Ganz anders bei der Verteidigung: Der Ukraine-Krieg zeigt, dass ein vermeintlich unterlegenes Land gegen eine Cybersupermacht wie Russland bestehen kann – dank einem funktionierenden Dispositiv zur Abwehr von Angriffen. Wichtig dabei ist ein umfassender Ansatz. Die Verteidigung im digitalen Raum funktioniert nicht wie eine Burgmauer, die alle Angriffe von aussen abwehren soll. In einer vernetzten Welt müssen Behörden und Wirtschaft auf allen Stufen ihren Beitrag leisten. Diese Aufgabe kann ein Land nicht alleine der Armee überlassen.
Leider besteht bei der IT-Sicherheit noch grosser Nachholbedarf, in der Schweiz wie im Ausland. Der Stand entspricht nicht der Bedrohung. Der Vorteil dabei: Sind Behörden und Unternehmen gut vor Cyberangriffen geschützt, nützt ihnen das nicht nur bei einer erhöhten Bedrohungslage wie derzeit wegen des Ukraine-Konflikts. Gute Sicherheitsstandard helfen auch in normalen Zeiten gegen Cyberangriffe von Kriminellen oder Spionen.
Mit dem Einfall in die friedliche Ukraine der russischen Armee im Februar 2022 hat wohl sicherlich eine neue Zeit v.a. in Europa begonnen. Die friedliche Periode nach dem Ende des Kalten Krieges nach dem Zerfall der Sowjetunion nach 1989 scheint vorbei zu sein. Der Angriffskrieg Russlands weckt in ganz Europa auch viele alte Ängste einer möglichen atomaren Auseinandersetzung. Der folgende NZZ Artikel geht dem nach:
NZZ GASTKOMMENTAR vom 7. März 2022
Das Ende der Illusionen – Gehen wir einem neuen Zeitalter der Konfrontation und der Grossmachtrivalität entgegen?
Mit Putins Krieg gegen die Ukraine liegt die europäische Ordnung in Scherben. Nichts wird mehr so sein, wie es war.
Ulrich Schlie
Wird die Europäische Union ihren eigenen sicherheitspolitischen Bekundungen auch wirklich Taten folgen lassen?
Der Weltprozess gerate plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, schienen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein: So beschrieb Jacob Burckhardt in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» das Wesen der Krise als grosser Beschleunigerin. Mit einem eklatanten Verstoss gegen das Völkerrecht, dem Krieg gegen den unabhängigen europäischen Staat Ukraine, hat Putin versucht, die Ergebnisse der europäischen Revolutionen von 1989/90 zu seinen Gunsten zurückzubuchstabieren. Wenn demnächst in der Ukraine ein Marionettenregime von Putins Gnaden installiert sein wird, wird sich der russische Waffengang
Die europäische Ordnung liegt bereits in Scherben. Nichts wird mehr so sein, wie es war. Ein Russland unter Putins Führung ist als Partner nicht mehr vorstellbar. Die Krise der alten Ordnung wird nicht zu einer schönen neuen Welt, sondern zu einem neuen Zeitalter der Konfrontation und der Grossmachtrivalität führen. Erinnerungen an die sowjetische Aussenpolitik werden wach. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Putin hat indes in der deutschen Sicherheitspolitik geschafft, wozu in den letzten 20 Jahren kein Kanzler willens und keine Koalition fähig war: eine sicherheitspolitische Kehrtwende, die die Realitäten anerkennt und die Nato-Verteidigungsziele erreicht.
Warum gerade jetzt?
Weltordnungen bleiben nie statisch, sie verändern sich. Die Dynamik internationaler Beziehungen wird seit je beeinflusst von technologischen, wirtschaftlichen, sozialen, ideengeschichtlichen oder völkerrechtlichen Entwicklungen. Internationale Konstellationen und innerstaatlicher Systemwandel müssen dabei immer als zusammenhängendes Ganzes gesehen werden. Putins Flucht in den Krieg sagt viel aus über den inneren Zustand seines Landes. Die jüngsten Ansprachen lassen eine Gehetztheit und Aggressivität erkennen, die nur als Schwäche ausgelegt werden kann. Je gefestigter ein Land in seinem Inneren ist, je grösser der demokratische Grundkonsens, das Einverständnis über gemeinsame Positionen, desto berechenbarer wird seine Aussenpolitik erscheinen.
Warum hat Putin ausgerechnet jetzt den Zeitpunkt für seine Aggression gesucht? Strategische Unsicherheiten, die innere Krise der Europäischen Union, vermehrte Zeichen amerikanischer Schwäche unter Präsident Biden haben dazu beigetragen. Der überstürzte und auch mit den Verbündeten schlecht abgestimmte Abzug aus Afghanistan steht dafür. Die amerikanische Hegemonie befindet sich im Niedergang, Chinas machtpolitischer Aufstieg ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch sicherheitspolitische Bedrohung und eine Auseinandersetzung der Systeme. Zugleich nehmen die Erosionserscheinungen innerhalb der demokratischen Systeme zu. Die Brüchigkeit der freiheitlichen Ordnung hat sich in der Geschichte immer dann besonders deutlich manifestiert, wenn Bindungen nachliessen und der Zusammenhalt schwand.
Europa und Amerika
Die gegenwärtige Krise lenkt insbesondere den Blick auf die machtpolitische Asymmetrie zwischen Europa und Amerika. Diese Asymmetrie ist zunächst nichts grundlegend Neues. Sie war in der Ordnung von Jalta und Potsdam angelegt und hat auch in den ersten zwanzig Jahren nach dem Fall der Mauer fortbestanden, als sich Amerika von 1990 bis etwa 2006 auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befand. Aber diese Asymmetrie können sich weder Europa noch Amerika auf absehbare Zeit leisten, wenn sie im Zeitalter der neuen Machtrivalität nicht weiter geschwächt (Amerika) oder gar marginalisiert (Europa) werden wollen.
In welche Welt gehen wir? Im strategischen Wettbewerb der Zukunft geht es vor allem darum, wie ein Leben in Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Nachhaltigkeit möglich ist. Er wird sich – insbesondere innerhalb der internationalen Organisationen – im Ringen um Handels-, Technologie-, Industrie-, Gesundheits-, Sicherheits-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards oder um Eigentumsrechte ausdrücken. Gravierendste Folge dieses Wettbewerbs ist eine geoökonomische Neuordnung der Welt, bei der die Karten von Macht und Einfluss neu gezeichnet werden.
Russlands Selbstzweck
Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und asiatische Flankenmacht war der geopolitische Verlierer des Zusammenbruchs der Ordnung von Jalta und Potsdam im Jahr 1989/90, und Russland wird ein zweites Mal Verlierer sein mit seinem gegenwärtigen Versuch des Revisionismus. Russland ist es nicht gelungen, die Hypotheken aus der imperialen Vergangenheit der Sowjetunion abzustreifen. Das Land wird damit mehr und mehr vom Subjekt, das die politischen Entwicklungen Europas und der Welt beeinflussen wollte, zum getriebenen Objekt, das mit zunehmenden innenpolitischen Erosionserscheinungen, wirtschaftlicher Schwäche und Anlehnung an China als Juniorpartner zurückgeworfen wird. Der vollständige Anschluss an den Westen misslang, deshalb verblieb als Kategorie nur die Erhaltung der eigenen Macht.
Das Denken in Kategorien der Grossmachtpolitik geht in der Tradition der russischen Politik bis in die 1930er Jahre zurück. Ein wirtschaftlich empfindlich geschwächtes Russland unter Putin, das zugleich Nuklear- und Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist, wird weiter unberechenbar bleiben und sich nolens volens an der Seite Chinas wiederfinden. Bei den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen besteht ein deutliches Ungleichgewicht zugunsten Chinas, das traditionell gegenüber Russland einen Überlegenheitsanspruch erhebt.
China ist vor allem daran interessiert, Rohstoffe aus Russland zu beziehen, und betrachtet den Nachbarstaat in erster Linie als Absatzmarkt für seine Fertigprodukte. Russland ist für Europa geografisch, historisch und politisch näher als China, die europäische Geschichte ist seit Jahrhunderten auf vielfältige Weise mit der Geschichte Russlands verbunden.
Europa braucht Russland für die Lösung der unbewältigten Aufgaben auf dem Balkan und in Europas Peripherie. Zu den strategisch weitreichendsten Verschiebungen der geopolitischen Kräfteverhältnisse zählt zudem das künftige Verhältnis zwischen Russland und der Türkei, die ihrerseits in einer tiefen Orientierungskrise steckt und fortgesetzte Neupositionierungsversuche unternimmt.
Europa muss strategisch denken
Entscheidend für die künftige Entwicklung der Staatenwelt wird die Frage sein, ob sich der schon seit einiger Zeit anhaltende strategische Rückzug der Vereinigten Staaten und der damit verbundene Einflussverlust fortsetzen wird und ob die Europäische Union ihren eigenen ambitionierten Bekundungen endlich Taten folgen lässt, ihre Kultur der Selbstzufriedenheit abstreift und sich zu strategischem Denken und Handeln aufschwingt. Die wirtschaftliche und moralische Stärke der atlantischen Gemeinschaft gründet auf geteilten Werten. Die Artikel-fünf-Aufgaben des Washingtoner Vertrages werden im neuen strategischen Konzept der Nordatlantischen Allianz eine Renaissance erleben. Landesverteidigung als Bündnisverteidigung wird eine Kernaufgabe bleiben, die Systemrivalität zu Russland und China wird beim Namen genannt werden.
Eine noch grössere Klarheit über die eigene Rolle ist unerlässlich. Nicht nur Deutschland als wirtschaftlich potentestes Land Europas braucht einen Prozess des politischen Umdenkens und die Bereitschaft zu einer Neugestaltung. Gerade aber Berlin mit seinem noch unterentwickelten strategischen Kompass muss eine neue europäische und geopolitische Verantwortung anzunehmen bereit sein. Wenn aber Europa seine Chancen auf Gestaltung verpasst und nicht zu einer neuen Partnerschaft mit Amerika findet, dann wird sich der strategische Bedeutungsverlust Europas fortsetzen.
Damit die Nordatlantische Allianz ihre künftige strategische Bedeutung definieren kann, wird die gemeinsame Beantwortung der über den Geltungsbereich des Washingtoner Vertrages hinausreichenden geopolitischen Fragen eine entscheidende Rolle spielen. Dabei geht es insbesondere auch um die mit den Turbulenzen im Nahen Osten, dem Aufstieg Chinas und den Entwicklungen Asiens verbundenen Fragestellungen. Die Krise der Ordnung ist eine globale Krise und wird uns noch auf absehbare Zeit fordern. Wenn jetzt das Ende der Illusionen gekommen ist, wäre dies zumindest ein Anfang.
Ulrich Schlie ist Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung und Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Cassis) an der Universität Bonn.
Es muss davon ausgegangen werden, dass dieser Ukraine-Krieg noch länger dauern wird. Die russische Armee hat bis jetzt nicht erreicht, was geplant war. Obwohl die russischen Truppen zahlenmässig den ukrainischen weit überlegen sind, wehren sich die Angegriffenen heldenhaft und haben dem Feind bereits schwere Schläge erteilt mit Tausenden von Opfern. Da stellt sich die Frage, ob ein unmenschlicher Despot wie Wladimir Putin überhaupt in der Lage sein wird, ein tapferes Volk, das sich heroenhaft und hochmotiviert zur Wehr setzt, zu besiegen? Der folgende NZZ-Artikel geht dieser Frage nach:
NZZ vom 7. März 2022
Krieg in der Ukraine: Hier zählt nicht militärische Macht, sondern kommunikatives Geschick
Seit dem Beginn der russischen Invasion tobt im Netz ein beispielloser Informationskrieg. Darin stehen die publizistischen Söldner Putins einem Schwarm der vernetzten Vielen gegenüber, angeführt vom ukrainischen Präsidenten Selenski.
Bernhard Pörksen07.03.2022, 05.30 Uhr
Laurent Van Der Stockt / Getty
Es ist ein peinlicher Fehler, ein Missgeschick mit Symptomcharakter. In den Morgenstunden des 26. Februar, zwei Tage nach der von Lügen strotzenden Rede Wladimir Putins und dem Überfall auf die Ukraine, geht ein Artikel des Kolumnisten Pjotr Akopow online. Und wird kurz darauf wieder gelöscht. Doch da ist es bereits zu spät.
Akopow arbeitet für die staatliche Nachrichtenagentur Ria. Er feiert in seinem vorproduzierten Artikel den Sieg Russlands über die Ukraine. Nun habe das Land seine Einheit wiederhergestellt. Die «Ära westlicher globaler Herrschaft» sei an ihr Ende gekommen. Und die Ukraine werde nun «umgebaut, neu gegründet und zurück zu ihrem natürlichen Zustand als Teil der russischen Welt gebracht». So weit die Propaganda-Arie des Journalisten, an der nichts stimmt, die aber doch gleich in mehrfacher Hinsicht bezeichnend ist.
Zum einen, das ist seit langem bekannt, sind Kriege die grosse Stunde der Falschmeldungen und Lügen. Zum anderen wird durch den Blick in den Maschinenraum der Propaganda offenbar, wie unmittelbar man auf russischer Seite mit einem Sieg rechnete, wie verstörend also die Einsicht für den Diktator Putin sein muss, dass seine Pläne nicht reibungslos aufgehen. Und schliesslich zeigt sich hier am konkreten Fall, dass es zwei miteinander rivalisierende Parallelwirklichkeiten gibt, die die öffentliche Wahrnehmung prägen.
Zwei Wirklichkeiten
Die erste ist in der analogen Welt angesiedelt. Hier donnern Panzer Richtung Kiew. Hier werden ukrainische Soldaten und Zivilisten umgebracht, sterben auf der Flucht, im Bombenhagel, gehetzt und gejagt. Hier sind die Kräfteverhältnisse klar, auch wenn sich die Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Mut der Verzweifelten verteidigen. Putin hat in dieser ersten Wirklichkeit alle Möglichkeiten, das unterlegene Volk zusammenschiessen zu lassen, und er tut dies, kaltblütig und brutal. Sein militärischer Sieg ist allein eine Zeitfrage. Und Erfolg heisst hier: Die Unterlegenen strecken die Waffen.
In der zweiten, der kommunikativ erzeugten Netzwirklichkeit stellen sich die Kräfteverhältnisse nach mehr als einer Woche Krieg jedoch anders dar. Hier marschiert Putin in Richtung Niederlage, dies natürlich nicht wegen ein paar Fehlern willfähriger Journalisten wie einem vorschnell veröffentlichen Jubel-Artikel, sondern weil hier grundsätzlich andere Spielregeln gelten – und sich die westliche Welt in seltener Einmütigkeit solidarisiert.
Hier, in der Netzwelt, heisst Erfolg: seine Narrative durchsetzen, Deutungshoheit erringen, effektiv für das eigene Gesellschaftsmodell werben. Und hier ist das militärische Machtgefälle zwischen Russland und der Ukraine nicht mehr spürbar, im Gegenteil. Denn im Netz stehen sich zwei publizistische Grossmächte gegenüber.
Auf der einen Seite: die totalitäre Gewalt, verkörpert durch Putin. Er thront wie ein Herrscher aus der Ferne, wie ein rätselhafter, undurchdringlicher Dämon an einem riesenhaften Tisch, die Welt auf Abstand, einen ängstlich vor sich hin haspelnden Untergebenen wie den Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergei Naryschkin, vor globalem Publikum abkanzelnd. Vorbei die Zeit, als Putin – dampfend vor Männlichkeit, zwischen Poster-Boy-Image und klassischer Helden-Ikonografie oszillierend – mit nacktem Oberkörper durch die sibirische Taiga ritt, im Judokostüm seinen Gegner auf die Matte warf oder von der Jagd oder dem Angelausflug kommend seine Beute in die Kamera hielt.
Heute regiert er als Kommandeur, der Befehle gibt. Seine Söldner ziehen los, um den ukrainischen Präsidenten ermorden zu lassen. Seine Medien schreiben von einer militärischen Operation. Begriffe wie Krieg und Invasion sind verboten. Armeen von Trollen ziehen durch die sozialen Netzwerke, um Andersdenkende niederzubrüllen, Meinungsmehrheiten zu simulieren, Angst und Schrecken zu verbreiten, der ukrainischen Zivilbevölkerung zu drohen.
Die Macht der vernetzten Vielen
Auf der anderen Seite im publizistischen Grosskonflikt dieser Tage: die plötzlich aufschäumende Macht der vernetzten Vielen, dirigiert von dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, der sich als Meister der strategischen Kommunikation in den digitalen Netzwerken entpuppt. Mehrfach täglich postet er Videos und Botschaften auf seinen Kanälen, die Menschen überall in westlichen Ländern übersetzen, verbreiten und auch einmal mit Hip-Hop-Beats unterlegen. Man erlebt ihn in ganz unterschiedlichen Rollen und an ganz unterschiedlichen Orten, mal nachts vor dem Präsidentenpalast, mal zusammen mit seinen Ministern in einem Bunker. Mal sieht man ihn im militärgrünen T-Shirt, dann wieder im Pulli, unrasiert, blass und erschöpft. An die Stelle der gewalttätigen Autorität eines Putin tritt hier existenzielle Authentizität. Eben in diesem Charisma der Verletzbarkeit liegt das Faszinationsgeheimnis Selenskis.
Worin besteht die Medienmacht des ukrainischen Präsidenten, wie lässt sich sein Einfluss auf die öffentliche Meinung der westlichen Welt erklären? Vier Gesichtspunkte.
In narrativer Hinsicht ist es die archetypisch bekannte, sofort verständliche David-gegen-Goliath-Geschichte, die hier wirkt. Weltanschaulich-ideologisch gesehen erscheint der ukrainische Präsident längst als Symbolfigur der offenen Gesellschaft. In ethisch-moralischer Hinsicht ist es der Einsatz des eigenen Lebens, die Weigerung zu fliehen, die Menschen auf der ganzen Welt berührt und erschüttert. (Er brauche keine Flucht- und Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen, so liess er die USA wissen.) Und medienanalytisch betrachtet kommt einem Selenski in diesen Tagen auf allen Kommunikationskanälen ganz nah; fast scheint es so, als würde man ihn kennen, als sei er – eben durch die medial hergestellte Vertrautheit – zum Verwandten geworden, zum Freund, dessen Mut man bewundert.
Er selbst tut im Angesicht seines womöglich baldigen Todes kaum etwas anderes, als den Aggressoren zu drohen und um Beistand zu bitten – bei ausländischen Regierungschefs, Plattformbetreibern, dem eigenen Volk, der Weltbevölkerung. Entscheidend ist: Er und seine Leute mobilisieren durch die Auftritte in den sozialen Netzwerken. Sie animieren zur Bildung einer Gemeinschaft, die man – im Gegensatz zu einem strikt hierarchisch geprägten Kollektiv mit klar definierbaren Innen-aussen-Grenzen – als Konnektiv bezeichnen könnte. Es ist eine Organisation ohne Organisation, eine Individual-Masse und Ich-wir-Gemeinschaft, die mithilfe der digitalen Medien und durch das Teilen von Informationen mit gemeinsamem Fokus entsteht.
Das Attraktivitätsgeheimnis eines solchen Konnektivs besteht in der Mischung aus Offenheit und zielgerichteter Partizipation, aus individueller Sichtbarkeit und Zugehörigkeitsgefühl. Man arbeitet gemeinsam, fühlt sich der einen Sache verpflichtet. Aber wer genau ist Teil des Konnektivs zur Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit?
Schwer zu sagen. Und kaum zu kontrollieren. Da sind diejenigen, die sich vor Ort und im Land über Facebook vernetzen und Strassenschilder abmontieren, um die Angreifer in die Irre zu führen. Da sind diejenigen, die Ermutigungsvideos und Dokumente der Zivilcourage posten, die Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails verbreiten, auf Twitter Tipps geben, wie man Strassensperren baut und Fluchtwege plant. Da sind die Plattformbetreiber, die auf einmal russisches Werbegeld zur Verbreitung von Desinformation zurückweisen, ihren pseudoneutralen Opportunismus der Vergangenheit über Nacht aufgeben. Und sich mit der Ukraine verbünden. Da ist ein 19-jähriger Jugendlicher aus Florida, der einen Bot programmiert, mit dem man die Flugrouten der Oligarchen-Helikopter und -Privatjets verfolgen kann. Da sind diejenigen, die aus unterschiedlichen europäischen Ländern auf den Restaurant-Empfehlungsportalen in Moskau und anderswo Berichte über den Krieg Putins und die Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung liefern, um die aggressiv durchgesetzte Informationskontrolle in Russland zu unterlaufen.
Und so könnte man immer weitere Player aufzählen. Könnte von Gruppen und Initiativen berichten, die systematisch Propaganda-Postings der russischen Seite entlarven oder Dokumente der Grausamkeit sammeln, auch für spätere Prozesse in Den Haag. Man könnte von einzelnen Wikipedia-Teams erzählen, die seit dem Tag der Invasion in Echtzeit faktengesättigte, mit Hunderten von Fussnoten gespickte Artikel in zahllosen Sprachen der Welt produzieren. Könnte von den Hackern berichten, die auf den Ladesäulen für Elektroautos in Russland den Spruch «Putin is a dickhead» sichtbar werden liessen.
Sie alle gehören zum Konnektiv einer global vernetzten Initiative und Publikative neuen Typs. Noch einmal: Hier, in den sozialen Netzwerken der westlichen Welt und in der zweiten Wirklichkeit der Kommunikation, hat Putin verloren. Global vernetzte Konnektive sind, was die Farbigkeit, die Vielfalt und die Intensität ihrer inszenatorischen Möglichkeiten betrifft, dem Kollektiv einer strikt hierarchisch organisierten Propaganda-Macht strukturell weit überlegen. Das ist die gute Nachricht. Der Schmerz dieser Tage besteht darin, dass das kommunikative Geschick zwar die Solidarität und den Sanktionswillen der westlichen Welt beflügelt und die Ächtung von Putins Gehilfen überall auf der Welt beschleunigt, aber die Menschen in der Ukraine doch nicht retten kann. Sie werden in der ersten Wirklichkeit des Krieges drangsaliert und umgebracht, und diese erste Wirklichkeit ist dann doch die entscheidende.
Instrument der Humanisierung
Dennoch: In den letzten Jahren hat sich, bedingt durch die Pro-Brexit-Propaganda, die Wahl Donald Trumps und die Verbreitung von Fake News und Verschwörungsmythen in Zeiten der Pandemie, die Gewissheit durchgesetzt, dass die Phase der Netzutopien endgültig vorbei ist. Die Datenskandale von Facebook, die Orchestrierung des Völkermords an den Rohingya auch mithilfe ebendieses sozialen Netzwerkes, die Hassexplosionen auf Twitter und zuletzt in den Katakomben der Telegram-Kanäle, die obszöne Kannibalisierung des Werbemarktes zulasten der Qualitätsmedien – all dies hat die Rufe nach Regulierung lauter werden lassen, zu Recht.
Die letzten Tage haben die längst verflogene Digitaleuphorie der 1990er Jahre nicht zurückgebracht, gewiss nicht. Sie im Angesicht der blutenden, verzweifelten Menschen und der zerborstenen Häuser auch nur für einen Moment zu beschwören, wäre verspielter Zynismus und blosse Gedankenflucht, um nicht allzu genau hinschauen zu müssen. Deutlich wurde und wird im Angesicht der Katastrophe dieses Krieges aber, dass sich das Instrument der Vernetzung durchaus zur Humanisierung und Demokratisierung der Verhältnisse einsetzen lässt. Dafür braucht es allerdings unbedingte Entschiedenheit, politischen Willen und kollektiven Fokus und vielleicht Menschen, die bereit sind, alles zu riskieren.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Demnächst erscheint sein neues Buch «Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation» (Palgrave Macmillan).
