnte uns treffen. Der Sitznachbar im Bus könnte uns mit einem noch unbekannten Virus anstecken. Bis es geschehen sein wird, wissen wir es nicht. Der Zufall kennt keine Vorsehung, der Konjunktiv ist seine Konstante. Aber genau das macht seinen Reiz aus, weil der Zufall uns eine Ungewissheit schenkt, die überrascht.


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