Alfred Adler 7.2.1870-28.5.1937
1962 initiierte Rudolf Dreikurs ein internationales Programm mit dem Namen ICASSI (International Essa für Adlerische Sommerschulen und -institute), das Menschen auf der ganzen Welt in der Individualpsychologie ausbildet – gegründet von Alfred Adler. ICASSI bietet ein anregendes Umfeld, in dem Profis, Einzelpersonen, Paare und Familien in einer vielfältigen internationalen kollegialen Gemeinschaft lernen. Nach Dreikurs' Tod wurde ICASSI eine Non-Profit-Organisation mit der Struktur und dem Zweck seiner Frühsommerprogramme. Es bietet einzigartige Anweisungen und Erfahrungslernen für die berufliche und persönliche Entwicklung, die jedes Jahr von einer internationalen Fakultät in einem anderen Land unterrichtet wird.
Hier möchte ich einen Überblick auf die Tiefenpsychologie von Alfred Adler, einem der grossen Wiener Psychologen, präsentieren. Sie finden hier einerseits eine kurze Zusammenfassung der Grundzüge der "Individualpsychologie", dann auch ein Abriss über Alfred Adlers Biografie (Auszüge aus meiner Diplomarbeit).
Durch meine Ausbildung am Alfred-Adler-Institut bin ich von Adlers Individualpsychologie im guten Sinne beeinflusst.
Allgemein:
Adlers Kompensationsmuster, sein Fokus auf die Wichtigkeit der Ermutigung, seine Vorstellung von Gemeinschaftsgefühl und seine wiederholende Aussage über die Ganzheit und die Gleichwertigkeit aller Menschen usw. sind aus meiner Sicht Grundwerte des humanen menschlichen Zusammenlebens.
Die folgenden Bücherbesprechungen über Individualpsychologie, Biografien von Alfred Adler und weiteren Psychologen mögen einen weiteren Einblick in diese psychologische Richtung bieten.
15. Januar 2020
Eine neue Biografie Alfred Adlers (von Alexander Kluy) ist 2019erschienen. In der NZZ vom 15.1.2020 erschien von Wolfgang Taub eine Rezension, die ich hier wiedergeben möchte:
Von diesem Psychologen wäre heute viel zu lernen.
Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, steht zu Unrecht im Schatten von Freud und Jung. Er hat den Einzelnen als Teil der Gesellschaft untersucht und das Verhältnis zwischen Arzt und Patient überdacht. (NZZ)
Neben Sigmund Freud und C. G. Jung gehörte auch der in Wien geborene Alfred Adler (1870–1937) zu den zentralen Säulen der modernen Psychologie. Gegen Ende seines Lebens, Mitte der 1930er Jahre, war seine Berühmtheit so gross, dass er in einem Atemzug mit Albert Einstein genannt wurde. Während Einstein das Universum vermessen habe, sei dem Genie Adler etwas noch Wichtigeres gelungen: die «Kartierung der menschlichen Seele», schreibt der Literaturwissenschafter Alexander Kluy in seiner tiefgreifenden Biografie über den Begründer der Individualpsychologie.
Alfred Adler entstammte einer jüdischen Familie und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, absolvierte aber dennoch ein Medizinstudium. Die Briefe Freuds an Adler zeigen, dass sich die beiden mindestens seit Anfang 1899 kannten. In der Folge wurde der vierzehn Jahre jüngere Adler zum Mitstreiter Freuds in Wien und eines der ersten Mitglieder der 1902 ins Leben gerufenen «Mittwoch-Gesellschaft». Er avancierte zu einem tragenden Mitglied dieser interdisziplinären Disputationsgesellschaft und versäumte während neun Jahren kaum eines ihrer Treffen an der Wiener Burggasse.
Adler beschäftigte sich intensiv mit der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse, stellte sich aber immer stärker in Opposition zu seinem Lehrer, der damals von vielen «Jüngern» als neuer «Messias» betrachtet wurde. Adler sah den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil der Gesellschaft an, weshalb das menschliche Verhalten ganz wesentlich von der Gesellschaft geprägt sei.