13. Februar 2022
Die Frage, ob es rund um die Ukraine zum Krieg mit Russland kommt, steht weiterhin im Raum! Die Nachrichten rund um diesen Konflikt sind allerdings weiterhin sehr beunruhigend, es kann jederzeit mit einem russischen Überfall gerechnet werden.
Zu einem ganz anderen Thema: Leonardo da Vinci war ein Universalgenie, das weiss heutzutage was jedes Kind. Dass dieser Mann so quasi auch ein Vordenker in der Kiefer-Anatomie war, ist eher unbekannt! Der folgende Artikel von BLUE NEWS geht auf dieses Thema in da Vincis geniales Denken zu seiner Zeit ein:
Leonardo da Vincis anatomische Studien brachten ihm ein Verständnis für die Anatomie des Kiefers, welches seiner Zeit voraus war. Das Bild zeigt Besucher*innen einer Ausstellung der Werke des Künstlers.
KEYSTONE
Leonardo da Vinci gilt als eines der grössten «Universalgenies», das für seine Leistungen in der Kunst oder Technologieentwicklung hoch angesehen wird. Forscher haben nun nachgewiesen, dass er auch als Dentalforscher seiner Zeit weit voraus war.
sda - 13.2.2022
Über 30 Lebensjahre hinweg führte da Vinci anatomischen Studien durch. Einer Überblicksarbeit von österreichischen Zahnforschern hat nun gezeigt, dass das Genie die Kieferhöhle schon 150 Jahre vor ihrer offiziellen Entdeckung korrekt erkannte – ebenso wie den Zusammenhang zwischen Zahnform und Funktion der Zähne.
Dem anatomischen und physiologischen Erbe da Vincis (1452-1519) gingen der Anthropologe und Direktor des Zentrums für Natur- und Kulturgeschichte des Menschen, Kurt W. Alt von der Danube Private University (DPU) in Krems (NÖ), und die Kunsthistorikerin und Zahnärztin Iris Schuez im «Journal of Anatomy» nach.
In einigen Zeichnungen und Notizen hat sich der Universalgelehrte auch mit der Beschaffenheit des Schädels, und speziell mit dem Kiefer- und Zahnbereich auseinandergesetzt. Fünf 1489 angefertigte Skizzen zeigen die Zahnanatomie, das Nerven- und Blutgefässsystem und die Nasennebenhöhlen bereits sehr detailliert, wie die beiden Studienautoren schreiben. Eine handschriftliche Seite mit Schlussfolgerungen zu den Zeichnungen datiert aus dem Jahr 1508.
Generationen nach dem Genie
Erkannte als erster, dass Zähne nicht tot sind
In der Renaissance-Epoche war die Zahnheilkunde noch kein eigenes wissenschaftliches Feld. Da Vinci war stark daran beteiligt, in jener Zeit seit der Antike verloren gegangenes anatomisches Wissen wieder zurückzuerlangen. Weil sein wissenschaftlicher Zugang damals sehr innovativ war, blieben da Vincis Aufzeichnungen auch für viele seiner Zeitgenossen schwer nachvollziehbar.
Zwei der Zeichnungen befassen sich unter anderem mit den Kieferhöhlen - und das 150 Jahre vor ihrer «Entdeckung» durch den britischen Anatomen Nathaniel Highmore. Da Vincis Aufzeichnungen würden auch zeigen, dass er die Zähne nicht als «totes Gewebe» sondern als lebende Strukturen gesehen hat.
In den Zeichnungen findet sich laut den Autoren auch die erste korrekte Angabe zu der Zusammensetzung des menschlichen Gebisses mit vier Schneidezähnen, zwei Eckzähnen, vier Vorbackenzähnen und sechs Backenzähnen pro Kiefer.
Universalgenie
Zu klug für Zeitgenossen
Seine Beschreibung der vier verschiedenen Zahntypen ergänzte er später durch eine Analyse ihrer Funktion. Dabei gelangte er zu dem richtigen Schluss, dass bei der Bewegung von Ober- und Unterkiefer die stärksten Kräfte im hinteren Teil des Gebisses und damit nahe an dem Punkt wirken, von dem die Kaubewegung ausgeht. Daraus leitete er ab, warum die verschiedenen Zahntypen so entwickelt und angeordnet sind, welche Aufgaben sie erfüllen und welchen Belastungen sie ausgesetzt sind.
Auch wenn da Vincis anatomische Studien nicht publiziert wurden, hatten sie in der Folge beträchtlichen Einfluss auf Künstler und Forscher, wie Schuez und Alt hervorheben. Seine vielleicht grösste Errungenschaft im medizinischen Bereich sei aber sein Einfluss auf die Einführung von möglichst detaillierten Zeichnungen zur Vermittlung von anatomischem Wissen.
Letztlich sei ihm aber das Schicksal vieler «Universalgenies» zuteilgeworden. Nämlich, dass sein Vermächtnis so umfassend war, dass die kommenden Generationen mit dem Ausmass an Information gar nicht umgehen konnten, halten Schuez und Alt fest.
12. Februar 2022
Steuern wir auf einen Krieg rund um die Ukraine zu? Wird Russland einen Angriff auf die Ukraine in nächster Zeit starten? Diese Fragen muss man sich stellen, wenn man die News der weltweiten Presse liest. Aus den USA tönt es schon seit einigen Tagen sehr drastisch, womit in den nächsten Tagen mit einem Krieg, resp. einem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine zu rechnen sei:
BLUEWIN News meldete heute das folgende:
Hubert Wetzel vor 20 Std.
Damit in der Ukraine keine Panik ausbricht, wollte die USA nicht mehr von einer «unmittelbar» bevorstehenden russischen Invasion sprechen. Doch nun endet die Zurückhaltung bereits wieder.
© Foto: Manuel Balce Ceneta (Keystone/dpa)
Vor einigen Tagen erst hatte die US-Regierung bekannt gegeben, künftig auf ein kleines, aber nicht unwichtiges Wort verzichten zu wollen: imminent. Man werde nicht mehr davon sprechen, dass eine mögliche russische Invasion in der Ukraine «unmittelbar» bevorstehe, hiess es aus Washington. Das war eine Geste an die Regierung in Kiew, die verhindern wollte, dass wegen der ständigen Kriegswarnungen aus den USA in ihrem Land Panik ausbricht. Auch die amerikanischen Verbündeten in Europa, die noch mitten in allerlei diplomatischen Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin steckten, waren wohl etwas irritiert, dass die USA den Eindruck erweckten, ein Angriff Russlands auf den Nachbarstaat könnte praktisch jederzeit beginnen.
Lange dauerte die Zurückhaltung in Washington allerdings nicht. Am Freitag benutzte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, in seiner Lagebeschreibung ein gleichbedeutendes Wort – immediate. «Russland könnte in sehr kurzer Zeit den Befehl zu einer grossen Militäraktion gegen die Ukraine geben», sagte er. Zwar wüssten die USA nicht mit abschliessender Sicherheit, ob Putin eine Invasion beschlossen und angeordnet habe. Aber die Gefahr sei «hoch» und die Bedrohung sei «unmittelbar».
Wenige Stunden vor Sullivans Äusserungen hatte Biden sich bereits in einer Telefonkonferenz mit Staats- und Regierungschefs aus den wichtigsten Nato- und EU-Ländern zusammengeschaltet. Darunter waren Bundeskanzler Olaf Scholz und die Kollegen aus Paris, London und Rom. An der Besprechung nahmen aber zudem die Präsidenten Polens und Rumäniens teil – jener beiden osteuropäischen Staaten, die die längsten Landgrenzen mit der Ukraine teilen. In den vergangenen Tagen hatten die USA in beide Länder mehrere Tausend GIs verlegt, um Moskau zu signalisieren, dass die Ostgrenze der Nato verteidigt wird.
«Wir sehen, dass Russland weiter eskaliert»
Über Details der Unterredung wurde zunächst nichts bekannt. Doch dass die US-Regierung nur kurz nach dem Telefonat Bidens wichtigsten Berater an die Öffentlichkeit schickte, um vor einer Invasion zu warnen, spricht dafür, dass Washington ernsthaft besorgt ist. An diesem Samstag will Biden erneut mit Putin telefonieren.
Sullivan zufolge hat die russische Armee genügend Truppen und Material für einen Angriff an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. «Wir sehen, dass Russland weiter eskaliert», sagte er. «Dazu gehört auch die Ankunft neuer Militärkräfte an der ukrainischen Grenze.» Der Sicherheitsberater spekulierte sogar öffentlich darüber, wie eine Invasion ablaufen könnte. «Sie würde vermutlich mit Luftangriffen und Raketenbeschuss beginnen, durch die Zivilisten getötet werden könnten», sagte Sullivan. Danach könnte eine Bodenoffensive «durch eine massive Streitmacht» folgen.
Angriff während Olympia würde China verärgern
Ähnlich wie Sullivan äusserte sich auch US-Aussenminister Antony Blinken. Bei einer Pressekonferenz in Australien warnte er davor, dass ein russischer Einmarsch in der Ukraine «jederzeit» beginnen könne. Er wolle auch nicht ausschliessen, dass Putin noch während der derzeit laufenden Olympischen Winterspiele in Peking losschlage, so Blinken. Bisher war im Westen erwartet worden, dass Putin das Ende der Spiele am 20. Februar abwartet, um die chinesische Regierung nicht zu verärgern. Im Falle eines russischen Angriffs auf ein europäisches Land wäre es vermutlich schwierig, die Spiele einfach fortzusetzen.
Blinkens Äusserung war eine dringende Warnung des US-Aussenministeriums an alle amerikanischen Staatsbürger in der Ukraine vorausgegangen, das Land möglichst sofort zu verlassen. Sullivan sprach am Freitag von einem Zeitfenster von 24 bis 48 Stunden, das Amerikaner zur Ausreise nutzen sollten. Präsident Biden stellte in einem Interview klar, dass das US-Militär nach dem Beginn einer Invasion keine Amerikaner aus der Ukraine retten werde. Die Gefahr, dass es bei einer Evakuierungsaktion zu Zusammenstössen mit russischen Soldaten komme – und dadurch zum «Dritten Weltkrieg» -, sei zu hoch. Auch andere europäische Staaten forderten ihre Staatsbürger auf, schnellstmöglich aus der Ukraine auszureisen.
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2021
9. Februar 2021
Nach wie vor stecken wir weltweit in der Corona-Pandemie-Zeit mit allen Auswirkungen auf unser tägliches Leben. - Vielen ist nicht bekannt, dass vor rund 100 Jahren (1918-1919) eine ähnliche Pandemie die Welt erschütterte. Ein Vergleich mit der aktuellen Pandemie drängt sich auf.
Vielleicht hat der/die eine oder andere das bekannte Buch von Oliver Sacks "Awakeings" gelesen, der in einem Hospiz Überlebende der damaligen Spanischen Grippe mit L-Dopa behandelte mit überraschendem Erfolg! Heute sprechen wir von Long-Covid, an Corona-Erkrankten mit Folgeschäden, die etwa 25-30% der an Covit-19-Erkrankten und Überlebenden betrifft. Damals, vor 100 Jahren, gab es auch Überlebende, die mit fürchterlichen Folgen weiterleben mussten: sie fielen in einen Koma-ähnliche "Tiefschlaf" und mussten die kommenden Jahrzehnte in Pflegeheimen verbringen und konnten kein normales Leben mehr führen. Oliver Sacks therapierte sie 1969 mit L-Dopa und erzielte ganz verblüffende Resultate: die erstarrten Menschen "erwachten" auf einmal, konnten ihre Fähigkeiten, die sie einmal vor der Erkrankung der Spanischen Grippe erwarben, wieder aktivieren und das Leben wieder geniessen. Awakenings ist ein erstaunlicher Bericht, der gerade heute rund um die Corona-Pandemie wieder aktuell wird.
Der BLICK stellt seinen Fokus auf die damalige "Spanische Grippe". Was sich damals auch bei uns in der Schweiz abspielte, ähnelt sich frappant der heutigen Situation!
Forscher zeigen Parallelen: Schweiz wiederholt Fehler der Spanischen Grippe
Bruhin Martin (bra)
Zögerliches Handeln, zu frühe Lockerungen und ignorierte Einschränkungen: Die Muster bei der Bewältigung der Spanischen Grippe haben auffällige Ähnlichkeiten mit derjenigen der Corona-Pandemie. Das berichten Forschende im Fachmagazin «Annals of Internal Medicine».
In den Jahren 1918 und 1919 wütete die spanische Grippe weltweit und tötete in der Schweiz gemäss historischen Quellen fast 25'000 Menschen. Besonders die lange andauernde zweite Welle forderte viele Opfer. «Es ist beeindruckend, wie sich beim Vorgehen der Regierung und der Behörden während den Pandemien 1918 und 2020 immer grössere Ähnlichkeiten abzeichnen», sagte der Historiker Kaspar Staub von der Universität Zürich im Gespräch mit Keystone-SDA.
Natürlich gebe es auch wichtige Unterschiede zur Corona-Pandemie: Heute sei es ein anderes Virus, die Lebensumstände andere, die Fachwelt vernetzter und das medizinische Wissen grösser. Dennoch ähneln sich gewisse Muster auffällig stark.
Für seine Studie zeichnete das schweizerisch-kanadische Forscherteam das Geschehen im Kanton Bern während der Spanischen Grippe nach, wo das aggressive Virus besonders stark wütete. Es analysierte fast 10'000 Meldungen mit über 120'000 Influenza-ähnlichen Erkrankungen aus 473 Gemeinden, die im Staatsarchiv Bern hinterlegt sind.
Demnach breitete sich die Spanische Grippe im Sommer 1918 zuerst im französischsprachigen Teil Berns sowie in den Städten aus. Ansteckungen in den alpinen Gebieten folgten etwas später. Zu Beginn der ersten Welle reagierte der Kanton Bern rasch und zentral. Er schränkte Versammlungen ein, schloss Theater, Kinos sowie Schulen und verbot Chorproben – Läden und Fabriken blieben offen. Die Ansteckungen gingen zurück, worauf sämtliche Einschränkungen wieder aufgehoben wurden. Viel zu früh, wie sich bald zeigte: Die viel schlimmere Herbstwelle rollte an.
Das Fatale gemäss der Studie: Der Kanton reagierte zu Beginn der zweiten Welle zögerlich und legte die Verantwortung den einzelnen Gemeinden in die Hände. Diese griffen teilweise weit weniger hart durch als der Kanton während der ersten Welle. «Dieses dezentrale Reagieren aus Angst vor erneuten Einschränkungen und ihren wirtschaftlichen Konsequenzen hat aber nicht funktioniert», sagte Staub. Erst einige Wochen später erliess die kantonale Regierung wieder strengere und zentrale Massnahmen – die Pandemie klang etwas ab.
Doch die zweite Grippewelle hielt die Bevölkerung weiterhin fest im Griff. So kam es im November 1918 bei immer noch hohen Fallzahlen zu Konflikten zwischen Regierung und Arbeiterschaft, die im sogenannten Landesstreik und in Massenansammlungen mündeten. Besonders auch Truppenzusammenzüge in die zentralen Ortschaften trieben die Übertragungen wieder in die Höhe.
Infolge des Landesstreiks widersetzten sich viele Leute den Versammlungseinschränkungen, die daraufhin aufgrund politischen und öffentlichen Drucks wiederum gelockert wurden. «Wir sehen, dass diese Geschehnisse mit einem deutlichen Wiederanstieg der Fallzahlen assoziiert waren und die zweite Welle damit umso länger dauerte», sagte Staub. Eine ähnliche Entwicklung der Ansteckungen befürchte man nun wegen den Coronavirus-Mutationen.
Die Studie zeige, dass die Schweiz aus ihrer Geschichte hätte lernen können, sagte der Mitautor und Berner Epidemiologe Peter Jüni von der kanadischen Universität Toronto, der die wissenschaftliche Leitung des Covid-19-Beirats der Regierung Ontarios innehat. «Aus meiner Aussenperspektive ist es schwer nachvollziehbar, dass in einem wohlorganisierten, hochentwickelten und privilegierten Land wie der Schweiz jeder tausendste Mensch an Covid-19 verstorben und jeder dreihundertste hospitalisiert worden ist.» Der Bundesrat habe im Schweizer Konkordanz-System in dieser Krisensituation leider viel zu zögerlich gehandelt.
Zum einen hätte eine Polarisierung zwischen Vertretern von Politik und Wissenschaft seit mindestens Herbst 2020 zu einer politischen Lähmung geführt. Zum anderen stellt er die seiner Ansicht in der Gesellschaft weitverbreitete Selbstwahrnehmung des Schweizer Sonderfalls in Frage: «Man zahlt schliesslich Steuern in der Schweiz und sollte deswegen auch in Krisensituationen sämtliche Freiheiten geniessen können. Eine Pandemie hält sich aber weder an Landesgrenzen noch an wirtschaftliche Überlegungen.»
Der historische Blick offenbart aber auch Hoffnungsvolles: Im Frühjahr 1919 bäumte sich die Spanische Grippe zwar nochmals zu einer relativen milden, dritten Welle auf, danach verschwand sie. «Die akuten Phasen von Pandemien gehen irgendwann einmal auch wieder vorüber», sagte Staub.
Staub ist es ein Anliegen, die Geschichten vergangener Pandemien aufzuarbeiten und zu erzählen. Denn in der Schweizer Gesellschaft gebe es einen sogenannten «Pandemic Gap». Was Wissenschaftler damit meinen: Keine globale Pandemie durch Atemwegsinfektionen seit der Spanischen Grippe überrollte mehr die Schweiz mit verheerenden Auswirkungen.
Dieses «Luxusproblem» löschte zusammen mit dem Rückgang der Influenza-Sterblichkeitsrate das Pandemie-Katastrophen-Gedächtnis und Risikobewusstsein in der Politik und der breiten Bevölkerung aus. Gerade die Herausforderungen einer zweiten Welle seien ungenügend aufgearbeitet worden, sagte Staub gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Mit seiner Forschung möchte er die eigentlich vorhandene Pandemie-Erfahrung in der Schweiz wieder in das gegenwärtige Bewusstsein rücken. Denn: «Aus vergangenen Pandemien zu lernen und die Erkenntnisse auf den heutigen Kontext anzupassen, hilft uns, gegenwärtige Herausforderungen wie die Covid-19-Pandemie besser zu bewältigen», sagte er. (SDA/bra)
Folie 3 von 7: Beispielsweise wurde nach der ersten Welle zu schnell gelockert – danach rollte eine viel schlimmere Herbstwelle an. Hier: Ein Bericht über Schutzmasken aus dem Jahr 1918
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Beispielsweise wurde nach der ersten Welle zu schnell gelockert – danach rollte eine viel schlimmere Herbstwelle an. Hier: Ein Bericht über Schutzmasken aus dem Jahr 1918.
2020
16. Dezember 2020
Wir leben in einer "ungewohnten" Zeit, der Corona-Pandemie, die bisher weltweit den Menschen ungewohnte Restriktionen und Einschränkungen auferlegt hat. Auf so eine aussergewöhnliche Situation muss es vielfältigste Reaktionen geben! Die Verschwörungsthearetiker zB haben jetzt Hochbetrieb und faseln, manchmal wie im Mittelalter, von dunklen Mächten, die an der Strippe ziehen und die Völker ins Verderben stossen wollen. Antisemitische Behauptungen kommen nach oben und sprechen direkt oder indirekt von einer "jüdischen Weltverschwörung"! Viele der "Querdenker", geben sich besonders "aufgeklärt" und werfen vom Hohen Ross herunter Behauptungen, von denen sie sich nicht abbringen lassen. Diese Behauptungen sind je danach aus den Fingern gezogen, haben kein Fleisch am Knochen. Sie sind einfach fanatische Behauptungen, auf die es in der Regel keine Antwort geben kann. Diskussionen mit diesen Leuten lohnen sich nicht. Für diese Menschen ist die Corona-Pandemie nichts anderes, als eine ganz normale Grippe, die v.a. von politischen Gremien als Vorwand genommen wird, um die grosse Masse der Einwohner zu unterjochen, hinters Licht zu führen, für sich Nutzen daraus zu ziehen.
Ich kenne persönlich solche Leute, die fast missionarisch mit den wildesten Behauptungen um sich werfen und alle diejenigen, die es anderns sehen, als "Unwisser" anprangern. Nicht selten fliegen die Fetzen, es kommt zu extremen Emotionen in solchen Diskussionen von Pro und Kontra rund um die Corona-Pandemie!
Nun sind Impfungen am Horizont aufgetaucht.
Die Diskussionen für oder gegen eine Impfung flammen jetzt ganz besonders auf und werden von gewissen "Impfgegenern" wie religiöse Dogmen verhandelt, abgewiesen.
Der folgende NZZ-Kommentar geht auf die aktuelle Impfdiskussion ein:
NZZ 16. Dezember 2020
Es braucht keine neuen Impfregeln: Wer die eigene Freiwilligkeit zum Dogma macht, befördert andere in den Zwang
Niemand soll zur Impfung gezwungen werden: An diesem Grundsatz darf trotz Corona nicht gerüttelt werden. Doch die Politik muss sich davor hüten, sich den Takt von radikalen Impfgegnern vorgeben zu lassen – und die Freiwilligkeit zum Dogma zu machen.
Daniel Gerny
94 Kommentare
Ergeben nehmen wir massive Eingriffe in unser Leben und in unsere Freiheitsrechte hin. Wir schütteln keine Hände mehr, begeben uns nur noch mit hässlichen Masken in die Stadt, zucken bei jedem Husten zusammen – und verzeichnen trotzdem über 5000 Corona-Tote.
Der Kampf gegen die drohende Wirtschaftskrise verschlingt Milliarden, und schwere Schäden sind unvermeidbar. Das wird zur Belastung für die nachfolgende Generation. Die Demokratie läuft auf Sparflamme, weil kaum mehr Unterschriften gesammelt werden können. Und wir gewöhnen uns daran, dass wir noch während Monaten mit Restriktionen leben müssen. Vor einem Jahr hätten wir uns nie vorstellen können, wie sehr ein Virus Macht über unser Leben ausüben kann.
Die Debatte entgleist schon jetzt
Die Nachricht über den Durchbruch an der Impf-Front bedeutet deshalb mehr als die Aussicht auf die Normalisierung unseres Alltags. Sie steht für die Hoffnung auf die rasche und dauerhafte Rückkehr von Freiheit, Wohlstand und sozialer Sicherheit. Sollten die Impfstoffe halten, was ihre Erfinder versprechen, führt dies früher oder später zum Ende der Corona-Krise. Keine andere Massnahme, über die im letzten Jahr gestritten wurde, hatte nur ansatzweise dieses Potenzial.
Doch die Debatte über die Impfung entgleist noch bevor die ersten Dosen zur Verfügung stehen. Die Stimmung ist gereizt. Radikale Impf-Skeptiker stürmen mit einer Volksinitiative die politische Arena. In Leserbriefen und in den sozialen Netzwerken wird gehässig bis aggressiv attackiert und zurückgebissen, als stehe nicht der Sieg über die Pandemie bevor, sondern die Diktatur.
So wurde die Nationalrätin Ruth Humbel mit einer Flut von bösartigen Mails eingedeckt, nachdem sie in einer Fernsehsendung Vorschläge zur Impfstrategie gemacht hatte. Sie habe die Vernunft verloren und sei nicht mehr tragbar. Humbel wurde zur Ausreise nach China aufgefordert und mit Hitler verglichen. Einer wünschte ihr, dass sie mit Äusserungen «und noch viel schlimmer» bedrängt werde.
Seit Impfungen im 19. Jahrhundert erfunden wurden, lösen sie solche Auseinandersetzungen aus. Die Archive sind voll von Streitereien, wie sie sich jetzt abzeichnen: 1877 beklagte sich der «Schweizerische Verein gegen lmpfzwang» beim Parlament über ein Gesetz, das eine grosse Zahl von Staatsangehörigen zwinge, «ihr eigen Fleisch und Blut» herzugeben, «um es mit einem thierischen Auswurfstoff zu verunreinigen».
Die Schweiz ist nicht China
Das Parlament wurde aufgefordert, «dieses gesetzliche Unrecht nicht mehr länger fortbestehen zu lassen, sondern jeden Bürger vor dieser Vergewaltigung seitens der Mediziner zu schützen». Schliesslich wurden innert 90 Tagen 80 000 Unterschriften gesammelt. Mit 79 Prozent Nein-Stimmen stürzte ein erstes Epidemien-Gesetz an der Urne regelrecht ab. Und die Gerichte mussten sich von da an regelmässig mit Impf-Vorschriften herumschlagen.
Daraus hat die Politik Lehren gezogen. Alle Erfahrungen zeigen, dass strikte Obligatorien Widerstände verstärken und die Impfbereitschaft sinken lassen. Ein allgemeine Impfpflicht steht darum nicht zur Diskussion. Sie wäre politisch nicht mehrheitsfähig, juristisch nicht durchzusetzen und ethisch nicht vertretbar. Das Epidemiengesetz sieht einzig die Möglichkeit eines begrenzten Obligatoriums vor. Ein Impfzwang gegen alle Widerstände ist vielleicht in China oder Russland machbar. In einem Land wie der Schweiz, wo bereits die Maskenpflicht zu einem halben Volksaufstand führt, hat sie nichts zu suchen.
Doch wo endet das sanktionslose Obligatorium – und wo beginnt der subtile Zwang? Die Antwort darauf ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint – und sie betrifft längst nicht nur Corona. Sie hängt zunächst von der Wirkungsweise der Impfung selbst ab. Verhindert diese nur den Ausbruch der Krankheit, aber nicht weitere Ansteckungen, so muss grundsätzlich jeder für sich selber entscheiden, welche Risiken er eingehen will. Auf die Dynamik einer Epidemie hat die Impfquote bei einem solchen Wirkstoff keinen Einfluss.
Idealerweise schützt eine Impfung aber nicht nur die Geimpften vor der Erkrankung, sondern sie verhindert gleichzeitig, dass das Virus weitergegeben wird. So kann die Epidemie gebremst oder gar gestoppt werden. In diesem Fall hat der individuelle Entscheid, ob man sich impfen lässt, Folgen für die gesamte Gesellschaft. Die Pocken konnten nur ausgerottet werden, weil sich genügend Leute impfen liessen. Das Virus konnte sich nicht weiterverbreiten und starb 1980 aus.
Ein Obligatorium für Pflegeangestellte
Bei den vor der Zulassung stehenden Corona-Impfstoffen gilt es zwar als gesichert, dass sie in den meisten Fällen vor dem Ausbruch der Krankheit schützen. Nicht klar ist, ob alle Personen auf das Vakzin ansprechen – oder ob es beispielsweise bei älteren Patienten weniger wirkt. Und unbekannt ist vorerst, ob jemand, der sich impfen lässt, auch nicht mehr ansteckend sein kann.
Wirkt der Impfstoff gegen Covid-19 aber ähnlich wie jener gegen die Pocken, kann längerfristig nicht jeder nur an sich denken. In einem Pflegeheim müssten möglichst viele Angestellte geimpft sein, damit sich nur wenige anstecken können – und der Betrieb virusfrei und reibungslos weiterläuft. Der freie Entscheid der Pflegeangestellten, auf die Impfung zu verzichten, hätte Folgen für andere Mitarbeiter und das ganze Haus. Weil das Vakzin nicht bei hundert Prozent der Geimpften wirkt, wären zudem gewisse Bewohner bedroht, von denen viele zur Risikogruppe gehören. Sie müssten sich von Personal pflegen lassen, das ihnen wegen der fehlenden Impfung gefährlich werden könnte.
Die Behörden oder die Arbeitgeber können deshalb für Angestellte in Spitälern oder Heimen ein Obligatorium erlassen. Doch darf man sich davon nicht zu viel erhoffen: Eine Pflicht könnte allenfalls eine latent vorhandene Impfzögerlichkeit verringern. Wer aber partout keine Impfung will, wird auf seinem Standpunkt beharren. Selbst eine Entlassung von Impfverweigerern würde ausser Personalmangel wenig bringen – und die gegenwärtigen Probleme im Gesundheitswesen gar verschärfen. Ein Impfobligatorium in Spitälern und Heimen sollte darum ein Gedankenspiel bleiben.
Es spricht aber nichts dagegen, wenn Restaurants, Fussballstadien, Fluggesellschaften oder Klubs einen Immunitätsausweis für das Betreten ihrer Lokalität verlangen. Das wäre von Zwang weit entfernt. Das geltende Recht lässt hier vernünftigerweise alle Freiheiten. Das Gegenteil hätte schwerwiegende Beschränkungen der Wirtschaftsfreiheit zur Folge: Es wäre ungerecht, die Impfung freiwillig zu belassen – und gleichzeitig den Wirt dazu zu zwingen, ungeimpfte Gäste in seinem Restaurant zu bewirten.
Eine Welt voller Zwang
Selbst die Etablierung von Impfnachweisen als Teil von behördlich genehmigten Schutzkonzepten darf nicht diskussionslos zum Tabu werden. Paradoxerweise könnte das Beharren auf Impffreiwilligkeit um jeden Preis nämlich drastischere Eingriffe bewirken: Dann, wenn die Verbreitung der Impfung zu gering wäre, um die Pandemie in Schach zu halten – und Wirtschaft und Gesellschaft erneut brutal in die Knie gezwungen würden. Es ist Unsinn, in diesem Zusammenhang von einer drohenden Zweiklassengesellschaft zu sprechen, solange sich alle sicher impfen lassen können. Es verhält sich umgekehrt: Wird Freiwilligkeit einseitig zum Dogma gemacht, landet man erst recht in einer Welt voller Zwang.
Im Streit um die Covid-19-App wurden solche Möglichkeiten fälschlicherweise konsequent ausgeschlossen. Damals liess sich die Politik von den Datenschutz-Nerds widerstandslos über den Tisch ziehen. Das hat der Verbreitung der App geschadet. Jetzt versuchen notorische Impfgegner dasselbe. Für sie ist Corona nur der Anlass, um einen uralten Streit neu anzuzetteln.
In den letzten Jahren haben die Impfgegner Auftrieb erhalten. Ihre Netzwerke sind gut ausgebaut, und ihre Theorien beginnen in aufgeklärten Kreisen zu verfangen. Mit unwissenschaftlichen Argumenten wollen sie nun ihre eigentümliche Weltanschauung zum Gesetz machen und so der ganzen Schweiz aufs Auge drücken. Das Ziel ist es, Impfkampagnen generell zu erschweren. Das hätte Folgen weit über Corona hinaus, für Impfungen aller Art. Darauf darf sich die Politik nicht einlassen.
Für den Erfolg der Corona-Impfstrategie wird das juristische Regelwerk ohnehin kaum ausschlaggebend sein. Es gibt keinen Grund, neue Vorschriften zu erlassen. Entscheidend ist, ob es gelingt, auf die Bedenken in der Bevölkerung einzugehen und sie zu zerstreuen. Viele Ängste sind ausserhalb der Impfskeptiker-Szene verbreitet. Nicht alle sind zum Vornherein unbegründet. Der Informationsbedarf ist hoch – auch weil gegen das Coronavirus neuartige mRNA-basierte Vakzine zum Einsatz kommen, mit denen niemand vertraut ist. Ein Kommunikationsdebakel wie im Krisenmanagement der letzten Wochen muss unbedingt verhindert werden.
Gelingt dies und erweist sich die Covid-19-Impfung als zuverlässig, wird die Akzeptanz sukzessive zunehmen – und die hitzige Debatte über Impfobligatorien und Immunitätsausweise wird schon bald eine Fussnote aus dem traurigen Corona-Winter sein.
94 Kommentare
Karl Astor
vor etwa 6 Stunden
32 Empfehlungen
Als Weitgereister besitze ich einen internationalen WHO-Impfausweis, wo so Sachen drinstehen, wie Tetanus, Gelbfieber, Polio usw. Dies sind Einreisebedingungen insbesondere in fieberverseuchten Tropenländern. Nun wird wohl zusätzlich auch SARS-CoV-2 dabei sein. Bestimmt wird man in Kloten kaum ein Flugzeug betreten können, ohne nebst Pass oder ID auch den ockergelben Impfausweis vorzuzeigen und sei es auch bloss für den Kurzurlaub am Mittelmeer. Die Bedingungen dazu macht nicht die Schweiz. In meinem Bekanntenkreis wollen aber einige erst mal abwarten und sehen, ob etwa weltweit Millionen von Geimpften nach einigen Monaten umfallen und sich erst dann den Saft einverleiben. Da brauchen sich also unsere Politiker nicht den Kopf darüber zu zerbrechen – die Umstände werden es wohl von alleine richten.
M. H.
vor etwa 3 Stunden
29 Empfehlungen
Impfgegner*innen sind Trittbrettfahrer: Sie vertrauen darauf, dass alle anderen sich impfen lassen, damit sie selber und ihre Kinder geschützt sind. Das ist in höchstem Maße unsolidarisch und letztlich sogar gefährlich.
KOMMENTAR
Corona: Für die Impfung, aber gegen eine Impfpflicht
Je näher eine Impfung gegen das Coronavirus rückt, desto vernehmlicher werden die Rufe nach einer staatlich verordneten Impfpflicht. Doch die Bundesregierung sperrt sich dagegen – zu Recht.
Anna Schneider, Berlin
Kaum eine medizinische Errungenschaft hat so stark zur Gesundheitsvorsorge beigetragen wie die Schutzimpfung. Dennoch zögern nicht nur notorische Corona-Zweifler, sich impfen zu lassen. Die Pandemie lässt alte Ängste wieder aufleben.
Daniel Gerny, Erich Aschwanden
1. November 2020
In der heutigen Welt gibt es nach wie vor einige brutale und blutrünstige Despoten, die in ihren Ländern ein Schreckensregime führen! In den Drittweltländern, v.a. in Afrika, aber nicht nur dort, hört man immer wieder von ganz schlimmen Kerlen, die es an die Staatsspitze ihrer Länder geschafft haben und sich offenbar Gott ähnlich fühlen und brutal und blutig über Leben und Tod ihrer Untergebenen verfügen.
Im heutigen Russland ist seit vielen Jahren Präsident Putin aktiv und herrscht autoritär - ein ehemaliger KGB-Funktionär im ehemaligen Sowjetregime! Aber lange vor ihm beherrschte S t a l i n während Jahrzehnten das riesige Sowjetreich und beförderte unter seinem Regime Millionen von Unschuldigen ins Jenseits. Viele unter ihnen waren überzeugte Sozialisten, Kommunisten, die glaubten, dass diese Weltanschauung das Ideal für die ganze Menschheit sei. Früher oder später mussten sie dann aber feststellen, dass nach der Oktober-Revolution schlimme Despoten die hehren Ziele des Sozialismus mit Füssen traten und Schlimmes über das Volk brachten. Das Phänomen des Machtmissbrauchs grassierte auf ganz schlimme Art in der Führungsgilde der Sowjetunion. Der Schlimmste war allerdings Joseph Stalin, der ganz gut in Sachen Brutalität und Mord an Millionen von eigenen Leuten mit Hitler vergleichbar ist. Stalin ist verantwortlich für Abermillionen Unschuldiger, die er und seine Helfershelfer auf alle Arten quälten und umbrachten.
Der folgende Artikel beschreibt das Schicksal einer gläubigen Kommunistin (mit Scheizer Pass), Elinor Lipper, die an echten Sozialismus glaubte. Und trotzdem wurde sie - wie Millionen anderer - denunziert und in den Gulag verbannt, drangsaliert und konnte nur durch Zufall überhaupt überleben. Sie berichtet als Zeugin von Stalins Terror, wie sie ihre Zeit im Gulag unter Angst und Schrecken, Hungersnöten und jeder Art von Qualen überleben konnte. Viele Menschen wie sie, aufrechte Sozialisten, erlitten das gleiche Schicksal!
NZZ online 29. November 2020
Wer vom «Archipel Gulag» spricht, denkt heute vor allem an Alexander Solschenizyn. Dabei hat die Schweizerin Elinor Lipper lange vor dem sowjetischen Erfolgsautor die millionenfachen Verbrechen der Kommunisten bezeugt.
Lucien Scherrer
Wer hier auftritt, braucht Mut. Denn was im Dezember 1950 im Pariser Justizpalast ansteht, ist kein gewöhnlicher Prozess. Zweihundert Journalisten aus der ganzen Welt sind angereist, fünfzig Zeugen angekündigt, im Gerichtssaal drängen sich Gendarmen, Diplomaten, Zuschauer und in schwarze Roben gekleidete Anwälte, die mit Zwischenrufen, Beschimpfungen und Anträgen immer wieder für tumultartige Szenen sorgen.
Elinor Lipper wirkt denn auch etwas schüchtern, als sie am 8. Dezember in den Zeugenstand tritt. Doch was sie über Terror, Verhaftungen und Zwangsarbeit in Sowjetrussland berichtet, lässt kaum jemanden unberührt. «Da drüben», so erzählt sie, «arbeitet man zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, bei Temperaturen von minus 50 Grad; in den Goldminen liegt die Sterblichkeitsrate bei 30 Prozent im Jahr. Die meisten sterben an Unterernährung.»
Lügen, die Millionen glauben wollen
Für die kommunistischen Anwälte im Saal sind diese Aussagen eine derartige Frechheit, dass sie beim Richter intervenieren, um der jungen Schweizerin das Wort entziehen zu lassen. Es gehe doch nicht an, die Sowjetunion zu verunglimpfen, dieses Land der Freiheit, das nun wahrlich nichts zu verbergen habe!
Tatsächlich ist Elinor Lipper nach Paris gereist, um die Weltöffentlichkeit über die wahren Zustände in der kommunistischen Grossmacht aufzuklären. Sie ist die wichtigste Zeugin in einem Verleumdungsprozess, der sich um eine aus heutiger Sicht absurde Frage dreht: Darf man Leute, die auf systematische Verbrechen in der Sowjetunion hinweisen, als Lügner beschimpfen, wie das die kommunistische Presse Frankreichs gerne tut?
Letztlich geht es in Paris also um Fragen von weltpolitischer Bedeutung: Ist Josef Stalins proletarische Diktatur wirklich die Verkörperung des Fortschritts, des Friedens und der Menschlichkeit, wie das ihre internationale Anhängerschaft behauptet? Oder geht es um ein Terrorregime, das Millionen Menschen versklavt und getötet hat?
Dass Letzteres zutrifft, ist heute dank zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten belegt. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Debatte jedoch völlig offen. Zumal sich Millionen Menschen ihre Illusionen über das vermeintliche Arbeiterparadies im Osten nicht nehmen lassen. Dies besonders in Frankreich, wo der finanziell eng mit der Sowjetunion verbandelte, von Intellektuellen, Nobelpreisträgern und Künstlern unterstützte Parti communiste français (PCF) unentwegt behauptet, angebliche Terroropfer seien bloss Faschisten und Verräter.
Obwohl sie es als eine der ersten Überlebenden gewagt hat, diesen Lügen öffentlich entgegenzutreten, ist Elinor Lipper fast völlig in Vergessenheit geraten. Das ist umso erstaunlicher, als sie den stalinistischen Terror nicht nur gerichtlich bezeugt, sondern auch literarisch verarbeitet hat. Als sie 1950 in Paris auftritt, hat sie in Zürich gerade ihren Erlebnisbericht «Elf Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern» veröffentlicht. In sechzehn Sprachen übersetzt, ist das Buch ein internationaler Erfolg – und das 23 Jahre bevor Alexander Solschenizyn mit seinem «Archipel Gulag» das vermeintliche Standardwerk zum Thema veröffentlicht.
Doch wie kommt es, dass eine Schweizerin zur Jahrhundertzeugin gegen den totalitären Terror wurde? Und weshalb hat sie in Zeitungen, Geschichtsbüchern und populären Abhandlungen über starke Frauen nicht längst jenen Platz erhalten, der ihr eigentlich gebühren würde?
Flucht vor der Gestapo
Die Geschichte von Elinor Lipper führt in die tiefsten Abgründe des 20. Jahrhunderts. Als sie am 5. Juli 1912 in Brüssel zur Welt kommt, regiert in Russland ein abergläubiger Zar, und «Stalin» ist der Deckname eines schnauzbärtigen Revolutionärs, den noch niemand kennt. Ihr Vater ist jüdischer Deutscher, die Mutter Niederländerin. Nach der Scheidung zieht der Vater in die Schweiz, Elinor verbringt einen Grossteil ihrer Jugend bei ihrer Mutter in Den Haag.
Die junge Frau wächst in einem bildungsbürgerlichen, kosmopolitischen Milieu auf, die soziale Ungerechtigkeit jener Zeit beschäftigt sie schon früh. Politisiert wird sie in Berlin, wo sie ab 1931 Medizin studiert; es ist die Zeit der Massenarbeitslosigkeit, der Saalschlachten und des Terrors von Hitlers SA-Schlägern. Wie viele Intellektuelle und junge Antifaschisten erblickt die Studentin in der 1922 gegründeten Sowjetunion ein Land der Hoffnung, in dem die Fähigsten regieren, das Volk geliebt wird und es kaum noch Verbrechen gibt.
«Mir schien es», so erklärt sie Jahre später vor Gericht in Paris, «als seien die Kommunisten die Einzigen, die gegen Hitler kämpften.» Ihr selber gelingt nach Hitlers Machtübernahme im letzten Moment die Flucht. Nachdem sie die Polizei wegen der Verbreitung marxistischer Literatur verhaftet hat, lässt sie ein Kommissar mit dem dringenden Rat frei, sofort die Koffer zu packen.
Ein schrecklicher Irrtum
So setzt sie ihr Studium in der Schweiz fort, daneben arbeitet sie offiziell als Buchhändlerin und angehende Heilgymnastikerin. Als überzeugte Kommunistin ist sie insgeheim auch für die Kommunistische Internationale (Komintern) tätig. Dieses von Moskau gesteuerte Netzwerk gibt den kommunistischen Parteien in allen Ländern der Welt den Kurs vor, koordiniert klandestine Aktionen, verschiebt Waffen und Geld, oder es hilft Genossen in Not.
Ihre Anführer, unter ihnen der Schweizer Fritz Platten, fallen später fast alle den stalinistischen Säuberungen und Schauprozessen zum Opfer. Auch Elinor Lippers Weg führt über die Komintern in die Falle, nach Moskau. Um drohende Schwierigkeiten mit den Schweizer Behörden zu umgehen, arrangieren Komintern-Leute 1935 eine Scheinehe zwischen der jungen Aktivistin und dem Zürcher KP-Sympathisanten Konrad Vetterli.
Nunmehr mit dem Schweizer Pass in der Tasche reist sie 1937 nach Moskau aus, um als Redaktorin im Verlag für ausländische Literatur zu arbeiten. Obwohl sie ihr Onkel eindringlich vor der Situation in Russland warnt, ist sie immer noch überzeugt davon, dass in der Sowjetunion nur Regimegegner und richtige Kriminelle verhaftet werden. Ein Irrtum, dem Tausende Kommunisten erliegen.
Denn 1937 ist der grosse Terror in vollem Gang. Nach katastrophalen Hungersnöten und anderen Fehlschlägen braucht die Partei Stalins massenweise «Verräter», «Spione», «Saboteure» und «Volksfeinde», die für all das verantwortlich sein sollen. Von 1929 bis 1953 (dem Todesjahr Stalins) verschwinden 20 bis 30 Millionen Bürger in Gefängnissen und Lagern, Millionen kehren nicht zurück.
Nächtlicher Besuch der Geheimpolizei
Treffen kann es jeden, vom Weggefährten Lenins über den hochdekorierten Offizier bis zur Fabrikarbeiterin. Denunziationen, Selbstanklagen und Verleumdungen führen zu immer neuen Verhaftungen. Durch die Säuberungen schafft sich die sowjetische Führung nebenbei ein riesiges Heer von Zwangsarbeitern, die unter widrigsten Bedingungen Gold schürfen, Dämme, Eisenbahntrassees und Strassen bauen oder Bäume fällen für die Holzproduktion.
Gemäss neusten Schätzungen lässt der Geheimdienst NKWD allein zwischen Sommer 1937 und November 1938 rund 380 000 Menschen erschiessen und weitere 390 000 in Arbeitslager verschicken. Ausländer, Juden und «Kosmopoliten» spielen in den Verschwörungstheorien der Parteiführung und ihrer Handlanger eine besonders wichtige Rolle.
Im Moskauer Hotel Lux, in dem auch Elinor Lipper wohnt, holen Geheimdienstleute im Sommer 1937 jede Nacht «Verdächtige» ab, versiegeln ihre Zimmer und lassen die anderen Gäste im bangen Warten zurück, wer wohl als Nächstes an der Reihe sein würde. In ihrem Buch beschreibt Lipper die Stimmung im Hotel so: «Sie schlossen sich ab voneinander. Sie beobachteten sich gegenseitig lauernd und misstrauisch. Wieso hat mich der Parteisekretär so merkwürdig angesehen? Sie waren unschuldig und wälzten sich schlaflos in den Nächten. Bis es geschah.»
Sie selber trifft es in der Nacht des 26. Juli 1937. «Ich fuhr empor. Hatte es mir geträumt, oder klopfte jemand? Da – noch einmal, zweimal, dreimal – lautes, hartes, freches Klopfen. Es dröhnt, es donnert, das ganze Haus muss darüber aufwachen. Eine männliche Stimme: «Aufmachen!»
Die Herrschaft der Kriminellen
Im Glauben, dass alles nur ein Missverständnis sei, wird sie von der Geheimpolizei in die berüchtigte Lubjanka und schliesslich ins Gefängnis Butyrka verschleppt. In dieser Verhör- und Hinrichtungsstätte vegetieren Tausende Häftlinge in überfüllten Zellen dahin, geplagt von Läusen und belauscht von Spitzeln, bis man sie mit Schlafentzug oder nötigenfalls mit Schlägen und Folter dazu bringt, die absurdesten Geständnisse zu unterschreiben.
Elinor Lipper verbringt vierzehn Monate in Untersuchungshaft; nach drei Verhören droht ihr der Untersuchungsrichter mit Kriegsgericht und dem Urteil «Tod durch Erschiessen». Schliesslich reduziert die Geheimdienstjustiz das Verdikt am 8. September 1938 auf fünf Jahre Lagerhaft, wegen «konterrevolutionärer Tätigkeit». Und so wird die 26-jährige Frau zusammen mit anderen Verurteilten in Viehwagen und per Schiff nach Ostsibirien deportiert.