Anders als Freud glaubte Alfred Adler auch nicht, dass Störungen der kindlichen Sexualität die Ursache seelischer Probleme im Erwachsenenalter darstellten. Vielmehr vermutete er dahinter Minderwertigkeitskomplexe bzw. einen übersteigerten Geltungstrieb infolge missglückter Anpassung an die Gemeinschaft. Laut Adler sind Frauen und Männer von Natur aus gleichwertig; Freuds eher patriarchalisches Menschenbild kritisierte er deshalb scharf. 1911 kam es denn auch zum schmerzlichen inhaltlichen Bruch zwischen Adler und Freud.
Mechanismen der Abwertung
Adlers Sichtweise wirkt bis heute fort. 2006 meinte etwa der österreichisch-amerikanische Neurologe Eric Kandel im Sinne Adlers, dass biologische Evolution im Grunde eine kulturelle Evolution sei. Die Aktivierung der genetischen Substanz durch soziale Faktoren mache sämtliche Körperfunktionen für soziale Einflüsse empfänglich. Und Adlers Theorien der Psyche seien bedeutsam für zersplitternde Gesellschaften, in denen sich Auflösungsprozesse vollziehen und sich Neopuritanismus, Neorassismus und alter Hass hochschaukeln, hält der Autor fest.
Adler hat als einer der Ersten verstanden und benannt, dass der Mensch infolge faktischer oder empfundener Unzulänglichkeit und eines Mangels an Selbstachtung die Tendenz entwickelt, sich durch Abwertung anderer selbst aufzuwerten. Bei einer Gruppe, die über längere Zeit hinweg als nicht gleichwertig oder explizit als minderwertig behandelt worden ist, würden sich diese Gefühle intensivieren und zu Kompensation führen, in Ausweichmanöver münden, um Selbstzweifel und Infragestellungen zu neutralisieren.
Diese Einsichten führten zu einem Paradigmenwechsel: zur «psychosomatischen Medizin». Krankheitssymptome wurden nunmehr als Rebellion des Organismus gewertet, Neurosen etwa erschienen als Macht- und als Geltungsproblem. Adlers Fokus lag auf der «Demokratisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses» und der Aufwertung der Mitverantwortung des Patienten für seine Genesung. «Die Couch ist gewissermassen abgeschafft», schreibt Kluy. Patienten und Behandler sitzen sich gegenüber, Auge in Auge.
«Die Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und sie dort abzuholen, wo sie stehen» – so fasst der Autor Adlers Mantra zusammen. Nur auf diese Weise konnte in seinen Augen eine «lebensnahe Psychoanalyse» erreicht werden, die es ermöglicht, den Einzelnen aus seiner individuellen Lebenswelt heraus zu verstehen. Begriffe wie «Gemeinschaftsgefühle» oder «Persönlichkeitsideal», die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind, stammen von Adler.
Verzerrte Überlieferung
Trotzdem ist von Adlers Werk nicht viel Originalmaterial erhalten geblieben. Adler pflegte Korrespondenzen nach deren Beantwortung wegzuwerfen. Da er aber unablässig neue Kontakte knüpfte und Freundschaften schloss, entstand eine Fülle von Anekdoten über ihn. Einiges wurde dabei auch falsch wiedergegeben oder durch den Blick seiner Kontrahenten verzerrt: Anders als oft behauptet, hat weder Sigmund Freud noch C. G. Jung den Begriff «Minderwertigkeitskomplex» erfunden. Es war vielmehr Adler, der dieses Wort schuf.
Alexander Kluy beleuchtet anhand von erstmals veröffentlichten Archivfunden eingehend das schillernde Leben jenes grossen Psychologen, der zu Unrecht im Schatten der beiden anderen Grössen steht. Alfred Adler hielt auch zahlreiche Vorträge an Volkshochschulen und richtete die ersten Erziehungsberatungsstellen ein.
Vor dem Hintergrund des Aufstiegs von Hitler in Deutschland und des Machtzuwachses faschistischer Strömungen in Europa übersiedelte Adler 1934 in die USA, wo er schon seit 1926 eine Gastprofessur an der Columbia University innehatte und seit 1932 am Long Island College unterrichtete. Trotzdem unternahm er weiterhin Vortragsreisen nach Europa. Auf einer solchen Reise starb Adler 1937 in Schottland im Alter von 67 Jahren an Herzversagen.
Die Vermessung der menschlichen Psyche
---> siehe auch Seite "Bücher/Filme" Besprechungen.