Dort, in den Weiten des Kolyma-Gebietes, hungern Hunderttausende in «Besserungsarbeitslagern», wie die von Lenin initiierten Gulags offiziell heissen. «In aller Augen stand die Frage: Warum? Und keiner wusste die Antwort. Wenn im Gefängnis noch ein erschrockenes Staunen über den Gesichtern gelegen hatte, die ungläubige Verwunderung des Menschen über den ihn peinigenden Menschen, über schuldlos erduldete Schmach und Grausamkeit, so konnte man jetzt etwas anderes lesen: Furcht und Verbitterung.»
Angetrieben von Wachen und Lagerkommandanten, müssen die gefangenen Männer in Kolyma Gold schürfen und die Frauen schwerste Waldarbeiten verrichten – zwölf Stunden am Tag, bei Temperaturen von bis zu minus 60 Grad. Wer nicht genug Holz fällt, erhält weniger Brot. Hunger, Kälte, Schläge, Demütigungen, Massenerschiessungen und der Anblick von nackten Leichen gehören laut Historikern zum Lageralltag in Sibirien.
«Politische» Häftlinge stehen in der Hackordnung ganz unten, weit unter den Kriminellen, die ihre Leidensgenossen bestehlen, misshandeln und vergewaltigen. Elinor Lipper beschreibt das Grauen in ihrem Buch nüchtern und mit feinem Sarkasmus – etwa, indem sie wie später Solschenizyn aus der offiziell fortschrittlichen Verfassung der Sowjetunion zitiert, die den Menschen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz verspricht. Oder indem sie die Gesetzesparagrafen zitiert, deretwegen die Menschen in den Lagern leiden.
So reicht es für eine Verurteilung aus, unter Spionageverdacht zu stehen. Dasselbe gilt für Leute, die das Pech haben, «Familienmitglied eines Landesverräters» zu sein. Und Kinder, die das zwölfte Lebensjahr erreicht haben, dürfen im offiziell fortschrittlichsten Land der Welt sogar zum Tod verurteilt werden.
An die Nazis ausgeliefert
Der Hauptanspruch von Elinor Lippers Buch ist es, den Millionen Unschuldigen eine Stimme zu geben, «denen man die Stimme und die Freiheit und das Leben genommen hat». Da ist zum Beispiel eine Babuschka, die als vermeintliche Anhängerin von Stalins Rivalen Leo Trotzki verurteilt worden ist, obwohl sie das Wort «Trotzkismus» nicht einmal buchstabieren kann. Oder eine Mutter, die sich öffentlich von ihrem verhafteten Sohn losgesagt hat, um nicht selber verhaftet zu werden. Im Lager begegnet sie ihrem Sohn wieder. «Ich habe keine Mutter mehr» – das ist alles, was er zu ihr sagt.
Andere Frauen sterben, weil Josef Stalin und Adolf Hitler im August 1939 einen Freundschaftspakt besiegeln, der den Nazis den ersehnten Krieg erst ermöglicht. Im Zuge dieser neuen Freundschaft liefern die Russen der Gestapo Dutzende deutsche Kommunisten aus, die einst vor Hitler in die Sowjetunion geflüchtet waren. Einige kommen jedoch gar nicht erst in Nazideutschland an: Die ehemalige Sekretärin des deutschen Kommunistenführers Ernst Thälmann etwa wird auf ein Schiff verfrachtet und während eines Sturms über Bord gespült.
Wie es auf den Gefangenenschiffen zugeht, weiss Elinor Lipper aus eigener Erfahrung: «Wir lagen zusammengepfercht auf dem teerbeschmierten Boden des Laderaums, während sich die Kriminellen auf den Brettern breitmachten. Wenn wir es nur wagten, den Kopf herauszustrecken, hagelte es von oben Heringsköpfe und Eingeweide. Die Seekranken erbrachen sich von oben herunter.»
Über ihr eigenes Schicksal berichtet die Autorin zurückhaltend. Das liegt zum einen daran, dass sie sich nicht in den Vordergrund stellen will. Zum anderen erlebt sie im Lager Sachen, über die sie auch nach der Haft nur mit ihren nächsten Angehörigen sprechen kann.
Zweimal stirbt sie in Sibirien beinahe an Hunger und Erschöpfung. Dass sie überlebt, ist auch dem Umstand zu verdanken, dass sie als ehemalige Medizinstudentin in Krankenstationen arbeiten kann. «Ohne diesen Glücksfall», so erklärt sie später gegenüber der Presse, «ist es sehr fraglich, ob ich die Freiheit je wiedergesehen hätte.»
Kraft gibt ihr auch eine Liebesbeziehung mit einem gefangenen Arzt. 1947, noch in Gefangenschaft, bringt sie eine Tochter, Genia, zur Welt. Die ersten Monate verbringen Mutter und Kind in Durchgangslagern und verschmutzten Viehwagen. Denn 1942 ist Elinor Lippers fünfjährige Haftstrafe eigentlich verbüsst. Da die Sowjetunion während des Krieges keine Gefangenen entlässt, muss sie jedoch bis im Herbst 1946 in der Kolyma ausharren. Dann schickt man sie mit ihrer Tochter auf eine monatelange Odyssee, von einem Transitgefängnis zum nächsten Durchgangslager, vom Kaukasus bis nach Brest-Litowsk.
Weil die diplomatischen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion nur schleppend vorangehen, endet der Albtraum erst im Juni 1948, als Mutter und Tochter in Frankfurt an der Oder ein amerikanisches Flugzeug besteigen, das sie zurück in die Schweiz fliegt.
Träume vom Lager
Der Weg zurück in die Zivilisation ist für Opfer des stalinistischen Terrors jedoch ähnlich schwierig wie für die Überlebenden der Hitler-Barbarei. Kurz nach ihrer Rückkehr in die Schweiz erleidet die nunmehr 36-jährige Frau einen Nervenzusammenbruch, sechs Monate leidet sie an Gleichgewichtsstörungen, Gehen oder Stehen ist ihr kaum möglich.
«Sich wieder in die Freiheit zurück zu gewöhnen, wie sie die westliche Welt kennt, ist eine eigenartige Sache», sagt sie 1950 in einem Interview mit einem Ringier-Journalisten. «In meinem Unterbewusstsein, in den Schlafträumen leben die Lagererlebnisse immer noch weiter.»
Neben den traumatischen Erinnerungen müssen die ehemaligen Häftlinge mit dem Umstand leben, dass kaum jemand ihre Geschichten hören will. Schlimmer noch: Die Kommunisten fühlen sich nach dem Zweiten Weltkrieg derart überlegen und siegesgewiss, dass sie glauben, alle Zeugen des sowjetischen Terrors als Lügner und Faschisten diffamieren zu dürfen.
Möglich ist das, weil Stalins Sowjetunion in der Nachkriegszeit ein heute kaum vorstellbares Renommee geniesst, in Westeuropa und sogar in den USA. Ihr Sieg über Hitler, der 20 bis 27 Millionen Sowjetbürger das Leben gekostet hat, überstrahlt fast alles – die antisemitisch gefärbten Schauprozesse der Jahre 1936 bis 1938, den Hitler-Stalin-Pakt, die Unterwerfung Ostmitteleuropas und den Gulag, der im Westen ohnehin nie auf grosses Interesse gestossen ist.
Selbst in der Schweiz sind die Kommunisten plötzlich salonfähig, in Genf wird die neu formierte Partei der Arbeit gar zur stärksten Partei. In Italien scheint eine Machtübernahme der Stalinisten möglich, ebenso in Frankreich. Dort inszeniert sich der PCF unter dem kultisch verehrten Stalin-Freund Maurice Thorez als Verkörperung der Résistance, bewundert von intellektuellen Zirkeln und Salons, gewählt von fast 30 Prozent der Urnengänger.
Der Dichter Pablo Neruda reimt in diesem geistigen Klima Verse über die «Menschen Stalins», Pablo Picasso widmet dem «Genius der Menschheit» schlichte Skizzen zum Geburtstag (Unterschrift: «Auf Deine Gesundheit!»), und Jean-Paul Sartre verkündet, dass alle Antikommunisten Hunde seien, also auch sämtliche Kritiker Stalins. Denn Kommunisten kritisieren, das dürfen in seiner Weltsicht nur Kommunisten.
Der Prozess um die Konzentrationslager
Das Wort «Gulag» auch nur auszusprechen, ist da eine Provokation. Der sowjetische Ex-Diplomat Viktor Krawtschenko etwa wird 1947 von der kommunistischen Presse Frankreichs als Agent, Vaterlandsverräter und Lügner bezeichnet, nachdem er die sowjetische Terrorherrschaft in seinem Bericht «Ich wählte die Freiheit» entlarvt hat. Krawtschenko gewinnt 1949 zwar einen Verleumdungsprozess gegen die PCF-nahe Zeitung «Les Lettres françaises». Aber das hindert die Kommunisten nicht daran, mit allen Mitteln ihre Deutungshoheit zu verteidigen.
Als der französische Schriftsteller, antifaschistische Widerstandskämpfer und Buchenwald-Überlebende David Rousset 1949 einen internationalen Appell lanciert, alle KZ-Systeme auf der Welt, also auch das sowjetische Lagersystem, untersuchen zu lassen, bezeichnen ihn die «Lettres françaises» sofort als «Fälscher».
Rousset reagiert mit einer Verleumdungsklage, und so kommt es im Dezember 1950 in Paris zu jenem neuen «Prozess der russischen Konzentrationslager», an dem Elinor Lipper eine Hauptrolle spielt. Dass sie diese Belastung überhaupt auf sich nimmt, hat mit ihrem Mut und einem Gelübde zu tun: Noch in Haft verspricht sie ihren Leidensgenossinnen, nichts zu vergessen – und Zeugnis für alle Verdammten abzulegen, egal, wie gross ihr Bedürfnis nach Ruhe und Erholung auch sein möge.
Der Druck, der auf den Zeugen lastet, ist enorm. Wer schweigt, droht die Selbstachtung zu verlieren, weil er all jene im Stich lässt, die immer noch inhaftiert sind. Wer dagegen öffentlich über den Terror spricht, legt sich mit einer Grossmacht an, die auf ein Heer von Gläubigen, Spionen und Verleumdern zählen kann. Stalin ist 1950 kein fernes Phantom, sondern ein Diktator auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Als bedürfte es dazu eines Beweises, läuft in den Pariser Kinos kurz vor dem Prozess ein sowjetischer Propagandafilm mit dem Titel «Der Gesang Sibiriens». Dieser preist das Reich der Strafgefangenen als eine Art lustiges Schweizerland hinter dem Ural – und wie Elinor Lipper im Kino selber feststellen muss, quittieren das gutsituierte, Glace essende Franzosen auch noch mit Applaus.
Obwohl sie von Versagensängsten geplagt wird, findet sie am 8. Dezember 1950 die Kraft, in den Zeugenstand zu treten. Die Verhandlungen, so schreibt die NZZ am 10. Dezember, kämen wegen Obstruktionen und Störungen der kommunistischen Anwälte nur langsam voran, die Zeugen würden regelrecht tyrannisiert. «Dieser gewaltige Druck erreichte den Höhepunkt, als die Zeugin Elenor Lippert (sic!) den Saal betrat.»
Tatsächlich unternehmen die Anwälte der «Lettres françaises» alles, um die Schweizerin zu irritieren oder gar als eigentliche Täterin hinzustellen. Bei den Richtern verfängt die Verleumdungstaktik jedoch nicht, und die Redaktoren der «Lettres françaises» müssen erneut Schadenersatz leisten, diesmal an David Rousset.
Einmal KGB, immer KGB
Trotzdem sind die Kommunisten die heimlichen Gewinner im Streit um die «Gulag-Lüge». Denn eine nachhaltige Beschäftigung mit dem Thema bleibt in der Nachkriegszeit weitgehend aus. Sartre, der wegen des Gulag-Streits theatralisch mit seinem Gefährten Rousset bricht, etabliert sich erfolgreich als moralisches Gewissen, obwohl sein Beitrag zur Täuschung und Vertuschung nicht zu unterschätzen ist.
Erst nachdem Alexander Solschenizyn 1973 seinen «Archipel Gulag» veröffentlicht hat, finden die Verbrechen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Diktaturen einen gewissen Platz im kollektiven Bewusstsein. Nun gerät auch der moskautreue PCF in Erklärungsnöte – und erleidet einen Imageschaden, von dem er sich nie wieder erholt.
Elinor Lipper hat sich zu jener Zeit schon lange aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie heiratet und lebt mit ihrer Familie im Tessin. Alte Fotos zeigen ein scheinbar unbeschwertes Leben in den 1950er und 1960er Jahren, Elinor Lipper vor dem Hotel Schatzalp in Davos, auf Passfahrt mit einem schwarzen Fiat, mit Zigarette in gemütlicher Tischrunde. Angehörige erinnern sich an eine charmante, liebevolle Frau, die nach elf Jahren Haft endlich leben wollte – ohne Hass und Bitterkeit auf ihre einstigen Peiniger.
Als freier Geist will sie sich von niemandem instrumentalisieren lassen, auch nicht von bürgerlichen Antikommunisten, die im Kalten Krieg jeden enttäuschten Anhänger der Sowjetunion als Trophäe betrachten. So nimmt sie im Juni 1950 zwar am insgeheim von der CIA finanzierten «Kongress für kulturelle Freiheit» im zerbombten Berlin teil, wo sie sich mit anderen ehemals kommunistischen Autoren wie Arthur Koestler («Sonnenfinsternis») und Ignazio Silone («Fontamara») austauscht.
Auf einer Vortragstournee durch die USA wird ihr ein Jahr später jedoch bewusst, dass der Antikommunismus unter der Ägide des Senators Joseph McCarthy in eine denunziatorische Hexenjagd ausartet. Gerade weil sie weiter an den Sozialismus glaubt, will sie sich nicht für persönliche und politische Zwecke einspannen lassen.
«Auch heute scheint mir die sozialistische Idee die vernünftigste Lösung der sozialen Probleme und die einzige Garantie zur Verhütung von Kriegen in der Zukunft zu sein», schreibt sie in ihrem Buch, «aber die Sowjetunion hat diese Idee vor der ganzen Welt kompromittiert, in Blut ertränkt.»
Eine offizielle Entschuldigung hat sie von den russischen Behörden nie erhalten. Dafür muss sie noch im hohen Alter zur Kenntnis nehmen, dass die russische Regierung offensichtlich bestrebt ist, Stalin zu rehabilitieren, die Archive zu schliessen und den «Archipel Gulag» aus dem Gedächtnis der Bevölkerung zu tilgen. Über Wladimir Putin pflegte sie zu sagen: «Einmal KGB, immer KGB.»
In der Todesanzeige, die ihre Angehörigen 2008 in der «Tribune de Genève» aufsetzen lassen, heisst es: «Unfreiwillige Zeugin der Turbulenzen eines Jahrhunderts, zeugen ihr Mut und ihre Liebe von der unerschütterlichen Freiheit ihrer Seele.»
1. November 2020
Die nun seit März geltenden Einschränkungen aller Art rund um die Corona-Pandemie machen uns allen - ohne Unterschied - viel zu schaffen. Es ist ganz normal, dass da jeder Einzelne auf seine Art ganz verschieden umgeht. Die einen fügen sich eigentlich problemlos ein, andere hinterfragen die verordneten Einschränkungen der Verantwortlichen auf eine "gesunde" Art. Aber da gibt es auch noch eine Gruppe, die reagieren darauf mit einer speziellen Aggression und Destruktivität, Verschwörungstendenzen inklusive. Diese dritte Gruppe widerspricht sich nicht selten in ihren Argumentationen.
Sarah Serafini
Reisequarantäne: Bund hat um den geringen Effekt gewusst
Sie schimpfen über die «Mainstream-Medien» und informieren sich lieber auf den eigenen Kanälen.
>>> Hier geht es zu unserem Corona-Liveticker
Corona ist harmlos, andererseits ...
Corona ist harmlos, weil es nicht tödlicher ist als Grippe. Andererseits ist die Grippe eine von den Coronahysterikern totgeschwiegene Killerseuche, die jedes Jahr unbeachtet Millionen von Menschen dahinraff und wütet wie ein Weltkrieg.
Wir sind gesund, andererseits ...
Wer ein gesundes Immunsystem hat, braucht niemals irgendeine Art von medizinischer Behandlung, weil sein Körper mit jedem Eindringling spielend fertig wird. Andererseits werden an den Nebenwirkungen der künftigen Coronaimpfungen Millionen Menschen sterben, weil ihr Körper mit den eingedrungenen Stoffen nicht fertig wird.
Niemand stirbt am Virus, andererseits...
Die Sterblichkeit von Covid-19 beträgt in Wirklichkeit quasi null, weil die Dunkelziffer der Infektionen gigantisch ist und 80 Prozent der Bevölkerung sowieso schon immunisiert sind. Andererseits sind 80 Prozent aller angeblichen Infektionen falsch Positive durch unbrauchbare PCR-Tests, sodass in Wirklichkeit noch fast gar niemand infiziert wurde.
Es gab nie eine Übersterblichkeit, andererseits ...
Es ist nicht wahr, dass es jemals eine Übersterblichkeit durch Covid-19 gab. Andererseits ist die Übersterblichkeit durch Covid-19 nicht schlimm, weil an Krebs und Herzinfarkt mehr Menschen sterben.
Meine Freiheit wird beschränkt, andererseits ...
Dass der Bundesrat zur Eindämmung der Seuche von mir verlangt, täglich zehn Minuten im Laden eine Maske zu tragen, ist eine nicht hinnehmbare Einschränkung meiner persönlichen Freiheit. Damit ich mich solchen Zwängen nicht beugen muss, schlage ich vor, stattdessen die Risikogruppen zu isolieren, also alle über siebzig oder mit chronischen Krankheiten die nächsten zwei Jahre wegzusperren.
Die Wirtschaftsbosse gewinnen, andererseits ...
Einerseits muss man skandalisieren, dass das Kapital die Fake-Pandemie inszeniert hat, um seine Profite zu steigern. Andererseits ist die Fake-Pandemie deswegen schlimm, weil sie das BIP einstürzen lässt, also die Profite des Kapitals verringert.
Masken bringen nichts, andererseits ...
Einerseits sind Masken wirkungslos, weil die Luft sie ganz ungehindert durchquert. Andererseits sind Masken hochgefährlich, weil sie die Luft so wirksam blockieren, dass man leicht ersticken kann. (sar)
30. Oktober 2020
Sind die Verantwortlichen in der Schweiz wirklich sorglos, selbstüberschätzend, wie gewisse Kommentatoren im europäischen Ausland behaupten?
Blick 30.10.2020
Explodierende Corona-Infektionszahlen: Ausland wundert sich über «schön lockere und sorglose» Schweizer
Alle über 85-Jährigen einfach sterben lassen?
Schon vor den am Mittwoch neu ergriffenen Corona-Massnahmen des Bundesrats schrieb die «Süddeutsche Zeitung» von «misslichen Entscheidungen» in der Schweiz. Das Land zahle jetzt den «Preis der Entspannung». Zu Beginn der Pandemie sei aufgefallen, wie ruhig und besonnen in der Schweiz mit dem Virus umgegangen wurde – und wie schnell wieder Normalbetrieb herrschte. Man habe zu stark nur auf Eigenverantwortung gesetzt, wird Christian Althaus zitiert, Taskforce-Epidemiologe des Bundes: «Damit hat man es dem Virus bewusst erlaubt, sich langsam über die ganze Schweiz zu verbreiten.»
Deutliche Worte wählt die «Zeit». Ein paar Monate nach dem Bonmot von Gesundheitsminister Alain Berset (48): «Wir können Corona», sei in der Schweiz alles anders. Das Wochenmagazin geht mit dem Bundesrat hart ins Gericht. Während sich andere Länder in diesem Herbst mit harten Massnahmen überbieten, schreckten die meisten Kantonsregierungen in der Deutschschweiz vor eben diesen zurück.
«Realitätsfremde Selbstüberschätzung»
«Uns passiert schon nichts. Kommt schon gut», hätten sich Regierung und Behörden gesagt. Das bundesrätliche Selbstlob sei zum Mantra geworden. «Das Resultat dieses stetigen Sich-selber-auf-die-Schultern-Klopfens, wie so oft in der Schweiz: realitätsfremde Selbstüberschätzung.»
Der «Südkurier» fragt: «Kann die Schweiz die zweite Corona-Welle noch unter Kontrolle bringen?», und ob «vom Bund zu wenig Regeln» gekommen seien. Die Zeitung spricht von «lascheren» Massnahmen als etwa in Deutschland. «Ob die Massnahmen ausreichen, um die rasante Ausbreitung abzufangen, muss sich zeigen.»
Die «FAZ» meldet, gerade in den Schweizer Bergen sei «das Zähneklappern gross». Die Regierung in Bern habe keinen allgemeinen Lockdown geplant. Dieser würde insbesondere die «Bergregionen ins Mark treffen». Obwohl die Schweiz einen Teil-Lockdown wie in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich aufschiebe, viele ausländische Gäste würden dem Land im Winter wohl fernbleiben. Deutschland hat die gesamte Schweiz zum Risikogebiet erklärt: «In so einer kritischen Phase wird kaum ein Deutscher einen Skiurlaub in der Eidgenossenschaft planen.» (kes)
29. Oktober 2020
Die Schweiz - und mit ihr viele weitere Länder - befindet sich ganz tief in der Zweiten Corona-Pandemie-Well. In den vergangenen 24 Stunden stiegen die Ansteckungszahlen gegen 10'000 - die Tendenz scheint steigend zu sein.
Es gibt Länder, die haben diese Zweite Corona-Pandemie-Welle mehr oder weniger bereits hinter sich gebracht - wie zum Beispiel Israel. Eine Übersicht:
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Reto Fehr
vor 7 Std.
Corona-Schutz: Papst Franziskus hält Generalaudienz ohne Pilger
Tausende Genfer Beamte streiken und demonstrieren gegen Lohnabbau
© keystone
Während viele Länder Europas mitten in der zweiten Corona-Welle stecken, haben andere Staaten diese schon hinter sich. Ein Überblick.
Israel
Zeitraum:
Von den folgenden Ländern, welche die zweite Welle auch bereits hinter sich haben, verzeichnete Israel pro 100'000 deutlich am meisten Infektionen.
Massnahmen:
Der Lockdown war erst bis am 10. Oktober geplant, wurde dann aber bis am 18. Oktober verlängert. Seither läuft die Öffnung. Als Erstes konnten Kindergärten und Spielgruppen wieder öffnen, Restaurants dürfen Take-Away-Service anbieten und der Bewegungsspielraum ist wieder grösser geworden.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Eran Segal, Forscher am Weizmann Institut, nennt in seiner Analyse zwei Gründe
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Sterblichkeit:
Australien
Zeitraum:
der Bundesstaat Victoria mit Melbourne,
Massnahmen:
Der Lockdown wurde verlängert und am 2. August mit einer Ausgangssperre von 20 bis 5 Uhr verschärft. Trotzdem dauerte es rund einen Monat, bis die Neuinfektionen nach unten gingen. Victorias Premierminister Daniel Andrews wurde für sein hartes Vorgehen kritisiert. Er hielt aber an der Strategie fest und wurde mit sinkenden Zahlen belohnt.
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Nachdem die Fallzahlen abnahmen, wurden auch die Restriktionen langsam wieder gelockert. Die Ausgangssperre wurde am 27. September aufgehoben. Drei Wochen später durften sich wieder bis zu zehn Personen aus zwei unterschiedlichen Haushalten draussen treffen.
Seit Mittwoch dürfen unter anderem Restaurants, Bars und weitere Geschäfte mit limitierten Gästen wieder öffnen. Und ab dem 8. November sollen dann auch noch weitere Massnahmen gelockert werden. So darf man ab dann unter anderem wieder weiter als 25 Kilometer von zu Hause weg, Fitnesscenter öffnen und die Gästelimiten in Restaurants werden erhöht.
Sterblichkeit:
Neuseeland
Zeitraum:
Massnahmen:
Nach der ersten Welle sanken die täglichen Neuinfektionen am 4. Mai erstmals wieder auf Null. Erst 102 Tage später gab es in Auckland wieder eine registrierte Infektion. Als am 12. August 17 Personen infiziert waren, schloss die Regierung in der Stadt die Schulen, Kindergärten und nicht relevanten Betriebe.
Der städtische Lockdown wurde am 30. August etwas gelockert. So wurden Versammlungen auf 10 Personen limitiert. Ab dem 23. September waren beispielsweise wieder Versammlungen von bis zu 100 Personen möglich.
Seit dem 7. Oktober gilt im ganzen Land wieder Level 1 – was bedeutet, dass die Restriktionen aufgehoben sind, Masken aber weiterhin empfohlen werden. Dass es gelang, die Neuinfektionen tief zu halten, liegt gemäss Experten an den schnellen und zu jenem frühen Zeitpunkt drastischen Massnahmen. Zudem hilft Neuseeland die Lage als (Zwei-) Inselstaat, was die Abschottung erleichtert.
Sterblichkeit:
Südkorea
Zeitraum:
Massnahmen:
Nachdem die Fallzahlen bis zum 13. September wieder sanken, wurden die Massnahmen (unter Einhaltung von Abstandsregeln und Maskenpflichten) gelockert. Weitere Lockerungen gab es am 12. Oktober.
Sterblichkeit:
Japan
Zeitraum:
Massnahmen:
Einen Lockdown oder harte Massnahmen gab es nicht, viel mehr hielt sich die Bevölkerung an Empfehlungen, wie beispielsweise das Maskentragen oder den Aufruf zum Zu-Hause-Bleiben.
Weiter handelt die Regierung früh und entschlossen. Und sie empfahl, folgende Situationen zu meiden: Geschlossene Räume mit schlechter Luftzirkulation, Menschenmassen und nahe Face-to-Face-Konversationen.
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Sterblichkeit:
Irland
Zeitraum:
Massnahmen:
Sterblichkeit:
Die Lage in Europa
Während sich bei Irland womöglich schon ein Abwärtstrend abzeichnet, stecken weitere europäische Länder wie die Schweiz, Spanien, Italien, Frankreich, Tschechien, Grossbritannien, Österreich, Deutschland, Belgien oder die Niederlande erst am Anfang oder mitten in der zweiten Welle.
Die Massnahmen sind überall etwas unterschiedlich. In Frankreich rief Präsident Emmanuel Macron gestern den erneuten Lockdown aus, in den Niederlanden und Belgien gibt es Teil-Lockdowns, andere Länder versuchen, ohne Schliessungen durch die zweite Welle zu kommen. Ziel ist, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht, was in der zweiten Welle bisher in keinem europäischen Land geschah.
28. Oktober 2020
Die Corona-Pandemie-Situation in der Schweiz (wie weltweit) ist verzweifelt. Die Schweiz ist zu einem Hotspot geworden. Täglich gibt es mehr als 6'000 Ansteckungen. Heute Nachmittag verfügte der Bundesrat über neue Vorschriften im Umgang mit dieser Pandemie. Ich bezweifle, dass damit die Ansteckungszahlen und v.a. die Überlastung der Spitäler in den Griff zu bekommen sind.
André Seidenberg, praktischer Arzt, hat sich v.a. in den 80er Jahren mit den Drogensüchtigen auf dem Zürcher Platzspitz eingegeben. Im nachfolgenden Interview geht er auf die jetzige Corona-Pandemie ein. Er ist der Meinung, dass sie für die Verantwortlichen aus dem Ruder gelaufen ist und dass man letzten Endes mit einer Sterberate von 20'000 bis 40'000 zu rechnen habe. Lesen Sie das Interview der NZZ selber.
NZZ vom 28.10.2020
Er war einst Drogenarzt auf dem Zürcher Platzspitz und sah viel Leid und Elend. Nun hat André Seidenberg ein persönliches Manifest zum Coronavirus verfasst. Im Interview sagt er, wir hätten die Kontrolle über die Epidemie verloren. Nun gelte es dies auszuhalten.
© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung
Herr Seidenberg, die Infektionszahlen steigen seit einiger Zeit täglich sehr stark an. Sind Sie überrascht davon?
Ich hätte nicht erwartet, dass die Zahlen so schnell so stark ansteigen. Aber wirklich überrascht hat es mich nicht. Ich staune eher darüber, wie viele Leute lange noch so taten, als würde man eine zweite Welle verhindern können. Dabei war schon früh klar, dass dies ohne eine rigorose, effiziente Organisation von Tests und Contact-Tracing nicht möglich sein würde. Wesentlich ist der Zeitfaktor: Man hätte innerhalb von wenigen Stunden jeden, der infiziert ist, identifizieren, kontaktieren und gleichzeitig die Tracing-Massnahmen einleiten müssen. Dann wäre es möglich gewesen, die zweite Welle zu unterdrücken. Das haben die Behörden verpasst.
Vor ein paar Monaten, wie übrigens andere Berufskollegen auch. Faktisch hätten wir seit der ersten Welle ein halbes Jahr Zeit gehabt, um mit einem effizienten Einzelfall-Tracing eine massenhafte Ausbreitung und einen exponentiellen Anstieg der Infektionen zu verhindern. Politik und Behörden überschätzen ihre Wirkmächtigkeit. Wir als Gesellschaft beklagen nun wie kleine Kinder, dass uns niemand vor der Realität, vor diesem Ungemach und Schrecken, beschützen kann.
Diese Reaktionen erinnern Sie an Kinder im Trotzalter?
Ja, die Emotionen, die in der Breite der öffentlichen Meinungen zum Ausdruck kommen, enthalten oft infantile Elemente. Dazu zähle ich die Aussagen von Leuten, die sich der Realität verweigern und behaupten, Covid-19 sei nicht gefährlich. Und das nur, weil sie sich zu Recht in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen. Da gibt es Gefühlsausbrüche, die an das Verhalten kleiner Kinder gemahnen.
Von vielen Seiten wird jetzt gefordert, dass die Politiker hart durchgreifen und zumindest einen Mini-Lockdown verfügen. Was halten Sie davon?
Selbstverständlich wird das Verhalten jedes Einzelnen von behördlichen Massnahmen beeinflusst. Wir reagieren mehr oder weniger willig oder unwillig. Doch wie stark wir unser Verhalten als Kollektiv verändern, hängt nicht nur von Anordnungen durch Behörden ab. Wenn Massnahmen zu weit gehen, werden sie nicht mehr befolgt. In der Schweiz dauert es zwar sicher länger als in anderen Ländern, bis es zum Volksaufstand kommt, doch der Unwille ist da. Wir ärgern uns und werden zur polarisierten Gesellschaft. Darin sehe ich eine grosse Gefahr.
Was schlagen Sie also vor – einen Mittelweg?
Ich denke, wir müssen jetzt sorgfältig prüfen, wie es weitergeht. Denn Massnahmen, die nun angeordnet werden, werden wir nicht nur die nächsten ein oder zwei Monate, sondern wahrscheinlich zwei Jahre lang durchhalten müssen. So lange dauert es voraussichtlich, bis sich Covid-19 durch Durchseuchung und eine Impfung nicht mehr weiter verbreiten kann. Alles, was jetzt kommt, entspricht einer lang andauernden Freiheitsbeschränkung. Darum müssen Massnahmen sorgfältig legitimiert werden. Die Fiktion der Kontrollierbarkeit dieser Seuche genügt dafür nicht. Wir haben die Kontrolle über diese Epidemie verloren.
Was wäre Ihres Erachtens eine legitime Massnahme?
Wenn die Behörden verfügen würden, dass überall im Freien Masken getragen werden müssen, wäre das an vielen Orten absurd. Aber wenn in Zürich an der Bahnhofstrasse während des Weihnachtsgeschäfts eine Maskentragpflicht gilt, scheint mir das legitim. Einschränkungen der Freiheit, und dazu gehört eine Maskenpflicht, müssen gut begründet sein. Nur dort, wo ich als gefährdeter Mensch unvermeidlich hingehen muss, sind Verbote und Gebote wegen Covid-19 zulässig.
Dazu zählen Sie das Weihnachtsgeschäft an der Bahnhofstrasse?
Für die Kunden ist es nicht unbedingt zwingend, aber die Leute, die dort arbeiten und sich an der Bahnhofstrasse im Einkaufsrummel bewegen müssen, müssen geschützt werden.
In Ihrem Manifest stellen Sie sich schützend vor die Jungen. Sie plädieren dafür, deren Freiheit nicht zu stark einzuschränken. Sie sind also gegen Klubschliessungen?
Ja, denn Klubschliessungen folgen der Fiktion, wir könnten diese Epidemie noch unter Kontrolle bringen. In der jetzigen Situation dürfen wir den Jungen aber nicht alle Freiheiten wegnehmen; das überfordert längerfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mein persönliches Risiko als knapp 70-Jähriger, in den nächsten ein, zwei Jahren an Covid-19 zu sterben, liegt theoretisch bei fast 5 Prozent. Das gibt mir jedoch nicht das Recht, den Jungen alles aufzubürden.
Das heisst: Jeder, der Freiheiten will, bekommt sie, und wer sich schützen will, muss es alleine tun?
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Wovon ist abhängig, wie viele Leute sterben werden?
Unter anderem von der Behandlungsqualität, und diese sinkt, wenn das Gesundheitssystem überlastet ist. Meine Kolleginnen und Kollegen in den Spitälern haben eine sehr professionelle Haltung in dieser schwierigen Situation. Viele von ihnen wachsen jetzt in eine Art Medizin hinein, die sie nicht gewohnt sind.
Sie waren als Arzt in der offenen Drogenszene in Zürich tätig. Kennen Sie diese Art Medizin, wie Sie es ausdrücken, aus jener Zeit?
Ja, ich habe in den achtziger und neunziger Jahren in der Drogensituation, die aus dem Ruder gelaufen war, viel Leid und Elend gesehen. Eines der grossen Probleme war damals HIV, ebenfalls eine Seuche, über die man zu Beginn sehr wenig wusste. Auch damals herrschte eine grosse Unsicherheit, die nur langsam überwunden wurde, indem das Wissen über die Krankheit wuchs. Auch damals gab es Verschwörungstheorien und Realitätsverleugnungen, die mit der Zeit wieder verschwanden.
Wie haben Sie das damals konkret erlebt?
Im Fixerraum des AJZ, des Autonomen Jugendzentrums an der Limmatstrasse, haben sich wahrscheinlich fast alle Süchtigen durch schmutzige Nadeln mit HIV angesteckt. In unserer Arztpraxis tauchten plötzlich Junkies auf mit Pilzbefall im Mund. Am Universitätsspital Zürich wurden wohlhabende Homosexuelle mit ähnlichen Symptomen behandelt, und aus den USA gab es ähnliche Berichte. Es dauerte zwei oder drei Jahre, bis man Genaueres über diese neue Viruserkrankung wusste. Und eine Impfung, auf die man lange Zeit hoffte, gibt es bis heute nicht.
Mit den Wintermonaten und der Ausbreitung des Coronavirus kommt auf jeden Fall eine schwierige Zeit auf uns zu. Wie sollen wir damit umgehen?
Die meisten von uns haben jetzt Angst, und diese ist auch realitätsgerecht und angebracht. Covid-19 ist mit viel Leid verbunden. Ich hoffe aber auch, dass wir vielleicht wieder besser lernen, etwas auszuhalten. Ich war vierzig Jahre lang Arzt in Zürich, und die Schmerzschwelle der Patienten ist in dieser Zeit ganz drastisch gesunken. Auch die Bereitschaft, Ungemach auszuhalten, ist geringer geworden. Man kann nicht alles Leid ignorieren. Wir müssen lernen, gelassen mit unserer Angst umzugehen. Unser Selbstvertrauen hängt nicht vom Wohlbefinden und dem Fehlen von Unannehmlichkeiten ab. In uns selbst können wir Hoffnung finden.
8. Oktober 2020
Wir befinden uns immer noch mitten inder Coroan-Pandemie-Zeit. Diese Pandemie hat wohl nicht nur die offiziellen Stellen, sondern jeden Einzelnen von uns überfordert! Diese Pandemie liess in der Folge keinen Stein mehr auf dem anderen, veränderte gewissermassen unsere Existenz auf allen Ebenen.
Es ist verständlich, dass rund um die Einschränkungen, die von offiziellen Stellen verfügt wurden und werden, die Meinungen auseinander gehen können. Das ist nicht nur verständlich, sondern auch legal. Aber höchst problematisch ist jedoch all das, was unter sogenannten "Verschwörungs-Theoretikern" abläuft, v.a. wenn es dabei um Diskriminierung von Andersdenkenden, und wenn dabei auch noch Antisemitismus mitschwingt.
Der folgende Artikel der NZZ vom 8.10.2010 beschäftigt sich mit der aktuellen Corona-Pandemie-Zeit.
https://www.nzz.ch
© NZZ AG - Alle Rechte vorbehalten
25. September 2020
Die ganze Welt leidet unter der Corona-Pandemie, ihren Auswirkungen, ihren Einschränkungen. Die Folge davon ist in breiten Kreisen eine grosse Verwirrung. Verschwörungtheorien haben Hochkonjunktur und verbreiten sich so rasch wie das Corona-Virus. Auch in der Schweiz. In Diskussionssendungen hört man Leute jammern, ihre Meinungsfreiheit sei massiv beschnitten, sie würden als abartige *Verschwörungstheoretiker" gebrandmarkt. Das obligatorische Maskentragen würde ihre ganz persönliche "Freiheit" unnötig einschränken. Ich hörte sogar von einer Ladenbesitzerin für vegane Nahrungsmittel in Winterthur, die sich weigerte, ihre Kunden - und sich selber - Masken in ihrem Laden zu tragen. Der Laden wurde dann in der Folge von der Polizei geschlossen. Diese Dame ereiferte sich dann vor TV-Kameras lauthals über diese "Ungerechtigkeit".
Hans Stutz geht in seinem folgenden Artikel auf diese sehr spezielle Situation ein:
TACHLES 25.9.2020
Die Pandemie macht Verschwörungstheorien wieder populär – wie auch die Kundgebung gegen Corona in Zürich zeigt.
Netzwerke und anderes
Antisemitismus und anderes
Hans Stutz
23. September 2020
Julliette Greco ist gestorben! Ich war – v.a. in jungen Jahren und während der Zeit, da ich in Paris wohnte – ein grosser Fan dieser Chansonniere. Ich liebte ihre Art des Chansons, aber v.a. den Inhalt ihrer Poesie.
Jetzt ist sie im hohen Alter von 93 Jahren verstorben. Vor meinem inneren Auge (und Ohr) ziehen einige ihrer Chansons, ihre Gestik usw. vorbei. Diese Erinnerungen erfüllen mich mit einer gewissen melancholischen Nostalgie!
Juliette Gréco (†93): Große Trauer! Die Chanson-Legende ist tot
Talea de Freese vor 12 Std.
Chansons wie "L'accordéon", "La Javanaise" und "Déshabillez-moi" machten sie in den 50ern und 60ern berühmt. Nun müssen die Fans von einer Ikone der Musikwelt Abschied nehmen.
Juliette Gréco (†93) ist gestorben
Wie ihre Familie über die Nachrichtenagentur AFP am Mittwochabend (3. September) mitteilte, ist Sängerin und Schauspielerin Juliette Gréco (†93) tot.
Die Französin sei in ihrem Haus in Ramatuelle in Südfrankreich im Kreis ihrer Familie gestorben, sie wurde 93 Jahre alt.
https://www.youtube.com/watch?v=oieG0DHfISE
Die Sängerin, deren Texte oft politisch waren, trug am liebsten Schwarz. Auf der Leinwand war sie unter anderem in "Jedermanns Fest" zu sehen gewesen. 2015 hatte sie Abschied von der Bühne genommen und zuletzt sehr zurückgezogen gelebt.
23. September 2020
Klimademo in Bern vor dem Bundeshaus – illegal: ist dies vertretbar oder nicht?
In Bern demonstrierten gestern (22.9.2020) bis heute morgen einige Hunderte Aktivisten der Klimabewegung vor dem Bundeshaus. Diese Demo wurde von dem amtlichen Stellen nicht bewilligt, und es stellt sich (für mich jedenfalls) die Frage, ob für das Einstehen einer „gerechten Sache“ ein Verbot von amtlichen Stellen gebrochen werden darf. Ich bin der Meinung: nein! Der folgende Artikel der NZZ (Kommentar) vom 23.9.2020 geht auf diese Thematik ein.
Anmerken möchte ich noch, dass ich in meinen Jungen Jahren an vielen Demos (in der Schweiz und in Frankreich( teilgenommen habe. Damals ging es v.a. um den unglücklichen Vietnam-Krieg, den wir als junge Menschen als ungerecht betrachteten. Und Sinn und Zweck dieser Demos (an denen ich teilnahm) war, klar und deutlich Stellung gegen diesen ungerechten Krieg in Asien Stellung zu beziehen, wir reihten uns an weltweite Demos im gleichen Sinne ein und versuchten auf diese Weise, die USA zu einem Rückzug, resp. einer Beendigung dieses Krieges zu bewegen. Erst viel später las ich dann die sogenannten „Washington Paper“, die klar bewiesen, dass seit Kennedy die USA-Präsidenten wussten, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war, ihre Bürger aber darüber im Unklaren liessen. Unsere Demos von damals geschahen auf friedlicher Ebene, wir hielten uns an die gültigen Regeln und Gesetzen. – Und das ist nun mit dieser Klima-Demo vor dem Bundeshaus nicht der Fall!
NZZ KOMMENTAR - 23.9.2020
Die Stadt Bern misst mit zweierlei Mass
Das Demonstrationsverbot auf dem Bundesplatz während der Parlamentssessionen gilt offensichtlich nur selektiv. Passt die Gesinnung zur links-grünen Weltutopie, lässt die Stadt Bern politische Aktionen wie den aktuellen Klimaprotest mit viel Gutmütigkeit laufen.
Georg Häsler Sansano, Bern
45 Kommentare - 22.09.2020, 17.47 Uhr
Der Bundesplatz ist seit Montag von Aktivistinnen und Aktivisten der sogenannten Klimabewegung besetzt. Foto Peter Klaunzer / Keystone
Die Dringlichkeit griffiger Massnahmen für den Klimaschutz sind unbestritten. Das Parlament ringt zurzeit mit den Differenzen im neuen CO2-Gesetz. Bald wird das Volk über die Gletscherinitiative abstimmen, die bei der Reduktion der Treibhausgase weitgehende Forderungen in der Verfassung festschreiben will. Angesichts des schnell schmelzenden, einst ewigen Eises in den Alpen hat der Vorstoss sogar Chancen, angenommen zu werden.
Stadt Bern hat es verpasst, das geltende Recht durchzusetzen
Auch wenn die Mühlen der Politik langsam mahlen: Die Gruppierungen, die zurzeit den Bundesplatz unter dem Slogan «Rise up for Change» besetzen, schaden dem Anliegen. Die Sorge um das Klima ist eine Etikette für den Versuch, die geltende Ordnung grundlegend zu verändern. In einem programmatischen Text, notabene auf Englisch verfasst, wird unter anderem der Finanzsektor fundamental angegriffen und eine partizipative Demokratie inklusive einer «citizen’s assembly» gefordert, also einer neuen Institution mit dubiosem Auswahlverfahren.
Die Forderung mutet seltsam an: Ausgerechnet im Land der direkten Demokratie soll mit «zivilem Ungehorsam» mehr Partizipation erzwungen werden. Ganz offensichtlich wird hier eine internationale Ideologie übernommen, die unter anderem auch auf den Websites von «extinction rebellion» propagiert wird. Die runenartigen Fahnen dieser radikalen Gruppe, die in London landende Passagierflugzeuge mit Drohnen stören wollte, dominieren gegenwärtig den Bundesplatz.
Der Rechtsbruch gehört also zum Programm dieser «action directe», ebenfalls ein ideologisch aufgeladener Begriff. Während der Parlamentssession sind Demonstrationen vor dem Bundeshaus grundsätzlich verboten. Störungen des öffentlichen Verkehrs sowieso. Die Stadt Bern hat es aber trotz deutlichen Anzeichen für eine Aktion der sogenannten Klimabewegung unterlassen, in der Nacht auf Montag mit einem hinreichenden Polizeiaufgebot bereitzustehen, um das geltende Recht durchzusetzen.
Jetzt wird es auch aus polizeilicher Sicht zunehmend schwierig, den Bundesplatz zu räumen. Die Polizistinnen und Polizisten würden zu unfreiwilligen Protagonisten durchaus gewollter Bilder von staatlicher Gewalt gegen einen friedlichen Protest. Trotzdem kann die Stadt Bern den deutlichen Brief der Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung vom Montag nicht einfach ignorieren, worin die Nationalratspräsidentin und der Ständeratspräsident zur «Wahrung der Demokratie» aufrufen und die «Einhaltung der geltenden Rechtsbestimmungen» fordern, also faktisch die Räumung des Camps.
Bern wird zum Biotop einer bestimmten Ideologie
Doch der Gemeinderat, die Berner Stadtregierung, duldet die Aktion mit fast elterlicher Gutmütigkeit weiter und macht Angebote wie an Kinder, die statt auf der Spielstrasse auf dem Parkplatz des bösen Nachbars spielen. Motto: Bitte kreidelt mit euren Strassenkreiden nicht den Bundesplatz voll, ihr dürft aber auf dem Waisenhausplatz weiterfahren. Ein erstes Ultimatum ist verstrichen. Die Aktivistinnen und Aktivisten sind geblieben. In einem letzten Angebot nach einer ausserordentlichen Sitzung lädt sie der Gemeinderat nun ein, den Bundesplatz freizugeben und doch bitte endlich auf einen anderen Platz umzuziehen.
Offensichtlich hegen die Berner Behörden Sympathien für die Aktion der sogenannten Klimabewegung und ihre radikalen Forderungen. Es stellt sich die Frage, wie der Gemeinderat reagierte, wenn die Anhänger eines weniger genehmen Anliegens den Platz vor dem Bundeshaus in Beschlag nehmen würden. Er setzt das Verbot von Demonstrationen auf dem Bundesplatz während der Sessionen selektiv um.
Die Gleichheit aller vor dem Gesetz ist ein wesentliches Gut der Demokratie und des Rechtsstaats. Der Rest der Schweiz erwartet, dass dies auch in der Bundesstadt selbstverständlich ist. Denn Bern ist ein Biotop einer links-grünen Weltutopie, die auch rechtsfreie Räume wie die Reitschule oder exzessive Hausbesetzungen toleriert. Gerade im Umgang mit existenziellen Herausforderungen wie dem Klimawandel ist der Wettbewerb der Ideen ein wichtiger Boden für gemeinsame Lösungen. Die Einhaltung der Grundregeln des Gemeinwesens ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Dafür hat die Stadt Bern zu sorgen
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Diese Demonstranten sehen nur ihre Lösung und die ist alles andere als demokratisch. Sie wollen ihre Staatsform (Marxismus) einführen und zeigen dies auch offen mit diesen ominösen Gremien. Die Stadt Bern liess vor wenigen Wochen/ Monaten Demonstrationen auflösen und Bussen verteilen. Damals ging es aber um Corona-Massnahmen. Eigentlich wird jede unbeteiligte Demo aufgelöst seitens der Polizei. Wer hat denn da beide Augen zugedrückt? dieser Entwicklung sehe ich seit längerem mit Besorgnis: Rules for thee but not for me. Damit wird an dem fundamentalen Prinzip der Rechtsgleichheit gesägt. Versteht die Stadt Bern, dass sie damit dem moralischen Policing Vorschub leistet? Wer stellt sich dem entgegen? Die Medien sind immer noch relativ zurückhaltend. Ivo Gut - vor etwa 21 Stunden
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Dass die Polizei hier nicht dreinschlagen und womöglich noch "Helden" erschaffen soll, kann man durchaus nachvollziehen. Völlig daneben und unbegreiflich ist jedoch, dass grüne und linke Politiker die Aktion begrüssen oder höchstens etwas herumeiern statt klar zugunsten des Rechtstaates Stellung zu beziehen. Das ist staatspolitische Verantwortungslosigkeit - das Einstehen für den Rechtsstaat und die geltenden, in einem rechtsstaatlichen Verfahren erlassenen Gesetze (auch wenn sie aus eigener Sicht vielleicht falsch sind), ist eine charakterliche Grundvoraussetzung für Politikerinnen und Politiker in einer Demokratie (selbst wenn sie selbstverständlich davon überzeugt sind, dass sie moralisch und ethisch besser sind als der Rest der Bevölkerung). Die Mittel, um die Gesetze zu ändern, sind bei uns gegeben - und wenn neue Ideen überzeugen, werden sie sich auch ohne kindische Rechtsverletzungen durchsetzen.
6. September 2020
Der Zürcher Platzspitz war jahrelang weltweit als schlimmes Beispiel der Drogenszene bekannt. Dort haben sich ganz schlimme Sache ereignet, von denen wohl die meisten Zürcher gar keine Notiz nahmen. – In der Zwischenzeit ist der „Platzspitz“ (traurige) Geschichte geworden.
Der Arzt Dr. Andre Seidenberg, der damals in dieser Szene aktiv war, erinnert sich im folgenden NZZ-Artikel:
Neue Zürcher Zeitung: «Die Erinnerungen an den Platzspitz kommen manchmal überfallartig» – Der Zürcher Drogenarzt André Seidenberg war mitten drin in der offenen Drogenszene
Rebekka Haefeli vor 2 Tagen
André Seidenberg reanimierte als junger Notfallarzt auf dem Platzspitz Süchtige, gab saubere Spritzen ab und hörte unzählige Geschichten von gescheiterten Existenzen. In einem Buch teilt er nun seine Erfahrungen.
Heute ist auf dem Platzspitz nichts mehr, wie es einmal war. An diesem Mittag im Spätsommer riecht es im Park nach Frittiertem; die Bänkchen und Mäuerchen sind von Leuten bevölkert, die für kurze Zeit aus ihren Büros geflüchtet sind. André Seidenberg spaziert über die Wiese, bleibt stehen, zeigt auf eine Stelle hinter einem Baum: «Hier habe ich einmal einen Süchtigen reanimiert – und es ging beinahe schief.»
Tägliche Überdosierungen
Hält sich der Zürcher Allgemeinpraktiker im Park hinter dem Landesmuseum auf, kann er die inneren Bilder nicht abwehren. Zu viele Abgründe hat er hier gesehen, zu viel von seinem Herzblut als Arzt und als Mensch ist mit diesem Ort verbunden. Als junger Notfallarzt rückte er in den achtziger und neunziger Jahren immer wieder in die offene Drogenszene aus. Denn dass sich Junkies Überdosen gespritzt hatten, war damals an der Tagesordnung.
«Zahlreiche Süchtige kannten mich als ihren Arzt und beschützten mich in der Szene», erzählt André Seidenberg. Christoph Ruckstuhl / NZZ© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung «Zahlreiche Süchtige kannten mich als ihren Arzt und beschützten mich in der Szene», erzählt André Seidenberg. Christoph Ruckstuhl / NZZ
Fast schief ging die Reanimation, von der Seidenberg erzählt, weil er dem weggetretenen Süchtigen ein Medikament spritzte, das die Wirkung des Heroins, das der Junkie zuvor konsumiert hatte, aufheben sollte. «Der Mann wachte schlagartig auf und ging auf mich los.» Der Süchtige wusste schlicht nicht mehr, wie ihm geschah, und war in Panik geraten. «Seine Freunde hielten ihn zurück und klärten ihn auf, dass ich Arzt sei und ihm soeben das Leben gerettet hätte.»
Düstere, repressive Stimmung
In seinem Buch, das Ende September erscheint, erzählt der Arzt von zahlreichen bedrückenden Szenen rund um das Platzspitz-Rondell, in dem Schwerstsüchtige unter widrigen Bedingungen hausten. Ihr einziges Ziel war, auf der täglichen Jagd nach Stoff fündig und nicht von der Polizei geschnappt zu werden. Es herrschte eine düstere, repressive und gehetzte Stimmung, die nahtlos an die bewegte Zeit der Jugendunruhen in den 1980er Jahren anschloss. Viele Jugendliche, die damals auf der Strasse für mehr Freiheiten gekämpft hatten, landeten später in der Drogenszene am Platzspitz.
Seidenberg schildert seine Erinnerungen im Buch anhand von Protagonisten der damaligen Zeit, die eine wichtige Rolle spielten und teilweise heute noch leben. Er hat die Geschichten so weit verfremdet, dass die tatsächlichen Personen nicht erkennbar sind.
Auf der steinernen Plattform im Rondell bewegte sich ein dunkler Haufen träge unter Wolldecken und wasserfesten Planen. Dort lagerte der härteste Kern der Szene. Noch waren die Nächte nicht eiskalt, aber diese Leute würden dort auch den sibirischen Temperaturen der härtesten Winternächte trotzen. Der Platzspitz war vierundzwanzig Stunden täglich und dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geöffnet.
Im Rondell führte Grosso Regie. Grosso wusste auch nach Mitternacht und in den frühesten Morgenstunden, wo welcher Stoff oder was auch immer subito und sofort besorgt werden konnte: Kokain, fünfzig Gramm Heroin, Falschgeld, eine Knarre und einen, der bereit war, bei einem Einbruch Wache zu schieben, oder welche Frauen zum Ficken, Schlagen und Würgen zu kaufen waren. Für Grosso fiel immer etwas ab, «universale Fernbedienung» nannte er das.
Viele der Abhängigen auf dem Platzspitz waren auch Seidenbergs persönliche Patientinnen und Patienten. Nach dem Staatsexamen arbeitete er einige Zeit in der Gruppenpraxis «Plaffenwatz» im Enge-Quartier. Ab 1985 führte er eine eigene Praxis für Allgemeinmedizin in Altstetten; später gründete er eine Praxis beim Central. «Zahlreiche Süchtige kannten mich als ihren Arzt und beschützten mich in der Szene», sagt er. «Auf dem Platzspitz gab es praktisch keinen Mord und Totschlag; später aber, am Letten, waren viele Abhängige auf Kokain und paranoid. Die Gewalt, auch diejenige, die von der Polizei ausging, war allgegenwärtig.»
Kampf für Spritzenabgabe
Seidenberg trat in der damaligen Zeit als Kämpfer und Rebell auf, der sich öffentlich gegen Obrigkeiten auflehnte. Legendär ist sein Einsatz für die Abgabe von sauberen Spritzen, um die zunehmende Ausbreitung von HIV zu stoppen. Über Aids wusste man damals so wenig wie heute über Covid-19. Es war eine unheimliche Krankheit, die sich besonders unter Junkies rasant ausbreitete, weil sie sich gegenseitig ansteckten. Die Stigmatisierung war gross.
Der Stoff wurde mit blutig kontaminierten, mehrfach gebrauchten Spritzen aus einem gemeinsamen Löffel aufgezogen. (. . .) Wir wussten vieles noch nicht. Wer ist alles infiziert? Wie ansteckend ist die Krankheit? Wie viele werden sterben, wie schnell? Werden alle sterben? Wird die Menschheit an Aids zugrunde gehen? (. . .)
Christian La Roche und ich betreuten in unserer Altstetter Praxis in zehn Jahren rund zweihundert Patienten mit Aids bis in den Tod. Scham, Schuld, Depression und Angst prägten und behinderten das Leben unserer Patienten lange vor jeder sichtbaren Krankheit. Vor dem physischen Tod starben viele jahrelang einen sozialen Tod.
Seidenberg legte sich in den achtziger Jahren mit dem damaligen Zürcher Kantonsarzt an, der ihm mit dem Entzug der Praxisbewilligung drohte, wenn er sterile Spritzen und Nadeln an Süchtige abgäbe. Über 300 Ärztinnen und Ärzte zeigten sich solidarisch und weigerten sich ebenfalls, die Weisung des Kantonsarztes zu befolgen. Nach juristischen Streitereien zogen die Behörden das Spritzenabgabeverbot schliesslich zurück.
Eigene Drogenerfahrungen
Doch die Schauplätze des Buches beschränken sich nicht auf den Platzspitz und den Letten, wohin sich die Szene später verlagerte. Seidenbergs Buch liest sich sehr unterhaltsam. Es trägt auch autobiografische Züge und lässt dadurch erahnen, warum sich der Mediziner auf die Patientinnen und Patienten am Rand der Gesellschaft zu konzentrieren begann. «In gewissen Kreisen galt ich damals gewiss als Schmuddeldoktor», hält er fest.Der 69-jährige Arzt, der im Zürcher Niederdorf als Sohn eines jüdischen Buchhändlers aufwuchs, erzählt in seinem Buch unter anderem auch von seinen eigenen Drogenerfahrungen. Er habe fast alles ausprobiert, sagt er, von Cannabis über Kokain, LSD bis zu Amphetaminen und Heroin. Das habe ihm geholfen, Wirkungen nachzuvollziehen und die Patientinnen und Patienten besser zu verstehen.
Ich selbst fand Heroin eher unangenehm; das Gefühl, wohlig in süsser Melasse zu ertrinken, war grauenhaft und erschreckend. Nein, ich stand definitiv nicht auf Opioide und auch sonst nicht auf Downer. Ich wollte nicht schlafen, sondern wach sein. Ich wollte mich nicht beruhigen und kaltstellen, sondern mich erregen: «Lieber sich aufregen als sich nicht mehr regen.»
Ein spannendes Experiment
Während des Medizinstudiums schluckte Seidenberg in steigender Kadenz Amphetamine und wurde süchtig nach Speed. Ob der Konsum von Stimulanzien beim Lernen geholfen hat? Er weiss es nicht, beschreibt sich als «Getriebener», aber auch als «antreibender Mensch».
Im Studium wollte er sich zunächst der Hirnforschung zuwenden und schreckte nicht vor einem Selbstversuch mit Ketamin zurück, das damals noch nicht als Partydroge bekannt war. Im Buch schildert Seidenberg, wie er eines Abends mit entblösstem Oberkörper in einem Labor sass, mit 64 Elektroden auf dem Kopf und einer Infusion am Arm, um den neuropsychischen Effekt zu erforschen. Seine damalige Freundin, eine Pflegefachfrau, war für die Dosierung zuständig. Die Wirkung setzte nach wenigen Sekunden ein.
Ich konnte mich kaum noch bewegen. Das Schachbrettmuster vor meinen Augen wechselte hin und her. Der Trip war recht gespenstisch. Ich delirierte leicht und musste mich sehr konzentrieren, damit mir die komplizierten technischen Aspekte des Versuchs nicht entglitten.
In diesem Moment kam der Chefarzt der Anästhesie ins Monakow-Labor, um sich über den Verlauf des Versuchs zu orientieren. Er betrachtete die merkwürdige Szene und fragte mich: «Spinnen Sie jetzt, Herr Seidenberg?» Ich starrte auf den Monitor. Ich suchte die Antwort: Ja, nein, ja, nein? Das Schachbrettmuster schien sich hin- und herzubewegen. Was sollte ich sagen? Ja, nein, ja, nein. «Ja, Herr Professor! Ich glaube, ich spinne.»
Seidenberg beschreibt sich und seine Ideen mit einer guten Portion Selbstironie. In der Forschung oder der Trägheit einer anderen grossen Institution hätte er wohl nicht sein Glück gefunden, sagt er. Er sei viel zu «faustig», um die Spiele zu spielen, die man in einer straffen Hierarchie spielen müsse. Zu seiner offensichtlich rebellischen Ader sagt er, er sei schliesslich ein kleiner Mensch, und «kleine Menschen wollen nicht unterschätzt werden».
Meilensteine in der Drogenpolitik
Für ihn hat die Tatsache, dass er schliesslich nicht in der Hirnforschung gelandet ist, sondern Allgemeinmediziner wurde und sich den Menschen am Rande der Gesellschaft annahm, rückblickend eine gewisse Logik. «Als Jude kämpfe ich gegen Ausgrenzung, und die Medizin in diesem speziellen Feld, mit der Nähe zur Drogenszene, ist ein ‹Thrill›. Ausserdem ist das Gefühl, man könne etwas entscheidend verändern, ein mächtiger Antrieb.»
Entscheidende Veränderungen in der Schweizer Drogenpolitik gab es in den neunziger Jahren, nach der Auflösung der Letten-Szene. Seidenberg war Mitgründer der Arud, der Arbeitsgemeinschaft für einen risikoarmen Umgang mit Drogen. Er war massgeblich am Aufbau der Methadon- und Heroinabgabe in der Stadt Zürich beteiligt. Die Mehrheit der heutigen Abhängigen ist dank diesen Errungenschaften weniger verwahrlost und lebt deutlich gesünder.
Empfang mit dem Revolver
Von gesellschaftlichen Randerscheinungen und Grenzgängern war Seidenberg offenbar schon als junger Notfallarzt angezogen. Er erlebte zahlreiche brenzlige Situationen, nicht nur im Rauschgiftmilieu. Einmal wurde er von einem Mann in einer Wohnung mit Revolverschüssen begrüsst. Der Mann händigte ihm den Revolver wenig später aus, versuchte aber, dem Arzt weiterhin Angst einzujagen. So betonte er während des anschliessenden Gesprächs im Wohnzimmer, er sei früher Boxer gewesen.
«Also die Waffe nehme ich zur Sicherheit mit», meinte ich tapfer.
«Ja, machen Sie nur; die ist sowieso illegal.» Ich war aufgestanden und noch nicht um den Sofatisch, da zog er seine Hand unter dem Knie mit Leopardenfellkissen hervor, zeigte mit einer anderen Pistole auf mich und knurrte: «Ich habe noch mehr Waffen.» (. . .)
Der Mann stand breit im Licht in der Türe und winkte mir mit der zweiten Waffe nach, als ich, so schnell es meine schweren Koffer erlaubten, zum Lift hetzte. Er schaute mir nur nach, er schoss nicht in die Luft, und er rief auch nicht triumphierend: «Adieu, Doktorchen!»
Heute entsinnt sich André Seidenberg mit einem Schmunzeln, aber auch mit Dankbarkeit an diese Erfahrungen. «Ich bin zufrieden mit dem, was ich gemacht habe. Ich konnte einiges bewegen und bin im Gegensatz zu vielen früheren Freunden und Bekannten noch am Leben», fasst er seine allgemeine Gemütslage zusammen.
Die Platzspitz- und die Letten-Zeit waren absolut prägend für ihn, aber auch für seine Familie. Seidenberg ist verheiratet und hat drei Kinder. In der intensiven Phase der offenen Drogenszene arbeitete er fast bis zum Umfallen. Ein Vergessen gibt es für ihn nicht. «Die Erinnerungen an den Platzspitz kommen manchmal überfallartig.» Hin und wieder, fügt er an, sehe er auch Leute von damals, wenn er in der Stadt unterwegs sei. «Sie zu grüssen, kann heikel sein. Nicht alle wollen sich an diese Zeit erinnern.»
André Seidenberg: Das blutige Auge des Platzspitzhirschs. Verlag Elster & Salis. Erscheint am 21. September.
30. August 2020
Das, was die weltweite Bevölkerung momentan rund um die Covit-19-Pandemie durchmacht, ist schrecklich. Vor allem diejenigen Menschen, die angesteckt wurden und im Spital landeten und sogar qualvoll sterben mussten, hatten Fürchterliches zu erdulden. Aber auch all die Einschränkungen zum Eindämmen von Covit-19 haben weltweit viel Leid für viele verursacht.
Eine Begleiterscheinung dieser Pandemie hat auch wieder einmal gezeigt, dass sogenannte Verschwörungstheorien nicht ausgestorben sind. Wie im tiefen Mittelalter, so werden bei gewissen Kreisen wiederum zum Beispiel «die Juden» für die Entstehung und die Ausbreitung verantwortlich gemacht.
Aber nicht weniger gibt es auch viele «medizinische» Behauptungen, die die Corona-Pandemie mit einer hundsgemeinen Grippe gleichstellen wollen. Die folgende Aufstellung geht auf 13 gängige Behauptungen rund um die Corona-Pandemie ein:
Swisscom News 29.8.2020
Corona-Verharmloser, das ist für euch: 13 eurer Behauptungen im Faktencheck
Leo Helfenberger, Sarah Serafini vor 3 Std.
Am Samstag marschieren in Zürich die Corona-Rebellen auf. In der Hoffnung, einige von ihnen lesen watson, haben wir 13 falsche Aussagen rund um Covid-19 im Faktencheck demontiert.
«Corona ist nicht schlimmer als eine Grippe»
Es ist eines der beliebtesten Argumente von Covid-19-Verharmlosern: Sie sagen, das Coronavirus sei nicht gefährlicher als eine Grippe und die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie deswegen übertrieben. Doch diese Aussage ist falsch. Gemeinsam haben Sars-CoV-2 und die saisonalen Grippeviren, dass sie beide Atemwegserkrankungen auslösen und schnell von Person zu Person übertragbar sind. Abgesehen davon sind sie sehr verschieden.
Ein wichtiger Unterschied ist die Inkubationszeit. Sie liegt bei der Grippe bei 1 bis 2 Tagen und beim neuen Coronavirus meist bei 5 Tagen, sie kann aber bis zu 14 Tage dauern. Das heisst also, wer sich mit Sars-CoV-2 angesteckt hat, ist für eine lange Zeit ansteckend. Zudem ist die Ansteckungsrate höher. Nach aktuellen Erkenntnissen steckt eine mit dem neuen Coronavirus infizierte Person im Durchschnitt zwei bis zweieinhalb weitere Personen an. Das sind mehr als bei der Influenza. Schätzungen für Covid-19 und Influenzaviren sind jedoch sehr umgebungsabhängig und auch zeitspezifisch. Das erschwert direkte Vergleiche.
Bei Covid-19 gibt es mehr schwere Infektionsverläufe als bei einer Influenza-Infektion. Etwa 15 Prozent der Krankheitsverläufe sind laut Wissenschaft schwer, 5 Prozent der Fälle verlaufen kritisch und benötigen eine künstliche Beatmung. Für die Grippe sind laut WHO niedrigere Zahlen beobachtet worden. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den zwei Virentypen ist, dass es gegen Sars-CoV-2 keine Medikamente oder Impfungen gibt. Gegen die Influenza gibt es hingegen Schutzimpfungen und antivirale Medikamente.
Fazit: Falsch
«An der Grippe sterben mehr Menschen als an Corona»
Das Problem mit diesen Todeszahlen ist, dass sie unterschiedlich erhoben werden und deshalb nicht miteinander verglichen werden können. Nehmen wir das Jahr 2017. Damals war die Grippewelle eine der tödlichsten der vergangenen 30 Jahre. Ganz eindeutig von Ärzten als Grippetote klassifiziert wurden 284 Personen. Doch viele Menschen starben zu Hause oder in einem Heim und wurden gar nie auf Grippeviren getestet. Die Statistiker mussten für die Zählung der Grippetoten also eine Schätzung vornehmen, bei der sie sich an der Übersterblichkeit orientieren. Sie sahen, dass im langjährigen Durchschnitt in den Wintermonaten mehr Menschen als üblich gestorben sind. Diese Übersterblichkeit ordneten sie der Grippe zu und gingen von geschätzt 1000 Toten aus.
Bei der Zählung der Corona-Toten bemängeln Kritiker, dass nun Todesfälle von schwerkranken Patienten erfasst werden, die auch ohne Covid-19 an ihrem ursprünglichen Leiden gestorben wären. Das ist zum Teil tatsächlich so. In der Tat obliegt es der behandelnden Ärztin, die Todesursache zu deklarieren. Darum ist auch hier weniger die absolute Zahl der Toten aussagekräftig, sondern die Übersterblichkeit im Monats- und Jahresdurchschnitt. Diese bewegte sich ab März 2020 ausserhalb des normalen Rahmens und war gar noch höher als im Grippejahr 2017. Dass die Kurve danach wieder abflaute, ist den ergriffenen Corona-Massnahmen zu verdanken. Ansonsten kann man davon ausgehen, dass sie weiter gestiegen wäre.
Fazit: Falsch.
«Das Coronavirus wurde im Labor gezüchtet»
Ist das Coronavirus ein menschengemachtes Produkt aus dem Labor und absichtlich gezüchtet worden? Wissenschaftler halten das für nicht plausibel. Im März veröffentlichten Forscher um den schwedischen Mikrobiologie-Professor Kristian Andersen eine Analyse, in der sie der Frage nachgingen, ob das Virus künstlich hergestellt worden sein könnte. Ihre Antwort ist eindeutig: «Wir schliessen eine genetische Manipulation in einem Labor als möglichen Ursprung für Sars-CoV-2 aus», so das Fazit von Andersen.
Sein Team analysierte das Spike-Protein auf der Oberseite der Coronaviren, das für die Bindung an die Wirtszelle verantwortlich ist. Dabei sah man, dass die Aminosäuren von Sars-CoV-2 einen abweichenden Aufbau und eine andere Zusammensetzung haben als verwandte Coronaviren. Die Forscher sagten, dank dieser Merkmale könne das neue Virus besonders leicht menschliche Zellen befallen. Allerdings sei das Ganze nicht so optimal gestaltet, wie wenn man es künstlich in einem Labor präparieren würde. Ausserdem wäre bei der Labor-Theorie nicht nachvollziehbar, warum man Sars-CoV-2 aus einem bisher für Menschen harmlosen Virus hätte entwickeln sollen, anstatt aus einem gefährlicheren Corona-Verwandten wie Mers oder Sars.
Fazit: Falsch
«Nicht alle Corona-Toten sind wirklich am Virus gestorben»
Tatsächlich ist es so, dass auch Personen als Covid-Tote gezählt werden, die nicht unbedingt an den Folgen von Covid-19 gestorben sind. So könnte beispielsweise jemand, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde und bei einem Autounfall stirbt, ebenfalls in die Statistik einfliessen. Aber: Die Anzahl jener, die eben nicht an den direkten Folgen der Lungenkrankheit sterben, ist kleiner als jene, die an Covid-19 sterben, aber nie getestet wurden. Dies zeigte kürzlich auch eine Studie aus Italien.
Fazit: Richtig.
«Die Fallzahlen steigen nur, weil jetzt mehr getestet wird»
Seit Juli steigt die Zahl der bekannten Neuinfektionen mit dem Coronavirus in der Schweiz wieder an. Kritiker behaupten, die täglichen Fallzahlen seien nur deshalb wieder höher, weil sich jetzt mehr Menschen testen liessen. Was stimmt, ist: Es wird tatsächlich mehr getestet. Die Kapazitäten werden stetig ausgebaut. Doch die Zahlen der durchgeführten Tests korrelieren nicht mit den Fallzahlen. So kommt es vor, dass an einem Tag die Testrate hoch ist, aber die Fallzahlen tief sind und an anderen Tagen die Testrate wieder gesunken ist, während die Fälle wieder hochgehen.
Eine deutsche Untersuchung, die sich ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt hat, schreibt, die Zahl der Tests und jene der positiven Fälle könne kaum miteinander verglichen werden. Festgestellte Corona-Infektionen müssen verpflichtend übermittelt werden, während die Zahl der durchgeführten Tests eine freiwillige Angabe der Labore sei. Diese Zahl schwanke und es gebe Nachmeldungen. Es sei zwar nicht auszuschliessen, dass in einzelnen Wochen ein Anstieg der Fallzahlen auf die zusätzlich durchgeführten Tests zurückzuführen sei. Doch die Behauptung, die steigenden Fallzahlen seien von der erhöhten Testrate abhängig, sei falsch, so die Untersuchung.
Fazit: Teilweise falsch.
«Corona-Infizierte ohne Symptome übertragen das Virus nicht»
Es stimmt, dass Personen mit asymptomatischem Verlauf das Virus viel weniger stark verbreiten als solche, die Symptome aufweisen. Der Grund dafür ist relativ einfach erklärt: Das Coronavirus verbreitet sich über Tröpfchen. Wer nicht hustet, ist damit eine kleinere Gefahr für die Mitmenschen. Trotzdem sind bereits Übertragungen des Virus von asymptomatischen Personen nachgewiesen worden. Hier gilt grundsätzlich, dass der Kontakt der beiden Personen viel enger sein muss. Da sich asymptomatische Patienten allerdings gesund fühlen und oft nicht wissen, dass sie ansteckend sind, kommt es auch häufiger zu engeren Kontakten als bei Patienten mit Symptomen.
Fazit: Falsch.
«Das Tragen von Masken ist gefährlich, weil viel mehr CO2 eingeatmet wird»
Immer wieder befürchten Leute, dass sie durch das Tragen einer Maske zu viel ihres eigenen CO2 einatmen und so zu wenig Sauerstoff aufnehmen. Gesundheitliche Schäden konnten bislang aber in keiner Studie nachgewiesen werden. Untersucht wurden dabei Gesundheitsangestellte, die solche Masken teilweise stundenlang während Operationen trugen – und das über Jahre. Der CO2-Gehalt müsste innerhalb der Maske von 0,04 auf über 10 Prozent steigen, damit die Person etwas davon merkt. Die ausgeatmete Luft kann bei Masken jedoch ohne Probleme an den Rändern entweichen.
Fazit: Unbelegt.
«Das Coronavirus wurde erfunden, um Massenimpfungen zu legitimieren»
Im Moment wird auf Hochtouren nach einer Corona-Impfung geforscht. Impfgegner auf der ganzen Welt haben nun Angst, dass eine Zwangsimpfung folgt. Dies ist unwahrscheinlich. Im Gegenteil, die Länder streiten sich im Moment eher darum, wer als erstes den Impfstoff erhält. Ausserdem gibt es in der Schweiz keine rechtliche Grundlage für eine Zwangsimpfung.
Würde der Bundesrat tatsächlich ein Impfobligatorium erlassen, müssten Impfgegner also lediglich eine Busse bezahlen und würden nicht unter Zwang unter die Nadel kommen.
Fazit: Falsch.
«Die Suizidrate hat sich seit dem Lockdown mehr als verdoppelt»
Für die Schweiz kann bisher kein Anstieg der Suizidrate festgestellt werden. Verdoppelt hat sie sich garantiert nicht. Auch in den Nachbarländern Deutschland und Österreich wurde kein signifikanter Anstieg gemessen.
Fazit: Falsch.
«Die Corona-Massnahmen wurden erlassen, um die Demokratie in der Schweiz zu untergraben»
Die Corona-Massnahmen des Bundesrates waren bislang immer rechtlich abgestützt. Keine der Notverordnungen verstiess also gegen geltendes Recht. Weiter wurden die Massnahmen nach einer Abflachung der Kurve sogleich wieder heruntergefahren. Hätte der Bundesrat die Corona-Krise nutzen wollen, um seine eigene Macht zu mehren, müsste man diesen Plan als gescheitert ansehen.
Fazit: Falsch.
«Das 5G-Netz verbreitet das Coronavirus»
Das Coronavirus wird über eine Tröpfcheninfektion verbreitet. Das bedeutet, dass die Viren beim Niesen, Husten und Sprechen über winzige Speicheltropfen von einer Person zur anderen gelangen. Dies ist ausreichend belegt. Eine Verbreitung über das 5G-Netz ist deshalb nicht nachgewiesen.
Fazit: Falsch.
«Das Klima hat einen Einfluss auf die Coronavirus-Ansteckungen»
Dieser Punkt ist ungewiss. Es gab bislang verschiedene Untersuchungen dazu, die Ergebnisse deuteten aber immer wieder mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung. Das Problem ist dabei, dass die Corona-Fallzahlen auf der ganzen Welt unzuverlässig sind. Es ist je nach Land unterschiedlich, wie viele Ansteckungen gemeldet und wer überhaupt getestet wird. Das macht eine Auswertung ungemein schwierig, wie Wissenschaftler von der Universität Oxford erklären.
Fazit: Unbelegt.
«Haustiere können das Coronavirus übertragen»
Tatsächlich wurden bereits mehrere Katzen und Hunde positiv auf das Coronavirus getestet. Weiter wurde festgestellt, dass es durchaus vorkam, dass Katzen das Virus auf Artgenossen übertragen haben. Eine Ansteckung von einem Haustier auf einen Menschen wurde bislang noch keine nachgewiesen.
Fazit: Unbelegt.
17. August 2020
Das Jahr 2020 wird wohl als das Jahr der Corona-Pandemie in die Geschichte eingehen. Vieles rund um die Covit-19-Erkrankung wissen wir noch nicht abschliessend. Man hört aber bereits zum heutigen Zeitpunkt, dass Überlebende, die die Covit-19- Erkrankung überlebt haben, vermutlich Langzeitschäden davontragen würden. Das macht Angst und Erinnerungen an die Schlafkrankheits-Pandemie vor rund 100 Jahren – man nannte sie auch die Spanische Grippe – kommen auf. Viele haben das Buch oder die Verfilmung von Oliver Sacks gelesen oder gesehen: «Awakenings». Oliver Sacks, der weltberühmte Neurologe, behandelte bekanntlich ab 1969 Überlebende der damaligen Epidemie mit dem berühmten L-Dopa. Bekanntlich verfielen Menschen damals nach überstandener Erkrankung jahrzehntelang einer Parkinsoähnlichen «Erstarrung» und landeten in Pflegeheimen, wo sie jahrzehntelang ein trauriges Dasein fristen mussten. Oliver Sacks beobachtete diese Fälle als Neurologe und begann mit der Dopamin-Behandlung und konnte erreichen, dass diese armen Menschen sozusagen wieder aus ihrer Erstarrung «erwachten» und ein fast normales Leben wieder beginnen konnten. Ich empfehle jedermann, Olivers «Awakenings» zu lesen – wie auch seine anderen Bücher.
Ich habe mich soeben in Sacks «Awakings» vertieft und dabei immer wieder gefragt, ob eine ähnliche Erscheinung auch bei Covit-19-Patienten mittel- oder langfristig eintreten könnte. Entsprechende Vermutungen machen tatsächlich die Runde. Der nachstehende Artikel geht dieser Frage nach.
Hirnschäden und psychische Folgen – «Entwicklung ist besorgniserregend»
Jennifer Furer - 17.8.2020 - 06:50
Das Coronavirus könnte ungeahnte Langzeitfolgen auf unsere Psyche haben.
Getty Images /Swisscominfo
Welche Langzeitfolgen hat Corona auf uns? Dieser Frage gehen Wissenschaftlerinnen weltweit nach. Antworten sind derzeit nicht einfach zu finden. Das sagen Schweizer Psychologinnen und Psychiater dazu.
Das Coronavirus verändert unser Leben fundamental: die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, die Politik, unser Zusammenleben. Auch unsere Psyche reagiert auf die nie dagewesene Krise – und das nicht nur positiv.
Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen sagt: «Seit den Sommerferien erlebe ich in der Praxis ein Ansturm an Anfragen.» Das sei für diese Jahreszeit untypisch und bereite Adler Sorgen.
«Besonders, weil ich diese Patienten selbst nicht übernehmen kann, aber auch keine anderen Behandler angeben kann, die freie Kapazitäten haben», so Adler. «Hier haben wir ein grosses Versorgungsproblem.»
Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen sagt, dass die Coronakrise manche psychischen Erkrankungen verschlimmert. Man verzeichnet eine Zunahme an Depressionen, Alkoholerkrankungen, Verhaltenssüchte wie Gamen bei Kindern und Jugendlichen, sowie Probleme mit gewaltsamen Verhalten.
Unklar ist, ob sich dieses Versorgungsproblem lösen lässt, welche Langzeitfolgen dies mit sich bringt und – ohnehin – was das Coronavirus langfristig mit unserer Psyche macht.
Eine Frage, die im Moment nicht einfach zu beantworten ist. «Da dieses Problem noch relativ jung ist, befindet sich dieser Zweig der Wissenschaft noch in einem frühen Stadium, welches man als deskriptiv bezeichnen könnte», sagt Thomas Knecht, Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserhoden.
Folgen fürs Gehirn?
Das heisst: Man befinde sich immer noch in der Phase des Sammelns, des Beschreibens und der Einzelfallanalyse. «Währendem der aktuelle Erkenntnisstand noch keine übergreifenden und unumstösslichen Gesetzmässigkeiten zum Vorschein gebracht hat», sagt Knecht.
Dennoch: Bereits jetzt zeichnen sich Fragestellungen und Hypothesen ab, inwiefern das Coronavirus Einfluss auf unsere psychische Verfassung hat. Den Psychiater interessieren derzeit zwei Fragen, sagt Knecht.
Zum einen geht es darum, zu erforschen, ob das Virus direkten Schaden im Gehirn anrichten kann, wie es bei der Spanischen Grippe der Fall war – sei es auf das erwachsene Gehirn oder auf das sich entwickelnde Gehirn des Fetus im Mutterleib.
Dass das Coronavirus eine Hirnschädigung auslösen kann, liegt nicht fern. «Mögliche Schädigungsmechanismen sind einerseits die Gefässentzündungen, welche prinzipiell überall im Körper stattfinden können», sagt Knecht.
Dann aber auch der Sauerstoffmangel, welcher bei schwerer Betroffenheit der Lunge auftreten kann. «Hier wird man also den Langzeitverlauf sowohl der erkrankten Erwachsenen als auch der infizierten Neugeborenen ganz exakt beobachten müssen.»
Thomas Knecht, Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserhoden, sagt, dass die Erstickungsangst eine der elementarsten Angstformen des Menschen ist, sodass eine solche Erfahrung in einem Masse überwältigend sein kann und dementsprechend posttraumatische Symptome hervorbringt.
Auf der anderen Seite stehen die psychischen Folgen der Krise im Fokus, welche das Coronavirus auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene ausgelöst hat. Die neuen Umstände führen laut Knecht zu einem Lebensstil, der nicht in allen Teilen menschengerecht ist und somit zu Anpassungsstörungen führen kann.
Solche könnten sich als Depression, Angststörung, Hypochondrie oder auch als Zwangsstörung mit krankhaftem Vermeidungsverhalten (Ansteckungsangst) äussern. Vereinzelt werde auch über eine Erhöhung von Psychosen und Essstörungen berichtet.
«Junge sind davon offenbar noch stärker betroffen als die Älteren mit ihrer Lebenserfahrung», stellt der Leitende Arzt Knecht fest. Betroffen seien nicht nur Menschen, die in dieser Hinsicht bereits auffällig waren.
Mehr parkinsonartige Krankheitsbilder durch Corona?
Dass das Coronavirus neue psychische Erkrankungen hervorruft, denkt Knecht nicht. Grund: Der Störreiz, also das Virus, sei nicht Ursache für psychische Reaktionen, sondern die eigene Persönlichkeit. Es könne aber sein, dass sich durch das Coronavirus und seine Auswirkungen ein Krankheitsbild neuartig zeigt.
Anders ist dies aber, sollten im Langzeitverlauf organische Störungsbilder auftreten, also Störungen, die auf eine organische Ursache, wie eben beispielsweise die Beschädigung des Hirns. «Bei der Spanischen Grippe zeigten sich viele schwere Zwangsstörungen und parkinsonartige Krankheitsbilder», sagt Knecht.
Mensch ist sich gewöhnt, mit Tod umzugehen
Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie St. Gallen Nord, warnt davor, vorschnell zu denken, dass alle Arten von Belastungen sofort zu psychischen Krankheiten führen. Auch er bezweifelt, dass durch das Coronavirus neue psychische Erkrankungen entstehen werden.
Die Menschen seien «im Verlauf der Evolution» schon mit vielen Belastungen und Krisen konfrontiert worden, sodass sich alle psychischen Krankheiten, die der Mensch potenziell entwickeln kann, schon früher ausgebildet haben.
«Die Menschen sind ja seit eh und je daran gewöhnt, mit Unsicherheit und Bedrohungen durch Krankheiten inklusiv dem Tod umzugehen», so Maier. Die wenigsten Menschen würden deshalb krank. Man müsse sich zudem bewusst sein, dass objektiv gesehen – trotz Coronakrise – das Leben für die meisten Menschen noch nie so sicher und angenehm war wie heute.
Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie St. Gallen Nord, sagt, dass das Coronavirus eine unspezifische Belastung ist, wie es noch viele andere gibt. Nicht alle diese Belastungen würden sofort zu psychischen Krankheiten führen.
Es gebe zwar Menschen, die in der Krise mit Symptomverstärkung reagieren. «Einige chronisch psychisch Kranke sind hingegen in der jetzigen Zeit eher weniger belastet, weil die Bedrohung alle trifft und sie sich nicht mehr als einzige fühlen, die irgendwie leiden», sagt Maier.
Der Chefarzt sagt aber, wie zuvor sein Kollege Knecht, dass sich alle psychischen Krankheiten unterschiedlich zeigen können – das sei zeitgebunden und epochenspezifisch. «So werden Patienten mit Angststörungen oft aktuelle Themen wie zum Beispiel Umweltverschmutzung, politische Unsicherheit oder eben jetzt Corona in ihre inhaltlichen Befürchtungen aufnehmen.»
Dass ein Virus eine besondere Belastung insbesondere fürs Gesundheitspersonal darstellt, sei jetzt schon in ersten Untersuchungen festgestellt worden. «Diese haben seit der Coronakrise durchschnittlich höhere Werte für Angst und Depressivität angegeben», sagt Maier.
Fest steht auch, dass sich je nach Schweregrad des Coronakrankheitsverlaufs unterschiedliche psychische Folgen ergeben können. Besonders stark betroffen können Menschen sein, die einschneidende Erlebnisse durch das Virus machen mussten – etwa Todesangst, Ohnmachtsgefühl und starke Atemnot. Dies kann eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, auslösen.
«Es gehört zu den möglichen Nebenwirkungen der modernen Hightech-Medizin, dass Menschen zwar schwere medizinische Erkrankungen überleben, danach aber an einer PTBS leiden», sagt Maier. Dies sei allerdings nicht neu oder spezifisch bei Corona, sondern war schon vorher ein Problem der modernen Intensivmedizin. «Was bei Corona einfach im Vordergrund steht, ist diese Lungenentzündung mit ausgeprägter Atemnot und das ist subjektiv ein sehr beklemmendes Gefühl.» Jennifer Furer - 24.3.2020 - 09:47
Das Coronavirus macht die Menschen einsam. Es zwingt zur Isolation. Das soziale Leben steht still.
Thomas Steiner, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP sagt, dass alle Altersgruppen auf unterschiedlichste Art davon betroffen sind.
«Bei den jungen Leuten sind soziale Kontakte identitätsbildend», sagt Steiner. Ihnen würde jetzt etwas fehlen.
«Sie können nicht in den Ausgang, Veranstaltungen werden abgesagt, Kontakte in der Ausbildung sind aufs Minimum reduziert und Reisen ist kaum mehr möglich», so Steiner.
Auch für jene Menschen, die sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren und nun im Home Office arbeiten müssen, merken, wie einsam dies sein kann und wie sehr der Alltag durch Routinen und Alltagsroutinen gefüllt ist.
«Es wird einem bewusst, dass Menschen oft auf Autopilot gestellt sind: Aufstehen, duschen, arbeiten, Essen», sagt Steiner. Wenn die Routinen wegfallen, kann es psychisch herausfordernd werden.
«Wir begegnen uns dann selber. Alltägliche Ablenkungen halten uns nicht mehr von unserem Selbst und der Reflektion über dieses fern», sagt Steiner.
Von der Einsamkeit zu Zeiten des Coronavirus betroffen seien besonders auch Pensionierte. «Sie haben sich Sachen vorgenommen, die sie nach ihrem Arbeitsleben endlich tun können. Der Virus bremst sie jetzt aber», sagt Steiner.
Auch Menschen in Alters- und Pflegeheimen würden leiden. «Der Entzug von Reizen - wie etwa ein Besuch - und Zuwendungen fehlt.»
«Sie können nicht in den Ausgang, Veranstaltungen werden abgesagt, Kontakte in der Ausbildung sind aufs Minimum reduziert und Reisen ist kaum mehr möglich», so Steiner. Bild: Keystone
Auch für jene Menschen, die sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren und nun im Home Office arbeiten müssen, merken, wie einsam dies sein kann und wie sehr der Alltag durch Routinen und Alltagsroutinen gefüllt ist. Bild: Keystone
«Es wird einem bewusst, dass Menschen oft auf Autopilot gestellt sind: Aufstehen, duschen, arbeiten, Essen», sagt Steiner. Wenn die Routinen wegfallen, kann es psychisch herausfordernd werden.
«Wir begegnen uns dann selber. Alltägliche Ablenkungen halten uns nicht mehr von unserem Selbst und der Reflektion über dieses fern», sagt Steiner. Bild: Keystone
Von der Einsamkeit zu Zeiten des Coronavirus betroffen seien besonders auch Pensionierte. «Sie haben sich Sachen vorgenommen, die sie nach ihrem Arbeitsleben endlich tun können. Der Virus bremst sie jetzt aber», sagt Steiner.
Das Coronavirus und die damit verbundene soziale Isolation können psychisch Erkrankte an ihre Grenzen bringen. Zehn Betroffene erzählen, wieso man sie jetzt nicht vergessen sollte.
Ines (23) leidet an schweren Depressionen, Borderline, Bulimie, dissoziativen Störungen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.
«Ich lebe in einer teilstationären Wohngruppe und gehe normalerweise jeden Tag in eine Tagesstätte. Um 8 Uhr morgens werde ich abgeholt, um 16 Uhr wieder nach Hause gebracht. Wir kochen und essen zusammen, gehen einkaufen, spielen Gesellschaftsspiele oder basteln. Seit einigen Tagen fällt die Tagesstätte aus. Ich habe dadurch meinen Tagesrhythmus komplett verloren. Ich merke, dass sich Depressionen breit machen und meine Essstörung vermehrt auftritt. Während des Tages liege ich viel auf meinem Bett und tippe auf dem Handy herum. Seit einem Suizidversuch, nach dem ich neun Wochen im Koma lag, sitze ich im Rollstuhl.
Ich habe jetzt vermehrt Zeit, nachzudenken und habe oft schlechte Gedanken. Auch das Thema Selbstverletzung ist wieder präsent. Ich merke, dass mir die Ablenkung fehlt, die ich in der Tagesstätte habe. Ich habe Angst vor der kommenden Zeit und dass ich wieder in eine akute Krise komme.
Eigentlich hätte ich Anfang April eine Traumatherapie beginnen können. Diese wurde wegen der aktuellen Situation verschoben. Ich habe Angst, dass ich wieder in eine Klinik muss, weil sich mein Zustand verschlechtert. Denn dann müsste ich vielleicht meinen Therapieplatz abgeben, weil ich als Akutpatientin nicht aufgenommen würde. Der Druck ist momentan sehr hoch.
Ich möchte den Menschen gerne sagen, dass sie sich an die Regeln halten sollen. Denn je besser wir das machen, umso schneller geht die Krise vorbei.»
Stefi (32) leidet an Borderline und ADHS.
«Ich fühle mich beengt und verloren. Mir fehlt die Struktur, die ich vor dem Ausbruch der Coronakrise hatte. Diese war durch mein 100-Prozent-Beschäftigungsprogramm in einem Holzbetrieb gegeben. Die Struktur ist meine Leitplanke, ohne diese wird es schwierig.
Im Moment taste ich mich an die Situation heran. Es ist ein Kampf. Ich probiere morgens den Wecker zu stellen und mir ein Tagesprogramm zurechtzulegen, sodass ich nicht einfach in den Tag hineinlebe. Es fällt mir aber schwierig, mich zu beschäftigen. Besonders, wenn es um meine Selbstfürsorge geht. Bei mir dreht sich vieles um Leistung und alles, was ich mache, muss wertvoll sein. Es fällt mir schwer, etwa ein Buch zu lesen, das nur meiner Entspannung dient.
Ich habe Bezugspersonen, mit denen ich in Kontakt stehe und auch meinen Psychologen kann ich telefonisch erreichen. Die Sprechstunde hat dadurch aber niemals dieselbe Qualität, wie wenn sie persönlich geschieht.
Mir bereitet momentan grosse Sorgen, dass sich die Corona-Krise länger hinziehen könnte. Es ist nicht abschätzbar, wann sie endet. Je mehr ich in Isolation lebe, desto schlimmer wird mein Zustand. Es ist beängstigend und ich fühle mich alleine.
Mir helfen aber Gespräche mit anderen Betroffenen. Meine Mutter beschäftigt sich schon sehr lange mit meiner Krankheit. Aber sie wird mich niemals so verstehen können, wie es Leute tun, die in derselben Situation sind wie ich.»
Nicky (33) leidet an einer Persönlichkeits- und Angststörung und posttraumatischen Belastungsstörung sowie an Depressionen.
«Ich fühle mich sehr einsam, obwohl ich nicht alleine wohne. Dass ich nicht mehr herausgehen darf, zerrt an mir. Normalerweise arbeite ich als Alltagsbetreuerin. Aufgrund häuslicher Quarantäne bin ich aber momentan krankgeschrieben.
Es ist eine grosse Herausforderung momentan, den Tag zu bewältigen, ohne dass ich in ein Loch falle. Am Anfang fand ich die Situation noch nicht so schlimm, aber inzwischen macht es mir Angst. Ich merke meine Depression und meine Verlustangst sehr stark. Ich versuche momentan zu überleben und irgendwie mit der jetzigen Situation klarzukommen.
Ich versuche mich – so gut es geht – mit Putzen, Filme schauen und Zeichnen abzulenken. Am Abend, wenn ich zur Ruhe komme, ist es allerdings extrem schwierig, weil ich mir meiner Traurigkeit und Ängste wieder umso bewusster werde.
Am liebsten würde ich jetzt meine Freunde und meine Grossmutter besuchen. Ich habe aber Kontakt mit ihnen per Telefon – das ist besser als gar nichts.»
Dominique (37) leidet an einer chronifizierten somatoformen Funktionsstörung. Diese äussert sich in Stuhlinkontinenz und Inkontinenz sowie starken Unterleibsschmerzen. Zudem wurden bei Dominique eine chronifizierte ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung, Panikattacken und rezidivierende (immer wiederkehrende) Depressionen diagnostiziert.
«Die jetzige Lage bedeutet für mich ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits herrscht Angst vor einer Ansteckung. Dass meine Mutter momentan in der Krebstherapie und somit eine Hochrisikopatientin ist, macht es für mich nicht einfacher. Meine Frau arbeitet zudem in einer Migros-Filiale. Momentan habe ich nicht wirklich viel von ihr, da sie permanent am Anschlag läuft.
Ich bin Hausmann und kümmere mich so gut es geht um den Haushalt, um die Wäsche und um unsere Tiere. Zusätzlich lese ich viel und versuche mich weiterzubilden. Den Rest der Zeit verbringe ich mit meinen Hobbys wie 3D-Druck, Basteln und ab und zu einem Computerspiel. Zudem fahre ich meine Mutter zu den Bestrahlungen und Chemotherapien, gehe für sie und auch für meine älteren Nachbarn einkaufen und unterstütze sie bei Online-Erledigungen.
Das Coronavirus bereitet mir grosse Sorge, da meine Frau sich täglich durch ihre Arbeit im Detailhandel anstecken könnte. Ich habe Angst um meine Mutter, die durch eine Ansteckung sterben könnte.
Die Situation mit der Isolation nehme ich nicht als grössere Belastung wahr als sonst auch. Als psychisch Erkrankter bekommst du das täglich zu spüren. Kollegen wenden sich ab, und Familienmitglieder können mit der Situation nicht umgehen.»
Claudia leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen.
«Ich bin momentan stationär in einer psychiatrischen Klinik und fühle mich isoliert, alleine, nicht dazugehörend. Bevor ich krankgeschrieben wurde, war ich Integrationshelferin in einer Grundschule.
Durch das Coronavirus haben sich meine Ängste verstärkt. Ich habe grosse Verlustängste und mache mir Sorgen, meine Familie zu verlieren. Ich bin permanent angespannt, habe Heulanfälle und Nervenzusammenbrüche.
Ich versuche mich abzulenken, durch Fernsehen, Handy oder Spaziergänge mit anderen Patienten. Vier Stunden in der Woche habe ich Therapie bei einer Psychologin. Vor und nach der Stunde ist Desinfizieren angesagt.
Damit das Coronavirus nicht in der Klinik grassiert, dürfen keine Besucher ins Haus. Der Kontakt zwischen Patienten wird aufs Minimum reduziert. In die Aufzüge dürfen nur noch drei statt zwölf Leute. Das Mittagessen wird in einen Behälter abgefüllt, es gibt keine offenen Esswaren.
Ich würde mir wünschen, dass die Massnahmen nicht so strikt wären und dass beispielsweise kontrollierte Spaziergänge für uns organisiert würden, auf denen die Abstände eingehalten werden. In der Klinik herrscht momentan zu fest das Klima, dass wir Angst haben müssen.»
Sonja (31) leidet an einer Multiplen Persönlichkeitsstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung.
«Eine meiner ersten Ängste war, dass ich Probleme bekomme, wenn ich während einer Ausgangssperre eine dissoziativen Fugue (Anm. d. Red.: plötzliches, unerwartetes und zielloses Weglaufen einer Person ohne objektiv feststellbaren Grund) bekomme. Ich habe das mit meiner Hausärztin und der Spitex besprochen. Im Notfall könnte ich deren Nummer angeben.
Sorgen bereitet hat mir auch mein geplanter stationärer Aufenthalt in einer Klinik. Ich hatte Angst, dass dieser wegen des Coronavirus nicht klappt. Die leitende Ärztin hat mir aber gesagt, dass sie überzeugt ist, dass alles klappt.
Mein Alltag hat sich durch das Ausbreiten des Coronavirus fast nicht verändert. Allerdings habe ich noch weniger Sozialkontakte, und meine Hausärztin fällt erstmal als ‹Anlaufstelle› weg. Meine Therapie und Spitex laufen aber glücklicherweise wie gewohnt weiter.
Ich hoffe, dass psychisch Erkrankte während der Coronakrise nicht noch mehr in den Hintergrund geschoben werden als eh schon. Man sollte diese jetzt besonders ernst nehmen, auch die Ängste und Sorgen, die für andere vielleicht als ‹banal› gelten. Eine psychische Erkrankung kann tödlich sein.»
Julia leidet an Depressionen, Borderline, Panik- und Angstattacken, einer bipolaren Störung und einer Autoimmunerkrankung.
«Ich habe Angst. Angst vor dem, was passiert, Angst davor, wie es weiter geht, Angst, meine Familie zu verlieren und Angst, am Coronavirus zu erkranken. Die Ungewissheit lähmt mich und wirkt sich stark auf meine Gesundheit aus.
Ich habe momentan starke Stimmungsschwankungen, Herzrasen, Beklemmungsgefühle und fange wegen jeder Kleinigkeit an zu weinen. Meine Panikattacken werden häufiger und schlimmer. Ich hatte sie die letzten Jahre gut im Griff. Seit dem Virus werden sie leider stärker.
Ich bin momentan bei meiner Mutter, vermisse meinen Mann dadurch sehr. Das ist auch der Grund, warum ich derzeit nicht in eine Klinik möchte: Dort hätte ich noch mehr das Gefühl, von meiner Familie abgeschottet zu sein.
Ich warte seit zwei Jahren auf einen Therapieplatz. In Zeiten des Coronavirus würde ich mir wünschen, dass Psychologen Telefon- und Sprechstunden online anbieten – egal ob man ein aktueller Patient ist oder nicht.»
Saskia (29) leidet an starken Depressionen, einer posttraumatischen Belastungsstörung und Borderline.
«Wie ich mich derzeit fühle, kann ich nicht richtig sagen. Das Durcheinander ist sehr kompliziert für mich. Meine psychischen Zustände überlasten mich, teilweise so stark, dass ich alles blockiere ausser meinen Kindern. Ich mache zu Hause das, was ich noch schaffe: kochen, putzen und meine Kinder belustigen.
Ich würde derzeit gerne in meine Gruppentherapie gehen. Das kommt leider nicht infrage. Vom Krankheitsbild her würde ich auch sehr gerne einen Klinikaufenthalt machen. Durch das Virus ist dies momentan nicht so einfach. Die Hilfe, die man sonst bekommt, kann so gar nicht angeboten werden – eben beispielsweise Gruppentherapien. Ich würde mich derzeit auch nicht freiwillig in Situationen begeben, wo ich mich anstecken könnte.
Mich würde es beruhigen, wenn die Leute das Virus ernster nehmen würden und einfach mal ihren Egoismus hintenan stellen würden.»
Mona leidet an einer Essstörung und rezidivierenden Depressionen.
«Grundsätzlich fühle ich mich gut, aber auch allmählich genervt – es gibt kein anderes Thema mehr als das Coronavirus. Mein Zustand hat sich nicht verschlechtert. Ich bin durch meine Arbeit als Erzieherin und in einem Supermarkt stark ausgelastet.
Zum Glück ist mein Alltag ebenfalls nicht gross von den Massnahmen tangiert. Ich mache das, was ich sonst auch immer tue. Etwas Positives habe ich aus der Situation ziehen können: Durch das viele Händewaschen musste ich mir Handcreme besorgen. Nun habe ich das als kleines Ritual zum Entspannen entdeckt.»
Nancy (30) leidet an Borderline und Panikattacken.
«Bis jetzt fühle ich mich noch ziemlich gut, auch wenn ich merke, dass sich eine innere Unruhe breit macht. Ich stehe morgens wie gewohnt auf und mache mich dann fertig, um einen ‹normalen› Arbeitstag im Homeoffice zu beginnen.
Auch wenn ich weiss, dass die jetzige Situation wieder vorbeigeht, beschäftigt mich vor allem die Angst, wie es in den nächsten Tagen weiter geht, da meine psychischen Probleme meistens dann stärker werden, wenn mein Alltag nicht mehr geregelt ist oder ich mich nicht mit anderen Menschen treffen kann, um mich abzulenken.
Noch hat sich mein Zustand nicht extrem verschlechtert, aber die Panikattacken sind schon deutlicher zu spüren, als wenn es mir gut geht. Das Schwierigste für mich ist es, nonstop alleine in der Wohnung zu sein, ohne andere Menschen Face-to-Face zu sehen. Mir hilft es, mit Freunden zu schreiben und telefonieren.
Ich appelliere an die Menschen: Meldet euch besonders jetzt einfach mal bei den Menschen, die ihr kennt und von denen ihr wisst, dass sie mit psychischen Erkrankungen kämpfen. Zu hören ‹ich bin für dich da› ist oft schon eine grosse Hilfe.»
Erster Juli 2020 – Corona-Pandemie
Der Schweizer Lockdown wurde von unserem Bundesrat Berset praktisch aufgehoben, die Ansammlung von 300 Personen wurde auf 1000 erhöht. Eine Maskenpflicht gibt es hier in der Schweiz nach wie vor nicht. Im Gegenteil: nachdem BAG-Koch (er wurde als Corona-Superstar gehandelt) und auch BR Berset sich mehrmals über das Maskentragen lächerlich gemacht haben und die Wirkung der Gesichtsmasken herunterspielten, steigen seit einiger Zeit die Neuinfektionen: noch vor 2 Wochen lagen die täglichen Neuinfektionen unter 10. Heute sind sie über 60! Das Clublegen schweizweit wird wieder ausgelebt. Die klare Pflicht der Clubbetreiber, die Gäste namentlich und mit Telefonnummer aufzunehmen, wurde in einigen Clubs schwerwiegend missachtet. Und siehe da: ein Club nach dem anderen muss von Ansteckungen, «Superspreadern», berichten, von jungen Partygängern, die sich um alle Regeln foutieren und nur ihr eigenes, egoistisches Vergnügen ausleben wollen. Massenhaft wurden offenbar Fakte-Adressen angegeben. Beim Tracing nach Ansteckungen in diesen Clubs wurden die offiziellen Tracer von diesen Partylöwen noch demütigend verspottet.
Aber ein Clubverbot nach diesen schwerwiegenden Aussetzern gibt es noch nicht. BR Berset spielt weiterhin den Helden und delegiert solche Verbote an die kantonalen Instanzen.
Und die Ansteckungsquoten steigen weiter, eine zweite Corona-Ansteckungs-Welle scheint nicht mehr fern zu sein. Das Partyvolk wird weiter auf einer egoistischen Schiene „feiern“, und gewisse alte, uneinsichtige Menschen aus der Risikogruppe werden weiterhin (wie bis anhin) alle Verordnungen in den Wind blasen. Ich beobachte solche „Risiko-Alte“ schon seit Beginn dieser Corona-Pandemie-Zeit.
Corona-Fall auch im Zürcher Club Plaza – SDA auf Bluewin - 1.7.2020 - 09:41
Auch im Plaza Club feierte ein Gast, der mit dem Coronavirus infiziert war. Im Bild der Eingang des Clubs.
Nach den Ansteckungen im Zürcher Club Flamingo hat am Mittwoch auch der Club Plaza einen infizierten Gast gemeldet.
Die Betreiber des Plaza schreiben am Mittwoch auf ihrem Facebook-Profil, dass ein infizierter Gast am 26. Juni bei ihnen gewesen sei. Über weitere Ansteckungen im Club ist bisher aber nichts bekannt.
Sie hätten umgehend mit dem kantonsärztlichen Dienst Kontakt aufgenommen und die Anwesenheitslisten eingereicht, schreiben die Betreiber weiter. Alle Gäste wurden inzwischen vom Kanton kontaktiert, eine Quarantäne wurde nicht verfügt.
Weniger Glück hatten die Gäste des Zürcher Clubs Flamingo. Am Wochenende wurde bekannt, dass ein «Superspreader» dort am 21. Juni fünf Personen angesteckt hatte. Die Arbeit der Contact-Tracer wurde aber erschwert, weil viele Besucher falsche Adressen angaben. Viele Partygänger beschimpften zudem die Anrufer des Kantons.
Auch im Aargau und im Kanton Graubünden
Um die Infektionskette zu unterbrechen, ordnete der kantonsärztliche Dienst für die knapp 300 Gäste und Angestellten des Clubs eine zehntägige Quarantäne an. Die Clubs zu schliessen, lehnte Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) damals aber noch ab.
Auch im Aargau und im Kanton Graubünden gab es bereits «Superspreader»-Events. «Superspreader» sind erkrankte Personen, die aus unbekannten Gründen sehr ansteckend sind.
Chinesische Forscher warnen vor neuem Schweinegrippe-Virus
© Bereitgestellt von Keystone-SDA (via Bluewin)
Wissenschaftler haben in China eine Variante des Schweinegrippe-Virus identifiziert, die das Potenzial für eine Pandemie unter Menschen entwickeln könnte. Das berichtet das Team um George Gao vom Chinesischen Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten.
Die Variante des Influenza-Virus H1N1, das ab 2009 als sogenannte Schweinegrippe zirkulierte, komme vor allem in Schweinen vor, könne aber auch Menschen infizieren, schreibt das Team im US-Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences".
Die Virusvariante G4 EA H1N1 zeige alle Anzeichen als möglicher Auslöser einer Pandemie, mahnen die Wissenschaftler. Untersuchungen in Schweinebetrieben verschiedener chinesischer Provinzen hatten ergeben, dass diese Variante seit 2016 unter den Tieren vorherrscht. Zudem hatte etwa jeder zehnte von 338 untersuchten Beschäftigen in der Schweinehaltung im Blut Antikörper gegen den Erreger. Menschen könnten also grundsätzlich infiziert werden, folgert das Team.
Die Forscher haben die Sorge, dass sich das Virus besser an den Menschen anpassen und sich dann vermehrt ausbreiten könnte. Zudem biete eine Immunität gegen anderen Grippe-Erreger keinen Schutz gegen diesen Genotypen. Die Wissenschaftler empfehlen daher dringend, seine Verbreitung bei Schweinen und Menschen engmaschig zu kontrollieren.
Schweine gelten als wichtige Überträger von Influenza-Viren, weil sie sich mit Influenza-Viren sowohl von Vögeln als auch von Menschen anstecken können. Das als H1N1 bekannte Schweinegrippe-Virus hatte im Jahr 2009 Ängste vor einer globalen Pandemie ausgelöst, wurde aber schnell unter Kontrolle gebracht.
"Wir sind derzeit zu Recht mit dem Coronavirus abgelenkt", sagte der an der Studie beteiligte Veterinärmediziner Kin-Chow Chang von der Universität Nottingham am Dienstag der BBC. "Aber wir dürfen neue potenziell gefährliche Viren nicht aus den Augen verlieren".
Adrian Müller vor 2 Std. - © watson/ourworldindata Teaserbild - © keystone
«Bin überrascht, dass es so schnell gegangen ist»: Das sagt Berset zu den steigenden Fallzahlen nach den Corona-Lockerungen.
Mit den Turbo-Lockerungen hat sich der Bundesrat weit aus dem Fenster gelehnt. Ein Vergleich der Uni Oxford zeigt, dass die Schweiz inzwischen alle europäischen Länder hinter sich gelassen hat. Mit einer Ausnahme.
Die Schweiz hat punkto Corona-Lockerungen alle europäischen Länder abgehängt – ausser Weissrussland.
Dies zeigt ein Langzeit-Vergleich der Universität Oxford eindrücklich auf. Forscher haben anhand von neun Indikatoren einen «Government Response Stringency»-Index berechnet, mit dem sich Länder einfach vergleichen lassen. Auf einer Skala von 0 (extrem lasch) bis 100 (extrem streng) kommt die Schweiz nach den jüngsten Lockerungen (Discos offen/Veranstaltungen bis 1000 Personen erlaubt/Homeoffice ade) auf bloss noch 30 Punkte.
Damit hat die Eidgenossenschaft fast alle anderen europäischen Länder hinter sich gelassen: Die viel gescholtenen Schweden kommen auf 46 Punkte. Frankreich ist mit 65 Punkten fast doppelt so «streng» wie die Schweiz.
Zur Erklärung: In Frankreich gilt eine Maskenpflicht im ÖV. Zudem muss dort im Gegensatz zur Schweiz nach wie vor wann immer möglich im Homeoffice gearbeitet werden. In bestimmten Zonen dürfen Restaurants Gäste nur draussen bewirten.
Nur Weissrussland liegt mit 14 Punkten punkto Lockerungen noch vor der Schweiz. Dort ignoriert der autokratische Präsident Lukaschenko das Coronavirus weitgehend. Die Bevölkerung solle sich mit Saunagängen, Wodkatrinken oder landwirtschaftlicher Arbeit vor Covid-19 schützen, sagte der letzte Diktator Europas Anfang Juni.
Der Index setzt sich aus verschiedenen Indikatoren wie der Art des Contact-Tracings, dem Corona-Testregime bis zu Faktoren wie Veranstaltungsverboten oder Schulschliessungen zusammen.
(amü)
26. Juni 2020
Rassismus und Diskriminierung
Nach dem grausamen Mord eines US Polizisten an einem Schwarzen (der gefilmt wurde) ging ein Aufschrei durch die ganze Welt. Die Diskriminierung von Menschen v.a. mit schwarzer Hautfarbe wurde an unzähligen Demonstrationen ins gleissende Licht der Öffentlichkeit gebracht. Tatsache ist, dass in den USA die schwarze Bevölkerung nach wie vor ganz schlimm „diskriminiert“ wird, auf allen Ebenen, und dass weisse Polizisten immer wieder vorsätzlich und grausam schwarze Menschen umbringen! Aber vergessen darf dabei nicht, dass es überall, auch bei uns in der recht friedlichen Schweiz, zu Übergriffen aller Art gegen Menschen mit anderem Aussehen, mit anderen Ansichten usw. kommt. Rassismus in allen „Farben“ ist ein Teil jeder Gesellschaft, der Stärkere unterjocht, diskriminiert, drangsaliert, beleidigt und verletzt den Schwächeren. Ich denke, dass bei dieser aktuellen Diskussion, die wichtig ist, auch die „kleinen Übergriffe“, generell jede Art von „Rassismus“ und menschliche Diskriminierung, auf den Tisch gehört. Der folgende Leitartikel der BAZ von Marcel Rohr geht in diese Richtung und es gäbe Sinn, ihn zu diskutieren!
BAZ vom 26. Juni 2020 –
Meinung - Marcel Rohr - Leitartikel zu Hass und Hetze
Die Respektlosigkeit sprengt alle Grenzen
Die moralischen Werte während des Corona-Lockdown sind längst wieder verflogen. Das spürt auch die Polizei. Die sozialen Medien beschleunigen das Gebaren der geistigen Brandstifter.
Die Schweiz im Corona-Sommer 2020. In Gedanken fliegen wir an einen schönen Sandstrand und trinken Sangria in der Sonne. In der Realität jedoch bleiben wir lieber zu Hause und warten, bis sich das Virus endgültig verzogen hat. Da und dort kommen nochmals Erinnerungen hoch an den Lockdown im März und April, als die Wirtschaft über Nacht narkotisiert wurde.
Für ein paar Wochen haben wir uns in den eigenen vier Wänden eine schöne, neue Welt zusammengesponnen. Seen und Flüsse waren klar, die Luft rein, der Himmel schlierenfrei, Strassen und Züge leer. Wir besannen uns auf die wahren Werte des Lebens. Die Familie, die besten Freunde. Der nette Nachbar, der die Einkaufstaschen mit einem Lächeln vor die Haustür stellt. Der respektvolle Umgang mit den Mitmenschen, die Achtung vor den Pflegeberufen. Das Paradies wirkte ganz nah. Wir statt Gier.
Nur ein paar Wochen später sind wir zurück in der Realität. Die Züge sind wieder voll, auf den Strassen drängeln die Autofahrer genauso unverschämt wie früher, in den Büros reiht sich Sitzung an Sitzung. Wir kaufen wieder selbst ein und ärgern uns über die Senioren an der Kasse, die ihr Kleingeld suchen. Und die Politiker haben längst durchschimmern lassen, dass im Pflegebereich unmöglich mehr Lohn verteilt werden kann, weil die Staatskasse leer ist. So viel ist vom Lockdown übrig geblieben.Noch schlimmer: Wie ein Virus verbreiten sich die geistigen Brandstifter. Es begann schon im Spätfrühling mit einer Inflation an Demonstrationen, die auch in Basel die Gemüter immer noch erhitzen. Demos gegen den Kapitalismus, für das Klima, für Frauen, gegen den Fremdenhass, was auch immer. Ob bewilligt oder unbewilligt, die Leute zieht es auf die Strasse, viele wissen vermutlich nicht einmal, warum sie in der Gruppe der Gutmenschen mitlaufen und für welche Werte sie letztlich einstehen.
Die Respektlosigkeit, die im Umfeld dieser Demos zu sehen und zu spüren ist, sprengt alle Grenzen. Im Namen der Gerechtigkeit und politischer Correctness drängt es die Meute raus, und in der Anonymität der Städte scheint alles erlaubt. Man darf den Verkehr blockieren, sämtliche Corona-Regeln brechen und Leute anpöbeln, wie es einem gerade passt. Schreitet die Polizei ein – wie bei der Frauendemo am 14. Juni auf der Johanniterbrücke in Basel – und erledigt ihren Job, wird Zeter und Mordio geschrieen. Der Respekt gegenüber Polizeibeamten tendiert gegen null. «Bullenschweine» sind immer zur falschen Zeit am falschen Ort und verhalten sich immer unverhältnismässig, so der Tenor. Die Bilder vom Mob, der gerade mit verbrecherischer Gewalt in Stuttgart wütete, sind noch frisch.
Nicht nur Hass und Hetze gegen Uniformierte vergiften das politische und gesellschaftliche Klima in unserem Land. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA schwappte die Rassismusdebatte in einer Wucht über den Atlantik, die jedem gesunden Menschenverstand spottete. Nicht falsch verstehen: Rassismus findet im Alltag statt, weltweit, jeden Tag, jede Sekunde. Rassismus beginnt im Kleinen und muss aufs Schärfste verurteilt werden. Aber man kann die Diskussion führen, ohne dass gleich die ganze Welt spinnt.
Erregtes Grundrauschen als Dauerzustand, garniert mit einer Verrohung der Sprache: Dieser Brandbeschleuniger funktioniert bestens.
Es gibt weisse Rassisten, die Unrecht tun. Es gibt aber auch Rassismus gegen Weisse. Es gibt Ausländer – sie sind deutlich in der Überzahl –, die sich gerade hier in Basel korrekt verhalten. Es gibt aber auch Ausländer, die sich dumm anstellen und sich nicht einen Deut um Integration scheren. Wer dies festhält, muss kein Rassist sein – aber er wird im Handumdrehen als Rassist gegeisselt. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit fehlendem Respekt.